Mehr Moral statt Markt

Wachstum um jeden Preis, Glück durch mehr Konsum und Renditemaximierung werden zu Auslaufmodellen: Die moderne Ökonomie setzt auf Ethik und verantwortungsbewusstes Handeln.

Nach dem Crash: Neue Wirtschaftsbücher fordern mehr ethisches Handeln im Markt. (Bild: Keystone )

Wachstum um jeden Preis, Glück durch mehr Konsum und Renditemaximierung werden zu Auslaufmodellen: Die moderne Ökonomie setzt auf Ethik und verantwortungsbewusstes Handeln.

Erinnert sich noch jemand? 1982 erschien «In Search of Excellence» («Auf der Suche nach Spitzenleistungen») von Tom Peters und Robert Waterman. Das Rezeptbuch für erfolgreiches Unternehmertum verkaufte sich weltweit fünf Millionen Mal. Der Unternehmenserfolg wurde am Wachstum von Umsatz und Marktanteil gemessen. Ich selber habe erlebt, wie sich das Kader eines gestandenen Medienunternehmens im schönen Arosa der Exegese dieser Managementbibel hingab. Das Medienunternehmen hat seither viermal den Besitzer gewechselt – auch eine Spitzenleistung.

Die optimistischen 1990er-Jahre

Kurz darauf folgte John Naisbitts «Megatrends» (Weltauflage: neun Millionen). Naisbitt kassierte bei seinen Vortragstourneen rund um die Welt Honorare von 35’000 Dollar – pro Auftritt. Hermann Simon präsentierte uns «Hidden Champions» (1990), James Champy erläuterte uns 1992 «Business Reengineering». Gemeinsames Ziel praktisch aller Autoren von Wirtschaftsbüchern in jener Zeit: Fit bleiben für weiteres Wachstum. Das war Konsens auch in der Ökonomie, der Politik und den Medien. Es war wohl auch eine Reaktion auf die Verunsicherung, die der «Club of Rome» mit den «Grenzen des Wachstums» (1972, Auflage: 30 Millionen) sowie die Ölkrisen 1973 und 1979/80 ausgelöst hatten. Seit den Achtzigern war dann fast unangefochten wieder Wachstum angesagt, besonders ab 1989, als die wachstumshemmende Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion wegfiel.

Als die Blase zu Beginn des neuen Jahrtausends mit einem grossen Knall platzte, sah die «New Economy» plötzlich uralt aus.

Wer in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre zum Beispiel das rasante Wachstum des Internetgeschäfts infrage stellte und etwa wissen wollte, welche Umsatz- und Gewinnzahlen die exorbitanten Börsenbewertungen der einschlägigen Unternehmen rechtfertigten, der galt als Ewiggestriger, der die «New Economy» nicht begriffen hatte. Nicht Umsatz und Gewinn bestimmten nun den Wert eines Unternehmens, so hiess es, sondern die Hoffnung der Anleger auf künftigen Umsatz und künftigen Gewinn. Die Frage, wann ungefähr «künftig» stattfinden solle, wurde als kleinkariert abgetan. Man baute lieber auf immer weiter steigende Aktienkurse, als ob die Ökonomie ein Perpetuum mobile sei. War sie nicht. Und als die Blase zu Beginn des neuen Jahrtausends mit einem grossen Knall platzte, sah die «New Economy» plötzlich uralt aus.

Das hinderte die Finanzbranche freilich nicht daran, nun von immerzu steigenden Immobilienpreisen auszugehen und damit ein neues Perpetuum mobile in Betrieb zu setzen: die Vervielfältigung schuldenfinanzierter, aber immerhin real existierender Werte durch mehrstufige Verbriefung der Schulden. So wurden gigantische, zum grössten Teil virtuelle Vermögenswerte rund um den Globus aufgebaut und verschoben, mit Hilfe von hoch komplizierten mathematischen Modellen, die ausser den Modellbauern niemand mehr wirklich durchschaute.

Stotternde Geldmaschine

Diese Geldmaschine geriet ab 2007/2008 ins Stottern und brachte die globale Finanzindustrie an den Rand des Abgrunds. Einige Banken stürzten wirklich ab, einige mussten wegen «Too big to fail» von den Steuerzahlern in aller Welt gerettet werden, sehr viele mussten herbe Verluste in Kauf nehmen. Vorausgesehen hatte den Zusammenbruch dieses Subprime-Systems fast niemand, weder in der Bankenwelt noch in der ökonomischen Wissenschaft.

Einige hatten vor einer Immobilienblase in den USA gewarnt – nur ganz wenige vor der damit einhergehenden Finanzierungsblase. Der wichtigste davon war ein Mathematiker. Der 2010 verstorbene Benoît Mandelbrot publizierte 2004 sein Werk «Fraktale und Finanzen – Märkte zwischen Risiko, Rendite und Ruin», in dem er die Mechanik, nach der Finanzmärkte Amok laufen können, anschaulich beschrieb. Für das Buch wurde er geehrt. Weder die Mainstream-Ökonomen noch die Banker nahmen das Werk jedoch gebührend zur Kenntnis. Bis die Subprime-Blase platzte.

