Nach 16-stündigem Verhandlungsmarathon im weissrussischen Minsk kam es zu einer Einigung. Ab Sonntag sollen im Kriegsgebiet Donbass die Waffen schweigen. Es wäre aber eine Illusion zu meinen, dass bereits eine dauerhafte Lösung des Konflikts gefunden worden wäre.
Im September 2014 haben sich in Minsk Vertreter der Ukraine, Russlands und der OSZE auf einen Friedensplan zur Beendigung der seit April 2014 andauernden Kämpfe geeinigt. Das Abkommen blieb weitgehend unbeachtet.
Jetzt ist mit der Fortsetzung Minsk II ein weiterer Anlauf genommen worden. Es wurde eine Waffenruhe vereinbart. In der Abschlusserklärung heisst es: «Sie (die Staatschef, Red.) sind der festen Überzeugung, dass es zu einer ausschliesslich friedlichen Lösung keine Alternative gibt.»
Gemäss Lehrbuch wäre eigentlich die UNO für die Beilegung oder Eingrenzung eines Konflikts zuständig, wie er in der Ukraine vorliegt. Von dieser Seite haben wir zur Ukraine aber kaum etwas oder genau genommen gar nichts vernommen.
Umso aktiver ist die grosse Mächtediplomatie ganz im Stil des 19. Jahrhunderts: Am vergangenen Sonntag das Treffen in Moskau zwischen Merkel, Hollande und Putin, am Montag das Treffen in Washington zwischen Merkel und Obama, am Mittwoch das Treffen in Minsk zwischen dem um Poroschenko erweiterten Moskauer Trio.
Parallel dazu läuft – nicht im UNO-Glashaus in New York, sondern im Münchner Hotel Bayrischer Hof – die Sicherheitskonferenz, die auf keinem offiziellen Organigramm zu finden, inzwischen mit ihren seit 1963 im Jahresturnus durchgeführten Treffen jedoch fest etabliert ist. Dabei geht es um zweierlei: einerseits um das Erringen der Deutungshoheit mit öffentlichen Auftritten und andererseits um Streit und Verständigung hinter verschlossenen Türen.
Klein, konkret, kurzfristig
Damit man es nicht übersieht: In München ging es nicht nur um die Ukraine. Es stand auch die gewichtige Frage des iranischen Atomprogramms auf der Tagesordnung. Für Europa bleibt aber der Krieg in der Ukraine zuoberst auf der Liste.
Da geht es um viel: das aktuelle und das langfristige Verhältnis zu Russland, die Glaubwürdigkeit und den inneren Zusammenhalt der EU, die europäische und amerikanische Einheit zwischen den beiden «Westen», die Vermeidung einer neuen Ära des Kalten Krieges, die verschiedenen, gewollten und ungewollten Wirkungen von Sanktionen. Dies alles sind übrigens Fragen, von denen auch die Schweiz betroffen ist.
Im Kleineren, Konkreten und Kurzfristigen geht es um die Durchsetzung eines Waffenstillstands, um die Vermeidung zusätzlicher Waffenlieferungen, um die provisorische oder dauerhafte Gebietsaufteilung innerhalb der Ukraine, um die Stationierung von internationalen Überwachungstruppen – vielleicht doch unter UNO-Mandat, was allerdings ein halbes Jahr Vorbereitung erfordert und dann wohl zu spät sein wird.
Zudem würde Russland, das sich ja nicht als Konfliktpartei, sondern als vermittelnder Beobachter versteht, vor Ort beteiligt sein wollen, was für die Ukraine nicht in Frage kommt.
Gemäss einhelliger Erklärungen soll weiteres Blutvergiessen vermieden werden. Die Menschen, die den lebensbedrohlichen Gefechten ausgesetzt sind, wünschen sich, dass beide Seiten gleichermassen ihre Kämpfe einstellen.
Die Verhältnisse sind aber alles andere als symmetrisch. Russland ist die aggressive Seite und könnte den Sezessionisten in der Ostukraine Einhalt gebieten. Der Einfluss der EU auf den ukrainischen Staatspräsidenten Poroschenko und Poroschenkos Einfluss auf seinen Ministerpräsidenten Jazeniuk und auf die militärischen Kräfte draussen im Feld sind dagegen beschränkt. Dieser Einfluss würde durch westliche Waffenlieferungen nicht stärker, im Gegenteil.
Es kennzeichnet die Verhältnisse, wenn Russland die Aufständischen mit Waffen beliefert, zugleich den Westen aber durch Aussenminister Sergej Lawrow in München davor warnt, dies seinerseits für die ukrainische Seite zu tun. Dennoch dürfte es richtig sein, keine Waffen zu liefern.
