Liebe Festgemeinde,
sehr geehrter Herr Regierungsrat,
geschätzte Vertreter und Vertreterinnen der politischen Behörden,
Als ich die Einladung zu dieser Bundesfeier gesehen habe, ist mir ein Abendessen bei Freunden in der Nähe von Muttenz in den Sinn gekommen. Das war vor ein paar Jahren. Der neunjährige Sohn hat mir an dem Abend aufgezählt, was für ihn die schlimmsten Sachen auf der Welt sind. Er hat gesagt:
- Erstens: Krieg
- Zweitens: Rhabarber
- Drittens: Wenn mir jemand sagt, ich sei ein Basler.
Ich wusste also: Ich komme heute nicht nach Basel. Ich komme ins Baselbiet. Ich habe mich gefreut. Man hat mir Dinge über Muttenz erzählt, die mir gefallen.
- Zum Beispiel der Campus im Polyfeld. Ich habe ihn heute Nachmittag besichtigt – und hätte mich am liebsten gleich angemeldet. Die Architektur hat mich beeindruckt. Man hat mir von einem neuen Studiengang erzählt, der drei Fächer und drei Nationen miteinander verbindet. Da spürt man die kreative und pfiffige Atmosphäre. Diese Stimmung wird in Zukunft zu Muttenz gehören. Junge und neugierige Menschen aus allen Teilen der Schweiz und aus dem Ausland, die sich auf dem Campus und in den Cafés von Muttenz treffen und diskutieren.
Diese Offenheit und Freundlichkeit gefällt mir. Sie ist nicht selbstverständlich.
- Man hat mir auch vom Auhafen erzählt. Ein starker Handelsplatz zusammen mit den beiden anderen Rheinhäfen. Gleichzeitig ein Tor, wo sich die Schweiz zum Meer und zur Welt öffnet.
Diese Offenheit und Freundlichkeit gefällt mir. Sie ist nicht selbstverständlich.
Wir spüren es alle: Die Welt wird unruhiger, komplizierter.
Rund um den Erdball sind 68 Millionen Menschen auf der Flucht. So viele wie noch nie. Sie verlassen ihr Zuhause, weil dort Krieg, Gewalt oder Verfolgung herrscht. Weil ihre Wasserleitungen, ihre Schulen und ihre Spitäler – ihre Lebensgrundlagen – vernichtet sind.
Diese Verrohung macht mir Sorgen. Und es beelendet nicht nur mich, dass gleichzeitig der Wille von wichtigen Regierungen abnimmt, Frieden zu stiften.
Auch Europa ist unruhiger geworden.
Mir scheint, rings um unser Land hat eine Art Wettbewerb eingesetzt. Wer äussert sich noch abweisender über Flüchtlinge? Wer schlägt noch härtere Massnahmen vor, um Menschen daran zu hindern, nach Europa zu gelangen?
Müsste uns das nicht zu denken geben? Vor allem deshalb, weil fünf von sechs Flüchtlingen nicht in Europa sind. 85 Prozent aller Flüchtlinge halten sich in den ärmsten Ländern der Welt auf. Um sie sollten wir uns kümmern – und um die Menschen zum Beispiel in Jordanien oder Äthiopien, die selber wenig haben und ihr rares Wasser und ihre trockene Erde auch noch mit den Flüchtlingen teilen müssen.
Dass alle Flüchtlinge nach Europa kommen, davon ist also nicht die Rede. Aber wenn wir aufhören, uns berühren zu lassen vom Schicksal von Menschen, die auf der Flucht sind, dann verlieren wir selber etwas von unserer Menschlichkeit.
Auch wenn Migranten nicht schutzbedürftig sind und unser Land wieder verlassen müssen, schreibt uns kein Gesetz vor, sich ihnen gegenüber zu verschliessen. Erst recht nicht, wenn sie heimatlos sind.
Am häufigsten sagen die Menschen: Heimat, das ist meine Familie, das sind meine Liebsten.
Was bedeutet es eigentlich, heimatlos zu sein?
Es gibt Umfragen dazu, was Heimat bedeutet. Viele Leute antworten: «Heimat ist der Bodensee». Oder: «Der Thunersee». Oder: «Der Zürisee, natürlich!» Andere sagen: la Ville de Lausanne, der Säntis, die gelben Wanderwegschilder.
Heimat ist für viele Menschen auch die eigene Kultur und Tradition: Kirchenglocken, Skifahren, die Stammbeiz. Aber am häufigsten sagen die Menschen: Heimat, das ist meine Familie, das sind meine Liebsten.
Es geht auch mir so. Die Aare und der Gurtenwald sind wichtig, aber wirklich wichtig sind mir die Menschen, die mir am nächsten stehen.
«Am nächsten stehen.» Das tönt ein bisschen nach Geografie und ich habe mich gefragt: Gibt es denn da Grenzen? Wo hören meine Liebsten auf? Beim Gartenzaun? An der Kantonsgrenze, an der Landesgrenze? Verlieren sie ihre Bedeutung, wenn ich im Ausland bin?
Das ist natürlich nicht so. Im Gegenteil: Dann kommt das Heimweh. Wenn wir fort sind von der Heimat, dann vermissen wir die Menschen, die ein Teil unseres Lebens sind, die für uns da sind, wenn es uns nicht gut geht.
Richtig heimatlos sind wir dann, wenn wir keine Menschen haben, die uns richtig nahe stehen. Dann fehlt uns das Wichtigste. Heimat ist nicht an einen Ort gebunden. Menschen können einander überall eine Heimat geben.
Hier in Muttenz zum Beispiel. Hier ist seit bald zwei Jahren das Bundesasylzentrum Feldreben in Betrieb. Sie haben es zugelassen, dass die Flüchtlinge zu einem Teil Ihres Städtchens geworden sind. Es war nicht selbstverständlich, dass Muttenz dem Bund seinerzeit die Zustimmung gegeben hat und jetzt auch bereit ist, die Frist zu verlängern. Dafür danke ich Ihnen allen. Sie lassen fremde Menschen in Ihre Nähe und erlauben ihnen ein Zuhause. Sie grüssen sie, vielleicht ergibt sich ein Gespräch. So geben Sie ihnen eine Heimat, auch wenn es nur eine vorübergehende ist.
Eine Heimat, die bereit ist, auch andern eine Heimat zu sein.
Und jetzt muss ich Ihnen gestehen: Vielleicht habe ich den neunjährigen Baselbieter Bub nicht ganz richtig verstanden? Vielleicht wollte er mir mit seiner Aufzählung der schlimmsten Dinge sagen, dass es gar nicht so drauf ankommt, ob einer ein Basler oder ein Baselbieter ist. Dass es Schlimmeres gibt – Rhabarber, zum Beispiel.