Seither mehren sich wirtschafts- und finanzmarktkritische Schriften. Hier nur einige Titel, die allesamt auf den Bestsellerlisten für Wirtschaftsbücher landeten: «Dead Bank Walking», «Strukturierte Verantwortungslosigkeit», «Bank, Banker, Bankrott», «Gierige Chefs», «Raubtierkapitalismus», «Wie das Kapital die Wirtschaft ruiniert», «Kasino-Kapitalismus»… In den Augen einer breiten Öffentlichkeit, auch in der Schweiz, wurden Banker zu «Banksters», was gegenüber den vielen kleinen Bankangestellten natürlich ungerecht ist.

 Exorbitante Spitzensaläre wurden anrüchig.

Exorbitante Spitzensaläre wurden anrüchig. Es war nicht mehr vermittelbar, dass die Steuerzahler die UBS mit Milliardenbeträgen vor dem Bankrott retten mussten, während sich die Topshots der Banken weiterhin ungeniert aus den Bonustöpfen bedienten. Die Annahme der Minder-Initiative gegen die Abzockerei im vergangenen März war ein überaus deutliches Signal, dass die Bürger die Nase voll haben von den millionenteuren Schlaumeiern, die das ganze System alle paar Jahre an die Wand zu fahren drohen.

Der Pulverdampf des Finanzcrashs ist verflogen, und nun häufen sich in den Bestellerlisten für Wirtschaftsbücher jene Werke, die sich die Frage stellen, wie das Risiko derartiger Vorkommnisse künftig vermindert werden kann. Auch wenn der US-Ökonom Paul Krugman uns entgegen rief: «Vergesst die Krise!», fragte der heutige SRF-Generaldirektor Roger de Weck 2009: «Nach der Krise. Gibt es einen anderen Kapitalismus?». In den letzten zwei Jahren fragten Robert und Edward Skidelsky: «Wie viel ist genug?», der Publizist Frank Schirrmacher beklagte die «Ego-Gesellschaft», der Journalist Mathias Morgenthaler empfahl «Aussteigen, Umsteigen», der Trendforscher David Bosshart propagierte das «AEG of Less», der Sozialwissenschaftler Richard Sennett verlangte «mehr Zusammenarbeit und Respekt» und pries das Handwerk, der Theologe Hans Küng forderte «Anständig wirtschaften», der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz warnte vor dem «Preis der Ungleichheit», der Ökonom Mathias Binswanger prangerte «Sinnlose Wettbewerbe» an.

Wachstum – ein Auslaufmodell

Wachstum, von allem immer mehr, Glück durch Konsum, Renditemaximierung und Steueroptimierung scheinen langsam Auslaufmodelle zu werden. Wichtiger wird, «was man für Geld nicht kaufen kann» (ein Bestseller von Michael Sandel). Am eindrücklichsten war in den letzten Jahren der unglaubliche Erfolg des tschechischen Ökonomen Tomáš Sedláček. Seine beiden Bücher («Die Ökonomie von Gut und Böse», «Bescheidenheit») geben eine neue Tonart vor. 

Dabei ist Sed­láček kein Feind der Marktwirtschaft. Aber er möchte die Wissenschaft des Marktes wieder vom Kopf auf die Füsse stellen. «Unser Weltbild», sagte er in einem Interview, «beruht darauf, dass wir das Paradies immer nur in der Zukunft sehen.» Insofern sei die aktuell vorherrschende ökonomische Schule eher eine Religion als eine Wissenschaft.

Das Rezept: mehr Qualität als Quantität, mehr Fragen nach dem Sinn als nach der Rendite.

Sein Rezept: Weniger Mathematik, mehr Moral und Ethik, mehr Qualität als Quantität, mehr Fragen nach dem Sinn als nach der Rendite. Sedlacek fordert die Besinnung auf die Ursprünge des ökonomischen Denkens. Und die liegen für ihn schon im Gilgamesch-Epos, in den biblischen Erzählungen, in Thomas von Aquins Schriften. Das entspricht im übrigen auch den Ursprüngen der marktwirtschaftlichen Theorien. Gründervater Adam Smith hatte einen Lehrstuhl für Moralphilosophie inne; einer der ganz Grossen der Ökonomenzunft, John Maynard Keynes, war auch gelernter Altphilologe. Übrigens: der Autor studierte an der Uni Basel noch in der Philosophisch-Historischen Fakultät, Fachbereich Ökonomie. Die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät wurde erst später gegründet, mitten im ungebrochenen Wachstumsglauben.

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