Nach dem 9. Februar wurde wieder einmal die Spaltung der Schweiz beklagt. Doch die Geschichte zeigt: Gräben gab es schon immer, doch ihr Verlauf ändert sich immer wieder.
Die Schweiz, eine gespaltene Nation: Diesen Eindruck haben mehrere Abstimmungen mit knappen Mehrheitsverhältnissen vermittelt, zuletzt diejenige zur Masseneinwanderungsinitiative vom 9. Februar. Der plebiszitäre Nationalstaat beruht auf zwei Gegebenheiten, die sich immer wieder in die Quere kommen: Zum einen ist die Schweiz ein Ganzes und damit in gewisser Hinsicht auch eine Einheit – und zum anderen zerfällt sie mehrmals pro Jahr in verschiedene Abstimmungslager.
Das gilt solange als unbedenklich, wie sich die Lager je nach Sachgeschäft immer wieder unterschiedlich zusammensetzen und die Sachfragen von beschränkter Bedeutung sind. Werden die Abstimmungsfragen aber existenziell verstanden (und die Abstimmung vom 9. Februar gehörte dazu) und kommt es grosso modo immer wieder zur gleichen Lagerbildung, dann liegt ein staatspolitisches Problem vor.
Lagerbildung – kein neues Phänomen
Beruhigen mag ein Blick in die Geschichte: Es ist schon früher zu bedenklichen Lagerbildungen gekommen, ohne dass die Schweiz darüber auseinandergebrochen wäre. Der tiefste Graben dürfte sich 1874 in der Frage der Totalrevision der Bundesverfassung aufgetan haben. Bei einer Stimmbeteiligung von rund 80 Prozent wurde die katholische Minderheit von den Projektvätern bewusst und brutal in die Minderheit versetzt, indem man durch eine inszenierte Polarisierung eine 63,2-Prozent-Zustimmung zu einer Reform hereinholte, für die man kurz vorher nur 49,5 Prozent Zustimmung – also zu wenig – erhalten hatte.
Politische Landesgräben werden vor allem wahrgenommen, wenn sich zwei fast gleich grosse Lager gegenüberstehen. Es kann aber auch Gräben zwischen sehr unterschiedlichen Grössen geben, etwa durch abweichendes Abstimmungsverhalten im Kanton Tessin oder dem tendenziellen Nein-Sager-Kanton Schwyz. Gräben, das geht aus dem Bild hervor, werden vor allem über Tiefe wahrgenommen – das heisst über die Intensität des Gegensatzes, besonders ausgeprägt in Glaubensfragen wie etwa Religion, Energie oder Europa.
Eine Vielzahl von Gräben
Bemerkenswert sind die zuweilen markanten Unterschiede in den Kantonsergebnissen mit Differenzen zwischen 20 und 80 Prozent. In der Regel aber beklagt sich keiner dieser kantonalen Kleinstaaten darüber, dass sein eigenes Ergebnis nicht dasjenige des ganzen Landes ist.
Die vielfältig zusammengesetzte Schweiz weist drei klassische Grabenpotenziale auf: erstens die konfessionelle Spaltung seit der Reformation im 16. Jahrhundert; zweitens den Stadt-Land-Gegensatz, dem man bereits mit dem Stanser Abkommen von 1481 entgegenwirken wollte; und drittens der Sprachengraben, der sich vor allem im Ersten Weltkrieg in gefährlicher Weise auftat.
Bei diesen Gräben geht es aber in der Regel um mehr als um Sprache, nämlich um Kultur und Weltbild und um wirtschaftliche Stärke. Gerade in Verbindung mit der Sprachenfrage zeigen sich zudem die gegenläufigen Tendenzen der eher zentralistisch oder föderalistisch eingestellten Kräfte. Im Weiteren sind, als Variante des Stadt-Land-Gegensatzes, zwei gegensätzliche Interessenlager ebenfalls erwähnenswert unter dem Titel der Alpenschweiz und der Flachlandschweiz beziehungsweise der vereinfachten Gegenüberstellung der Energieproduzenten («Alpen-Opec») und der Energiekonsumenten.
Heute Gegner, morgen Verbündete
Solche Lager sind, wie gesagt, fast unbedenklich, wenn sie nicht immer die gleichen Gräben reproduzieren. Eine alte Erkenntnis besagt, dass ein Netz von unterschiedlichen Trennungslinien (cross-cleavages) aus stets umgruppierten Lagerbildungen die Schweiz einigermassen zusammenhält: Der Gegenspieler in einer Sache von heute ist der Verbündete in anderer Sache von morgen.
