Die Gegnerschaft der Durchsetzungsinitiative ist bunt und stark wie nie, die Debatte facettenreich und differenziert wie noch selten. Trotzdem zählt Mobilisierung heute mehr als gute Argumente.
Samstagabend, gemütliches Znacht mit Freunden bei Rotwein, Ragout, Schoggimousse: wenig Aufregung, dafür umso mehr Entspannung. Beiläufig erwähnt S., einer der Gäste und seit Kurzem im Besitze eines Schweizer Passes, dass er bald zum allerersten Mal abstimmen dürfe. Eben habe er die Stimmunterlagen aus dem Briefkasten gezogen.
Mit einem Schlag ist die After-Dinner-Trägheit verflogen. Das Blut, das sich eben noch im satten Magen konzentriert hat, gerät rundum in Wallung.
«Die nächste Abstimmung ist wahnsinnig wichtig!»
«Wenn du nicht weisst, wie du abstimmen sollst, frag einfach uns!»
«Du musst die Durchsetzungsinitiative ablehnen. Unbedingt!»
Drei Ausrufezeichen, welche die momentane Stimmung bestens auf den Punkt bringen. Egal, ob in den Medien, auf der Strasse, unter Freunden, auf Facebook: Die Nervosität im Vorfeld der Abstimmung vom 28. Februar ist gross. Die Zivilgesellschaft ist alarmiert wie selten. Kaum eine Organisation, Interessen- oder Berufsgruppe, die noch nicht Position bezogen hat zur Durchsetzungsinitiative.
Interessant, wie facettenreich und differenziert die Debatte dadurch geworden ist. Zumindest die Reihen der Gegner sind äusserst vielgestaltig. Linke Ideologen sind ebenso gegen die Durchsetzungsinitiative wie Richter und Staatsanwälte, die sich in ihrer Funktion als dritte Gewalt beschnitten sehen. Die Geschäftsleitung des Pharmakonzerns Novartis tut ihre Ablehnung gleichermassen unmissverständlich kund wie NGO-Aktivisten. Die Debatte gewinnt dank breitem Spektrum der Sichtweisen.
Ebenso erfreulich ist der Effekt, dass sich wieder mehr Menschen an politischen Diskussionen beteiligen. Egal, ob beim Abendessen mit Freunden, in der Cocktailbar oder an der Party, Politik ist ein Thema, das leidenschaftlich diskutiert wird. Es fühlt sich wieder mitgemeint, wer vor Kurzem noch Politik mit distanzierter Verdrossenheit betrachtet hat.
Zustimmung nimmt ab
Dabei bleibt es nicht bei blossen Äusserungen. Die wortstarken Gegner sind auch bereit, sich am Widerstand finanziell zu beteiligen. Das zeigt der Erfolg der Spendensammelaktion «Dringender Aufruf». Den Initianten ist es gelungen, innert zwei Wochen fast 750’000 Franken für eine Plakatkampagne zu sammeln.
Das bleibt nicht ohne Folgen, einige der vielen guten Argumente gegen die Durchsetzungsinitiative stossen anscheinend auf offene Ohren. Verhalten zuversichtlich stimmt ein Blick auf die jüngsten Umfrageergebnisse der SRG von Ende Januar. Gemäss dieser Erhebung findet die Vorlage zwar immer noch 51 Prozent Zustimmung, bei der ersten Umfrage vom November 2015 jedoch fiel die Zustimmung noch deutlich höher aus (66 Prozent).
Diese erste Umfrage vom vergangenen Herbst wurde vom Pharmaverband Interpharma in Auftrag gegeben. Dessen Generalsekretär Thomas Cueni sagte damals gegenüber der NZZ, dass ein «kleines Wunder» nötig sei, um eine Annahme der Durchsetzungsinitiative noch abzuwenden. Vielleicht gibt es dieses Wunder ja tatsächlich.
Doch woher rührt dieses so plötzliche wie vehemente Engagement? Wie bei den Befürwortern, deren Argumente sich irgendwo zwischen offener Fremdenfeindlichkeit und diffuser Angst bewegen, dürfte es auch für die Gegner vor allem eine Motivation geben, nämlich Angst.
Nicht schon wieder!
Vielen ist die Katerstimmung nach Minarett-, Ausschaffungs- und Masseneinwanderungsinitiative noch in äusserst unguter Erinnerung. Lautstark wurden die Voten der Gegner damals leider oft erst im Nachhinein. Man schämte sich für sein Land. Steckte mit blassem Gesicht die Schlagzeilen bei «Spiegel Online» und «The Guardian» ein, als wären sie Schläge in die Magengrube. Man jammerte oder liess seinem Frust freien Lauf.
Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative liegt jetzt genau zwei Jahre zurück. Der Schock, den die zutiefst wirtschaftsfeindliche Vorlage auslöste, ist noch nicht verdaut. Gerade linke Kreise müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, damals zu passiv geblieben und folglich für das Debakel mitverantwortlich zu sein.
All das soll sich am 28. Februar bloss nicht wiederholen. Den Schreck der Vergangenheit in den Knochen, bäumen sich heute viele auf, die damals geschwiegen haben. Die Angst ist für einmal ein guter Ratgeber.
Mobilisieren statt überzeugen
Der Glaube an die Überzeugungskraft guter, stichhaltiger, plausibler Argumente schwindet. TagesWoche-Kolumnist Georg Kreis beschreibt eine paradoxe Situation. Je zahlreicher die Argumente gegen die Durchsetzungsinitiative, desto eher könnte sie angenommen werden:
«Gerade weil der Bundesrat, die Parlamentsmehrheit, die Medien, die Kirchen, die Grossparteien, die Verbände, natürlich die ‹classe politique› und alle ‹da oben› eine Vorlage ablehnen, ist man dafür. Der ‹Souverän› demonstriert so seine ‹Souveränität› – unberührt und unabhängig von guten Argumenten.»
Die Meinungsvielfalt ist heute, zumindest gefühlt, dank sozialer Medien grösser denn je. Deren Algorithmen führen jedoch leider oft dazu, dass wir uns – oft vielleicht unbemerkt – hauptsächlich unter Gleichgesinnten tummeln. Uns «gefällt» der Facebook-Post, der verlinkte Artikel, der sich mit unserer Meinung deckt oder uns darin sogar noch bestärkt.
So driften die verschiedenen Meinungsgruppen auseinander, anstatt dass sie vernetzt werden. Berührungspunkte werden seltener. Ein Austausch findet kaum noch statt. Die «Anderen» werden als unbelehrbar, ignorant, naiv oder gar unerreichbar abgeschrieben. Wer an der Urne ein «politisches Zeichen setzen» will, lässt sich so nicht umstimmen.
De facto wird damit zugleich die politische Diskussion als Ganzes abgeschrieben. Vorbei die Zeiten, als das beste Argument gewann. Wie der Jurist und Aktivist Matthias Bertschinger im Interview sagte: «Der argumentbasierte Diskurs ist seltener geworden, es wird mit Parolen gekämpft.»
Gilt der Gegner als verloren, liegt die einzige logische Konsequenz in der Mobilisierung der Unterstützer. Wenn ich die Befürworter der Durchsetzungsinitiative schon nicht überzeugen kann, dann muss ich wenigstens dafür sorgen, dass die Gegner zahlreicher an die Urne gehen.
Die Macht der Masse löst die Macht des besten Argumentes ab.
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