Scheinheiliger Angriff auf die Menschenrechte

Die Schweiz feiert die 40-jährige Zugehörigkeit zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Just zu diesem Jubiläum will die SVP die Menschrechte schwächen.

Auf dem Bundesplatz in Bern demonstrierten am 1. März 1969 mehrere tausend Frauenrechtlerinnen und weitere Personen für das Frauenstimmrecht und gegen eine Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention mit Vorbehalten. (Bild: STR/Keystone)

Die Schweiz feiert die 40-jährige Zugehörigkeit zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Just diesem Jubiläum will die SVP die Menschrechte schwächen.

Der 10. Dezember ist der Tag der Menschenrechte. Zu diesem Anlass sind wir aufgerufen, ein paar Gedanken auf diese Rechtsprinzipien zu verwenden. Man kann das tun, indem man sich an Ursprung und Zweck der Deklaration der Menschenrechte erinnert; man sollte das aber auch tun, indem man sich die aktuelle Problematik vor Augen führt.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der UNO verabschiedet. Das war im Rückblick auf die Verbrechen des vorangegangen Kriegs ein grosser Schritt nach vorne. In 30 Artikeln wurde das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit, die Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit, das Verbot von Sklaverei und Folter, das Recht auf Arbeit sowie auf Bildung und Gesundheit und anderes mehr postuliert.

Kritische Blicke aus der Schweiz – auch aufs eigene Land

Es war kein bindendes Abkommen. Sein Wertekatalog hat aber in viele Staatsverfassungen und Staatsgruppen Eingang gefunden: in die Gemeinschaften Europas (das heisst, in den Europarat mit seiner bekannten Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK und in die EU mit der noch weniger bekannten Charta der Grundrechte), in die Organisation Amerikanischer Staaten, in die Afrikanische Union.

Die staatlichen Institutionen können aber nicht alleine für die Respektierung der Menschenrechte sorgen. Ganz wichtig ist der Einsatz von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die mit ihrer geschärften Aufmerksamkeit die Respektierung der Menschenrechte einfordern und Verstösse aufgreifen. Indessen dürfen wir auch den NGOs nicht die ganze Arbeit überlassen, sondern müssen uns selber als Bürgerinnen und Bürger dieser Welt für die Respektierung der Menschenrechte mitverantwortlich fühlen.

Das gilt auch für Schweizer Bürger und Bürgerinnen, und zwar nicht nur mit kritischen Blicken auf den Rest der Welt, wo wir schnell Menschenrechtsverletzungen wahrzunehmen pflegen. Nein, auch mit kritischen Blicken auf das eigene Land, in dem es – wider alles Erwarten – seit beinahe jeher Missachtung der Menschenrechte gab und noch immer gibt. Die Vorenthaltung des Frauenstimmrechts während langer Zeit und die administrativen Versorgungen sind nur zwei bekannte Beispiele.

Der Überdruss des Bundesrats

Die Schweiz ist relativ spät, 1974, der 1950 verabschiedeten und 1953 in Kraft getretenen Konvention beigetreten. Jetzt kann man die 40-jährige Zugehörigkeit feiern und tut dies am heutigen Dienstag in Anwesenheit des Strassburger Gerichtspräsidenten, Dean Spielmann, auch in Bern.

Doch ausgerechnet jetzt wird die schweizerische EMRK-Mitgliedschaft mehr und mehr grundsätzlich in Frage gestellt. Es gibt Kräfte in unserem Lande, die überdrüssig und genervt reagieren, wenn sie das Wort Menschenrechte hören. Zu ihnen gehört sogar ein Mitglied unserer ehrenwerten Landesregierung. Und gefördert wird der Destabilisierungsversuch – nicht erstaunlich – durch die «Basler Zeitung».

Der Angriff auf die Menschenrechtskonvention ist verständlich, weil sie das ungute Treiben derjenigen einschränkt, die sie beseitigen wollen.

Die rechtsnationale Kritik beanstandet nicht nur einzelne Gerichtsurteile – was man ja immer mit besseren und schlechteren Gründen tun kann. Sie stellt die Autorität des Strassburger Gerichts prinzipiell in Frage und will mit einer Initiative «Landesrecht vor Völkerrecht» stellen. Kampfparolen reden von «fremden» Richtern und entsprechend von «ausländischem» Recht, obwohl dieses durch die formelle Übernahme zu eigenem Recht erklärt worden ist.

Da steckt eine gehörige Portion Widersprüchlichkeit und Unehrlichkeit mit drin. Zum einen wagt man es nicht, zur tatsächlich betriebenen Relativierung der Menschenrechte zu stehen und sagt scheinheilig, dass man nur den Missbrauch bekämpfe. In Wirklichkeit will man bloss die Verbindlichkeit nicht gelten lassen, die den Menschenrechten innewohnt. Andererseits ist der Angriff auf die EMRK sehr wohl verständlich, weil diese und ihre Respektierung das ungute Treiben derjenigen einschränken, die sie beseitigt sehen wollen. Also ureigenste Parteipolitik.

«Strassburg» reagiert nur auf Anrufung

Eines der leichteren Motive für den 1974 endlich erfolgten Beitritt könnte die Meinung gewesen sein, dass die Schweiz als vemeintlich perfektes Land von «Strassburg» ja doch nichts zu befürchten habe. Das schloss und schliesst freilich nicht aus, dass in der Schweiz lebende Menschen recht gerne an die Strassburger Adresse gelangen. Es bleibt nämlich unbeachtet, dass sich «Strassburg» nicht von sich aus «einmischt», sondern nur ins Spiel kommt, wenn Einzelpersonen diese Instanz auch anrufen.