Die Bedeutung der Spaltung hängt freilich auch von der Tragweite des Streitgegenstandes ab: Öffnungszeiten von Tankstellen für Bratwurstverkäufe dürften nicht die gleiche Relevanz haben wie beispielsweise die Fristen- und Versicherungsregelungen in der Abtreibungsfrage. Das Ergebnis vom 9. Februar, darüber ist man sich hüben wie drüben einig, ist ein Entscheid von allerhöchster Tragweite, auch wenn wiederum auf beiden Seiten die Konsequenzen heruntergeschwatzt werden.
Unerbittlicher Kampf, gegenseitige Schuldzuweisungen
Ergebnisse von eidgenössischen Abstimmungen sind – logischerweise – gesamtschweizerisch verbindlich. Interessanterweise kam nach dem 9. Februar aber die Meinung auf, dass diejenigen Kantone, die für die Einwanderungsbeschränkung gestimmt haben, nur kleine Ausländerkontingente, und in der umgekehrten Variante Orte, die gegen die Beschränkung gestimmt haben, dagegen grosse Kontingente erhalten sollten.
Einleuchtend wurde dem entgegengehalten, dass etwa im Falle des Ausbaus der SBB-Infrastruktur (Fabi-Vorlage, ebenfalls vom 9. Februar) auch nicht dem regionalen Stimmverhalten Rechnung getragen werde und diejenigen, die dagegen waren, mit weniger Eisenbahn ausgestattet werden können.
In einer Schicksalsgemeinschaft sollte man beachten, welches Schicksal man anderen mit dem eigenen Verhalten bereitet.
Die Schweiz ist wie andere Länder bis zu einem gewissen Grade eine Schicksalsgemeinschaft. Darum sollte beachtet werden, welches Schicksal man anderen mit dem eigenen Verhalten bereitet. Dass man auf Minderheiten Rücksicht nehmen soll, wenn es um deren identitäre Substanz geht, leuchtet grundsätzlich ein. Haben wir aber 50:50-Konstellationen, wird der Kampf unerbittlich geführt, und alle können sich gegenseitig beschuldigen, das Land zu spalten.
Nicht alle Kräfte leiden in gleichem Mass unter den Spaltungen. Im Falle des 9. Februar spürte man auf der harten Siegerseite wenig Erschrecken über den eigentlich unerwarteten Sieg. Auf der Verliererseite setzte dagegen sogleich ein beinahe sehnsüchtiges Beschwören des eidgenössischen Zusammenhalts und der Notwendigkeit ein, jetzt gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Da mag Taktik im Spiel sein. Andererseits sollten die Verlierer durchaus auf ihren momentanen Minderheitspositionen beharren dürfen, und sie sollten, wenn ihnen ihre Werte etwas wert sind, dafür kämpfen, dass sie in einer nächsten Runde wieder die Mehrheit bilden.
Mehrheitlich regiert die Konkordanz
Unter dem Eindruck von in jüngster Zeit erlebten Abstimmungen (ob es die Ausschaffungs-, Abzocker- oder Zweitwohnungsvorlage ist) könnte sich die Meinung festsetzen, dass wir es mit einer generellen Zunahme von Spaltungstendenzen zu tun haben. Zugenommen hat jedoch vor allem das Interesse an diesem Phänomen, nicht nur in den Tagesmedien, sondern auch in der Fachliteratur.
Die wichtigsten Publikationen stammen von den Berner Politologen Wolf Linder (2008) und Werner Seitz (2014). Ein Blick auf die mittlerweile gegen 600 eidgenössischen Volksabstimmungen zeigt, dass neben den Spaltungen, die es durchaus gibt, mehrheitlich doch übereinstimmende, konkordante Haltungen vorliegen.
Die «Stammlande» verblassen
Zwei wichtige Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Analysen zeigen: erstens ein Verblassen der sogenannten «Stammlande», das heisst einen Rückgang der konfessionell oder sprachkulturell geprägten Regionen; und zweitens ein Verblassen der alten Aufteilung in eine städtische und ländliche Schweiz zugunsten der allerdings schwer fassbaren Kategorie der Agglomeration.
Gerade in diesen Siedlungsgebieten könnte das Abstimmungsverhalten und damit die politische Einstellung immer weniger von traditionellen Milieus und Überzeugungsgemeinschaften abhängen, sondern durch individuelle Einstellungen bestimmt sein. Und diese werden in wachsendem Mass über nicht-räumliche Kontakte in der elektronischen Welt geformt. So hängt es weniger von Siedlungszonen und traditionellen Überzeugungsgemeinschaften und vermehrt von diesen freien Kontakten ab, wer wir sind und wie wir uns verhalten.