Obama sei Dank

Der Widerstand der unterlegenen Republikaner nach dem Wahlsieg des Demokraten Barack Obama gegen eine Politik der sozialeren Umverteilung wird nicht geringer, aber der wiedergewählte Präsident kann immerhin bei der Zusammensetzung des obersten Gerichts ein Zeichen setzen.  

Wahlkampf in Orlando (Florida): Präsident sorgt für Pizza-Nachschub im Wahlhelferbüro. (Bild: Larry Downing/Reuters)

Der Widerstand der unterlegenen Republikaner nach dem Wahlsieg des Demokraten Barack Obama gegen eine Politik der sozialeren Umverteilung wird nicht geringer, aber der wiedergewählte Präsident kann immerhin bei der Zusammensetzung des obersten Gerichts ein Zeichen setzen.

Barack Obama, seinen Zehntausenden Freiwilligen und der Hälfte der US-Wählerinnen und -Wähler sei Dank: Sie haben verhindert, dass das Land, das uns in Europa gelegentlich irritiert, aber seit Jahrzehnten in vieler Hinsicht immer wieder begeistert und uns politisch, kulturell und wirtschaftlich auch heute wie kein anderes beeinflusst, vier Jahre nach George W. Bush wieder in eine lähmende Bleizeit versinkt.

Die Gefahr war real. Im Wahlkampf operierte Mitt Romney mit dem Ziel, konservative Kräfte in der Republikanischen Partei und die Wirtschaft hinter sich zu scharen, mit realitätsfremden Weltpolizist-Gebärden, patriotischen und fundamental christlichen Glaubensdiktaten und kapitalistischer Ideologie ohne Rücksicht auf Gerechtigkeit. Auf der Schlussgeraden bemühte sich der Kandidat dann plötzlich um sanftere Töne. Der mit persönlichen Wahlzielen vor Augen notorisch wandlungsfähige ehemalige Gouverneur und Investmentbanker, so wurde spekuliert, würde – zum Präsidenten gewählt – in die Mitte rücken und im Hinblick auf eine Wiederwahl als moderater Politiker zu gefallen suchen.

Auf die Drahtzieher kommt es an

Aber der Fall George W. Bush zeigt, wie es nach einem Wahlsieg Romneys wahrscheinlich herausgekommen wäre. Romney stammt wie Bush junior aus einer reichen, politisch mächtigen Familie und verfügt intellektuell und charakterlich nicht über herausragende Fähigkeiten. Als Präsident wurde Bush abhängig von machtbewussten Drahtziehern: Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld funktionierten als Marionettenspieler. Sie haben Bushs Kriegspolitik im Irak, die Lügen über Massenvernichtungswaffen, den Militäreinsatz in Afghanistan und die Folterpolitik in Guantánamo weitgehend ferngesteuert. In Romneys Beraterteam standen am Wahltag wieder einflussreiche Figuren aus dem Bush-Cheney-Netzwerk und Vertreter anderer Hardliner-Gruppen bereit, im Fall einer Wahl ihre direkten Leitungen ins Weisse Haus zu legen.

Diese Gefahr ist jetzt gebannt. Romney wird man schon übermorgen vergessen. Gegen aussen bleibt Barack Obama die herausragende Leuchtfigur der USA: gescheit, urban zukunftsgerichtet, kulturell offen, belastungsfähig und skandalfrei integer. Sein knapper Erfolg hebt zunächst einmal einfach die Stimmung. Die Vorstellung, Romney könnte Bushs Rhetorik und Politik zurückbringen, schien den meisten Europäern unerträglich. Unübersehbar gross ist deshalb jetzt die Erleichterung. Seit man weiss, dass Obama die Tea Party geschlagen hat, reisen Schweizerinnen und Schweizer wieder fröhlicher nach New York oder Kalifornien.