Russland zurück ins System bringen
Da der Westen überzeugt ist und dies auch öffentlich immer wieder betont, dass der Konflikt nicht militärisch gelöst werden könne, bleiben nur zwei Mittel: die von der Ukraine bitter benötigte finanzielle Unterstützung und die Wirtschaftssanktionen gegen Russland.
Auf jeden Fall soll eine weitere Eskalation vermieden, zugleich soll aber auch mit Druck eine Deeskalation bewirkt werden. Selbst wenn sich in den USA die Befürworter von Waffenlieferungen durchsetzen sollten, wonach es im Moment nicht aussieht, gegen den Willen der europäischen Verbündeten wird das nicht geschehen.
Zur Rechtfertigung eingenommener Haltungen ist in den Erklärungen der letzten Tage auch auf die Geschichte zurückgegriffen worden. Erstaunlicherweise hat noch niemand auf das andere München, dasjenige von 1938 hingewiesen, als die Westmächte glaubten, mit falscher Nachgiebigkeit «peace in our time» erkaufen zu können.
Damit sei Putin nicht mit Hitler gleichgesetzt. Gleich ist aber die Grundfrage, wie man einen Grossakteur, der sich in gröbster Weise über die Staatsordnung hinwegsetzt, mit Konzessionen wieder zur Rückkehr ins System ermuntern oder zwingen kann.
Die Konzession wird die Hinnahme einer eigenständigen Ostukraine als russisches Protektorat sein. Schwieriger wird es mit der Erwartung, dass der an Russland orientierten Ostukraine auch ein Vetorecht in Bezug auf die Westpolitik des grossen Rests der Ukraine zugestanden werden soll.
Realismus nach Art von 1961
In den historischen Exkursen dieser Tage war vielmehr von Berlin die Rede, dies jedoch in völlig gegenläufiger Weise: Zum einen erinnerte man an den tatkräftigen Widerstand von 1948, als «Rosinenbomber» der USA per Luftbrücke der eingeschlossenen Bevölkerung zu Hilfe eilten, die durch die sowjetischen Blockade vom Westen abgetrennt war.
Zum anderen erinnerte man an den ausgebliebenen Widerstand von 1961, als der Westen den Bau der Mauer ohne militärische Gegenwehr hinnahm.
Daran erinnert auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel immer wieder gerne. In München erklärte sie erneut: «Es hat niemand – obwohl es eine grobe Verletzung des internationalen Rechts war – geglaubt, dass man militärisch an dieser Stelle eingreifen sollte, um die DDR-Bürger und den gesamten Ostblock davor zu bewahren, viele Jahre lang in Diktatur und Unfreiheit zu leben.» Dies sei das Resultat einer realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten gewesen: «Und diese Art von Realismus gibt es auch heute noch.»
Santkionen und Dialog
Dieser Realismus gebietet dem Westen zu versuchen, mit nicht militärischen Mitteln die Gegenseite dafür zu gewinnen, dass auch sie auf den Einsatz militärischer Mittel verzichtet. Dies geschieht auf doppelte Weise: mit Sanktionen und mit Dialog. In diesem Realismus sollen Werteverteidigung und Interessenverteidigung nicht vermischt werden.
Eine an Werten orientierte Haltung müsste klar heissen, Menschen die nicht unter dem russischen Kommando leben wollen, beizuspringen. Das hat der Westen allerdings weder 1956 (Ungarn) noch 1968 (Tschechoslowakei) noch 1981 (Polen) getan. Bleibt die nicht unbegründete Hoffnung, dass die positive Ausstrahlung des liberalen Gesellschaftsmodells à la longue (siehe Osterweiterung der EU von 2005) doch noch ihre Früchte zeitigen wird.
Die EU-Aussenminister haben zusätzliche Sanktionen beschlossen, wollen aber dem zweiten Minsker Treffen noch eine Chance geben und warten darum mit der Inkraftsetzung noch ab. Das Gipfeltreffen vom Mittwoch ist von vielen als «letzte Chance» eingestuft worden. Es wäre aber eine Illusion zu meinen, dass schon jetzt eine dauerhafte Lösung des Konflikts gefunden worden wäre. Die Auseinandersetzungen werden noch lange andauern. Wichtig wäre, dass sie in der gewalttätigen Variante nicht mehr fortgesetzt würden.
Das Jetzt ist wichtig, es darf aber auch nicht überschätzt werden. Für die Lösung der Fragen rund um die Ukraine – sowohl die Verhältnisse im Inneren des Landes als auch die Aussenbeziehungen betreffend – muss man oder müsste man sich viel Zeit lassen. Und zu diesem Programm gehört, Russland zur Preisgabe seines Konfrontationskurses zu bewegen und wieder im allseitigen Interesse zu einem Kooperationspartner zu machen.