Das ist in den Jahren 1974–2013 insgesamt 5940 Mal geschehen. Wenn einer der beiden im Lande bekannteren und stets sehr schnell an Gerichte gelangenden Christophe – Blocher oder Mörgeli – in der Schweiz nicht recht bekämen, es würde überhaupt nicht verwundern, wenn auch sie an «Strassburg» appellierten. Und als «Strassburg» (allerdings mit einer höchst fragwürdigen Argumentation) im Juli 2011 auf eine Klage gegen das Minarettverbot nicht einging, bekam man von dieser Seite nur befriedigte Kommentare und keine Infragestellung von «Strassburg» zu hören.

Bezogen auf das Total der registrierten Klagen führten nur 1,6 Prozent der Fälle zu Verletzungsfeststellungen, was die Schweiz, im internationalen Vergleich, «recht gut» dastehen lässt. Bezieht man sich aber auf die 125 ergangenen Urteile mit ihren 82 Verurteilungen, sieht die Tadelsquote mit 65,6 Prozent schlecht aus.  

Beitritt mit Schönheitsfehler

Es geht vor dem Gerichtshof für Menschenrechte um konkreten Individualschutz. Diesen will die SVP für das abstrakte Souveränitätsprinzip opfern. Dies obwohl die EMRK-Zugehörigkeit dem schweizerischen Souverän gar kein eigenes Urteil überstülpt, sondern diesen nur auffordert, souverän zu einer besseren Einsicht zu gelangen und ein entsprechend besseres Urteil zu fällen.

Dass 1974 der EMRK-Beitritt gemäss der damaligen Vorschrift einzig vom Parlament beschlossen wurde und nicht vom gesamten «Volch», mag heute als Schönheitsfehler erscheinen. Der Ständerat war mit 27:4 Stimmen für den Beitritt, der Nationalrat lehnte mit 64:27 ein obligatorisches Referendum ab. Man kann sich aber darauf berufen, dass Volk und Stände den Garantien der EMRK und den Zusatzprotokollen via der 1999 angenommenen Gesamtrevision der Bundesverfassung zugestimmt hätten. Allerdings, wie man weiss, recht knapp. Denn die nationale Rechte, die es schon damals im Lande gab, hielt sich darüber auf, dass unser Grundgesetz in der revidierten Version in Art. 8,1 nicht nur alle Schweizer, sondern alle Menschen als vor dem Gesetz gleichgestellt einstufte.

Es soll hier nicht zum X-ten Mal ausgeführt werden, warum die Formel «fremde Richter» ein historisches Versatzstück und ihr heutiger Einsatz zeitwidrig (anachronistisch) ist. Aber man kann wiedereinmal daran erinnern, dass dieses «fremde» Gericht während eines Jahrzehnts (1998–2007) vom Basler Völkerrechtler und ehemaligen Uni-Rektor Luzius Wildhaber präsidiert wurde und die Schweiz seit 2011 durch die – fremde? – Zürcher Rechtsprofessorin Helen Keller (die sich hier den Fragen der TagesWoche gestellt hat) vertreten ist.

Gegen «fremde Richter»

Für SVP & Co. sind alle Richter tendenziell «fremde Richter», auch die Bundesrichter in Lausanne. Mit ihrer hochpolitischen Optik sprechen die Gerichtskritiker gerne von politisierten Gerichten und von Richterstaat, wenn Richter das tun müssen, was ihre Aufgabe ist, nämlich auf Grund des geltenden Rechts nach eigenem Ermessen ein abwägendes Urteil zu Einzelfällen treffen. SVP & Co. sind, wie die Ausschaffungsinitiative zeigt, für gröbsten Automatismus ohne Beachtung des Verhältnismässigkeitsprinzips. Das heisst, sie wollen mit eigener Gesetzgebung per Initiative selber Richter spielen.  

Verständlicherweise und richtigerweise gilt ein zentraler Teil unserer Erinnerungsbemühungen den Extremausschlägen. Der Shoa. Hinzugekommen ist auch die Nakba. Zu diesem Erinnern müssen aber auch die jeweiligen Vorläufer zu diesen schrecklichen Vorgängen einbezogen werden: die berüchtigten «gewöhnlichen» Anfänge. Doch uns müssen auch die Alltagsverletzungen von Menschenrechten interessieren. Wir müssen diese gewöhnlichen Verletzungen schon in sich ernst nehmen und nicht nur als drohende Vorstufe von extremer Unmenschlichkeit, die sich hoffentlich nie ungebremst erneut entfalten wird.

Hiermit sind wir wieder bei uns selbst angelangt. Die Respektierung der Menschenrechte ist nicht nur eine Sache der Behörden und insbesondere der Justiz. Sie ist auch unser aller Sache. Wir sollten uns in unserem Alltag so verhalten, dass wir die Menschenrechte nicht verletzen.

Eine Voraussetzung ist freilich, dass wir uns, zum Beispiel anlässlich des 10. Dezembers, diesen Normenkatalog wieder einmal vergegenwärtigen. Wir sollten dieses Recht aber auch nicht indirekt gering schätzen, indem wir Initiativen unterstützen, die menschenrechtlich problematisch sind und wie die Initiative «Schweizer Recht geht fremdem Recht vor» die Menschenrechte als relativierbar einstufen.


Georg Kreis referiert zusammen mit Gabor Hirsch auf Einladung der Hochschulgruppe von Amnesty International unter dem Titel «Gegen das Vergessen!» am 10. Dezember 2014 an der Universität, 18.15, H 102.

 

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