Radikalkonservative und neoliberale Kreise in Europa und in der Schweiz zeigen sich aber enttäuscht: Die Aussicht auf einen Präsidenten Romney hatte diese Kreise offensichtlich mit Hoffnung erfüllt. Auf seine bekannt krude Art schrieb sich der Chefredaktor der «Basler Zeitung» Markus Somm seinen Frust über Obamas Wahl vom Leib: «Der Mann aus Hawaii oder Indonesien oder Kenia oder Chicago, der nicht zu wissen scheint, wer er ist und woher er kommt, schafft sich ein neues Amerika, das mit dem ‹Land der Tapferen und Freien› nicht mehr viel gemein haben wird.» Einmal in Fahrt versenkte Somm auch gerade noch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, die er zusammen mit Obama für «das wachsende Überlegenheitsgefühl der Chinesen» verantwortlich macht. «Gnade uns Gott» schreibt der Blocher-Vertraute. «Der Niedergang des Westens. Vielleicht hat er begonnen.» Obama als Verantwortlicher für den geopolitischen Abstieg der USA und Europas: Die Tea Party lässt Basel grüssen.

Immerhin zwei Bundesrichter

Über diese politisch bedeutungs­lose Aufheiterung der Stimmung in Europa hinaus sind die Folgen von Obamas Wahlsieg schwer abzusehen: Im Parlament bleibt das Blockade­potenzial praktisch unverändert. Das Repräsentantenhaus, das in den letzten zwei Jahren alle Projekte Obamas blockierte, bleibt mehrheitlich republikanisch. Im Senat bleibt die demokratische Mehrheit klein. Sie wird es dem wiedergewählten Präsidenten aber voraussichtlich ermöglichen, zwei Bundesrichter zu ernennen, die das gesellschaftspolitisch fortschrittliche Element im höchsten Gericht sichern und dafür sorgen können, dass die legendäre Balance zwischen Exekutive/Legislative und Justiz (Checks and Balances) längerfristig auch bei einem allfällig späteren Machtgewinn der Republikaner nicht bald kippt.

Obama hatte schon vor vier Jahren erkannt, dass die laufende nationale und globale Umschichtung von Macht und finanziellen Mitteln das Land vor existenzielle Probleme stellt. Intern verliert die Mittelschicht seit Jahren Einkommenskraft. Gewonnen haben vor allem die, welche bereits grosse Vermögen besitzen. Global verlieren die USA wie Europa massiv Arbeitsplätze an Schwellenländer wie China, Indien und Brasilien. Auch vom Substanzverlust der nationalen Volkswirtschaft profitiert in den USA eine global geschäftende Führungsschicht. Die doppelte Umschichtung ist heute ein zentraler Grund für Frustration und Ängste, die die USA und europäische Länder zunehmend schwer regierbar machen.

Im ersten Anlauf sind Obamas Versuche gescheitert, überparteiliche Lösungen zur Bewältigung dieser Verschiebungen zu finden. Jetzt wird er wieder versuchen müssen, insbesondere in der Finanz-, Steuer- und Schuldenpolitik. Auch für ein Immigrationsgesetz wird er Republikaner in Kompromisse einbinden müssen. Doch – und das macht es schwer – Zeichen, dass die in der Präsidentenwahl Geschlagenen ihre Obstruk­tionsstrategie jetzt ändern werden, sind nicht in Sicht. Von kommerziellen und ideologisierten Medien und von unbegrenzt finanzierter Propaganda befeuert, hat die teuerste und schmutzigste Wahlschlacht aller Zeiten das Land in zwei Blöcke zerrissen, die praktisch keine gemeinsame Sprache mehr reden. Da ist die Gefahr gross, dass die Parteien in gemeinsamen Anstrengungen für sich keinen Vorteil sehen und sie deshalb weiterfahren, die grossen Probleme mit Scheinkonflikten zu verdecken und auf bessere Zeiten zu hoffen.

Wenn kurzfristig der Wille zu politischem Handeln fehlt, bleibt die Hoffnung auf die Demografie: In den Präsidentschaftswahlen vom Dienstag haben die Republikaner nur noch bei über 50-jährigen weissen Männern eine Mehrheit errungen. Frauen, Immigranten aus Süd- und Mittelamerika und aus Asien, Afro-Amerikaner und auch junge weisse Männer haben mehrheitlich Obama gewählt. Dieses Bewegungspotenzial muss beiden Parteien zu denken geben. Auch den Demokraten, die sich nach der Zeit ihres Superman Obama wie die Republikaner ernsthaft darum kümmern müssen, dass ihnen Wählerinnen und Wähler, die sich von ihnen nicht berücksichtigt fühlen, nicht davonlaufen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.11.12

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