Die Aufgabe des Wechselkurses gibt den Marktdogmatikern Auftrieb. Sie blasen zum Angriff auf die Sozialwerke und wollen die verängstigte Bevölkerung in die Arme von nationalegoistischen Zynikern treiben. Die sozialen und demokratischen Kräfte müssen dagegenhalten – gerade auch am 1. Mai.
Wie der Zufall manchmal so spielt: Wenige Tage nach dem 15. Januar dieses Jahres nahm ich in meiner Eigenschaft als Co-Präsidentin der grössten Schweizer Gewerkschaft an einem Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Verbänden und Wirtschaft teil. Auf der Tagesordnung standen allgemeine wirtschaftspolitische Themen. Doch die Gespräche drehten sich fast nur um den kurz zuvor bekannt gegebenen Entscheid der Schweizerischen Nationalbank, die Verteidigung der Frankenuntergrenze gegenüber dem Euro aufzugeben.
Besonders Praktiker aus den Führungsetagen exportorientierter Unternehmen, welche die Welt nicht nur durch eine ideologische Brille betrachten können, stellten diesen Entscheid in Frage. Dreieinhalb Jahre lang waren sie nämlich ganz gut gefahren mit dem gebundenen Wechselkurs, er gab ihnen Planungssicherheit und einen Schutz gegen eine noch stärkere spekulative Überbewertung des Frankens. Mit der überraschenden Kapitulation der SNB vor den Folgen der Finanzkrise sahen sie eine Reihe von Problemen auf ihre Unternehmen zukommen.
Folgen eines Fehlentscheids
Jetzt bewahrheiten sich ihre Befürchtungen. Der Einbruch beim Aussenhandel im ersten Quartal und sinkende Margen in den wechselkursabhängigen Branchen sprechen eine klare Sprache. Und die Unternehmensführer tun, was sie in solchen Situationen am besten können: Sie wälzen die Kosten auf die Mitarbeitenden ab. Eine dieser Tage publizierte repräsentative Umfrage von Swissmechanic, dem Branchenverband der kleinen und mittleren Unternehmen der Maschinen-, Elektro- und Metall-Branche zeigt, dass bereits 16 Prozent der Verbandsmitglieder Entlassungen vorgenommen haben. 15 Prozent haben die Arbeitszeiten erhöht und 4 Prozent die Löhne gesenkt.
Es wird noch viel schlimmer kommen, wenn die Politik den Fehlentscheid der SNB nicht schleunigst korrigiert und dessen Folgen in den nächsten Monaten die Binnenwirtschaft erreichen. Aber genau hier – in der Politik – spielt sich zurzeit das eigentliche Drama ab. Denn während Thomas Jordan und das SNB-Direktorium im Januar doch einige Mühe bekundeten, ihren Entscheid zu rechtfertigen, haben die neoliberalen Marktideologen inzwischen die Reihen geschlossen und drohen die Schweiz in eine schlimme Rezession zu reiten.
Deregulierung total
Unter dem Banner der «Standortkonkurrenz» stürmen diese Marktdogmatiker jetzt wieder gegen alles an, was die Schweiz erfolgreich machte und in den letzten Jahren recht glimpflich durch die Stürme der Finanzmarktkrisen brachte. Errungenschaften wie den sozialen Ausgleich durch die AHV und andere Sozialwerke, Gesamtarbeitsverträge für faire Arbeitsbedingungen, Schutzmassnahmen gegen Lohndumping, einen starken Service public oder das Solidaritätsprinzip im Gesundheitswesen bis hin zur überlebenswichtigen Energiewende – das alles wollen sie über Bord werfen.
Es steht viel mehr auf dem Spiel als ein bisschen Wechselkurs-Arithmetik.
Ihr Ziel ist es, das umzusetzen, was sie wirklich interessiert: eine Deregulierung total, weniger Steuern für Reiche und Unternehmen, noch mehr Umverteilung von unten nach oben. Führt dies zu mehr Krise, Arbeitslosigkeit und Verunsicherung «bei denen da unten», kommt ihnen das gerade recht – Angst lässt sich politisch verwerten und hat schon immer der Rechten genutzt.
Es steht derzeit also viel mehr auf dem Spiel als ein bisschen Wechselkurs-Arithmetik. Denn der totale Markt wird die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen, die uns bedrohen, nicht lösen, sondern weiter verstärken. Dies wird immer mehr Menschen in die Arme von nationalegoistischen Zynikern wie Christoph Blocher treiben. Wir Gewerkschaften und mit uns alle sozialen, demokratischen und ökologischen Kräfte müssen darum alles daran setzen, den neoliberalen Grossangriff auf die Grundlagen unserer Gesellschaft abzuwehren.
Dafür gehe ich an diesem 1. Mai auf die Strasse. Ich hoffe, wir sehen uns dort.
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Vania Alleva spricht neben anderen Rednerinnen und Rednern am 1. Mai um 11 Uhr an der Kundgebung auf dem Marktplatz in Basel.