Ungarn raus aus der EU wäre ein Fehler

Die Forderung von Luxemburgs Aussenminister, Ungarn aus der EU auszuschliessen, klingt angesichts der fortlaufenden Verletzungen von EU-Grundwerten berechtigt – doch sie ist unklug, kontraproduktiv und selbstgerecht.

Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn will Ungarn nicht mehr in der EU sehen.

(Bild: Ivan Sekretarev / AP)

Die Forderung von Luxemburgs Aussenminister, Ungarn aus der EU auszuschliessen, klingt angesichts der fortlaufenden Verletzungen von EU-Grundwerten berechtigt – doch sie ist unklug, kontraproduktiv und selbstgerecht.

Ungarn sollte aus der EU ausgeschlossen werden. Diese drastische Forderung erhob kein Geringerer als Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn in einem Interview mit der Tageszeitung «Die Welt», das am Dienstag erschienen ist.

Zur Begründung sagte Asselborn, einer der erfahrensten und angesehensten europäischen Aussenpolitiker, es könne nicht akzeptiert werden, dass die Grundwerte der Europäischen Union massiv verletzt würden. Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baue oder die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletze, der sollte, so Asselborn, vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden.

Moralisch richtig, aber kontraproduktiv

Asselborns Forderung sorgte umgehend für europaweite Schlagzeilen und viel Diskussionsstoff unter Politikern. Sie kommt immerhin wenige Tage vor dem EU-Sondergipfel zur Zukunft der Union in Bratislava, auf dem die Mitgliedsländer darüber beraten wollen, ob und wie sie die Gemeinschaft nach dem Brexit umgestalten. Und sie kommt knapp drei Wochen vor dem ungarischen Referendum zur EU-Flüchtlingsquote.

Zu Asselborns Forderung lässt sich zweierlei feststellen: Sie ist vom moralisch-politischen Standpunkt aus völlig berechtigt. Politisch jedoch ist sie unklug und kontraproduktiv.

Ungarns Bevölkerung hat 2003 mit grosser Mehrheit für den Beitritt zur EU gestimmt. Abgesehen von der Flüchtlingsfrage hat sich an der positiven Einstellung der Ungarn zur Union bis heute wenig geändert, wie Meinungsumfragen ergeben – auch derzeit plädiert eine grosse Mehrheit für den Verbleib in der EU und steht durchaus hinter ihren Werten.

Die seit 2010 amtierenden ungarischen Machthaber um den Regierungschef Viktor Orban treten diese Werte jedoch pausenlos mit Füssen und sprechen von der EU in einem Ton immer grösserer Verachtung.

In Ungarn haben sich antidemokratische Herrscher eingerichtet

Tatsächlich werden Flüchtlinge in Ungarn wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Tatsächlich wurden die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung im ungarischen Staat durch vielfältige informelle Strukturen und Mechanismen ausgehebelt. Tatsächlich ist die Pressefreiheit im Land stark eingeschränkt. Insgesamt ist Ungarn das Modell eines modernen illiberalen Staates im 21. Jahrhundert, in dem sich formaldemokratisch trickreich legitimierte, in ihren Strukturen jedoch zutiefst antidemokratische Herrscher auf Jahrzehnte an der Macht eingerichtet haben.

Angesichts dessen schlicht und einfach den Ausschluss Ungarns aus der EU zu fordern, ist nicht nur unklug und kontraproduktiv, sondern auch selbstgerecht. Es gibt genügend andere EU-Mitglieder, die die Grundwerte der EU in mehr oder weniger grossem Masse verletzen. Auch die europäischen Parteienfamilien – die Sozialdemokraten, zu denen Asselborn gehört, ebenso wie die Europäische Volkspartei, in der Orbans Fidesz Mitglied ist – handeln immer wieder nach Parteiräson, nicht nach Werten und Prinzipien.

Zudem spielen solche polarisierenden Formulierungen wie die Asselborns Viktor Orban in seiner derzeitigen Anti-EU-Kampagne nur in die Hände: Er kann vor der ungarischen Bevölkerung mit dem Finger auf «linksliberale westeuropäische Reichsbürokraten» zeigen – für ihn «Nihilisten», die Europa und seine christlichen Wurzeln zerstören wollen und Ungarn an den Pranger stellen.

Die Debatte darüber, wie EU-Mitglieder wirksam sanktioniert werden könnten, wenn sie Grundwerte fortgesetzt verletzen, ist bereits Jahre alt. Statt simpel-drastische Ausschlussforderungen zu erheben, müsste sie endlich zu einem greifbaren Ergebnis kommen. Dafür könnte der Gipfel von Bratislava ein Forum sein.

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