Von Demokratie-Mangel zu sprechen ist für Strassburger beleidigend

Mit grossem Interesse habe ich Ihre Elsass-Titelgeschichte (tages­woche.ch/+axxyf) gelesen und schlies­se mich durchaus Ihrer Analyse bezüglich des Abschieds vom alten Elsass beziehungsweise vom alten Sundgau sowie Alain Claude Sulzers Bestandesaufnahme an. Doch lässt sich das ­Elsass auf den Sundgau reduzieren? Wir sind eine der wenigen Regionen Frankreichs, die – ausser dem Sundgau – nicht ausschliesslich […]

Mit grossem Interesse habe ich Ihre Elsass-Titelgeschichte (tages­woche.ch/+axxyf) gelesen und schlies­se mich durchaus Ihrer Analyse bezüglich des Abschieds vom alten Elsass beziehungsweise vom alten Sundgau sowie Alain Claude Sulzers Bestandesaufnahme an. Doch lässt sich das ­Elsass auf den Sundgau reduzieren?

Wir sind eine der wenigen Regionen Frankreichs, die – ausser dem Sundgau – nicht ausschliesslich katholisch ist. Seit der Reformation ist fast ein Drittel der elsässischen Bevölkerung protestantisch. Bis vor Kurzem war die jüdische Gemeinde Strassburgs die zweitwichtigste Frankreichs – nach Paris … Nebenbei bemerkt: Die Synagogue de la Paix ist von der Platzkapazität her die drittgrösste der Welt! Die religiösen Instanzen der drei Glaubensrichtungen, die vor Kurzem um muslimische Vertreter erweitert wurden, sind sich über die Respektierung jeder Konfes­sion einig. Man kann das Elsass also nicht aufgrund der katholischen Kirchtürme der kleinen Sundgauer Dörfer analysieren …
Von einem Mangel an demokratischer Erfahrung zu sprechen ist für Strassburger nicht nur beleidigend, sondern auch dreist. Strassburg war seit dem 13. Jahrhundert eine Republik nach dem Vorbild der antiken griechischen Städte – aber ohne Sklaverei! Auch war sie bis 1681 freie Reichsstadt. Ich könnte ebenfalls den Zehnstädtebund oder den Bauernaufstand erwähnen, der 1525 vom Herzog vom Lothringen blutig niedergeschlagen wurde. Und wenn das Elsass auch von 1870 bis 1914 dem Kaiser unterstand, haben unsere Politiker nie aufgehört, mehr Demokratie von den preussischen Machthabern zu fordern.
Was 1968 betrifft, sind wir diesen Ereignissen nicht hinterhergehinkt – wir haben sie vorweggenommen! Schon 1966 hatten die Mitglieder der Situationistischen Internationalen an der Uni Strassburg die Schrift «Über das Elend im Studentenmilieu» veröffentlicht, in der die Grundlagen der Forderungen festgelegt wurden, die die Bewusstwerdung der Pariser Studenten an der Sorbonne und in Nanterre anregen sollten.
Auch die Uni Strass­burg streikte bereits seit Anfang Mai 1968. Dass es bei uns weniger Demonstrationen gab, liegt daran, dass wir nicht der gleichen Barrikadenromantik huldigen wie die Pariser. Die im Palais U., dem Hauptgebäude der Uni, eingesperrten Studenten schichteten keine Pflastersteine vor der Goethestatue, die an einen ihrer berühmtesten Kommilitonen erinnert, sondern nahmen sich Zeit, um den Entwurf zur Autonomie der Unis auszuarbeiten, auf dem das Gesetz vom 12. November 1968 (loi Edgar Faure) basiert, das einige Monate später in Kraft trat. Sturm und Drang, auf Elsässer Art!

Den Front National gibts überall

Im Gegensatz zu den Behauptungen bezüglich des Auftritts von Serge Gainsbourg in Strassburg handelte es sich bei den Extremisten um etwa 100 Fallschirmjäger, die mit dem Sänger wegen seiner Reggae-Version der Marseillaise abrechnen wollten. Es handelte sich um das erste Konzert seiner Tournee, und alle erwarteten genau das, was auch geschah: Die überregionale Presse, die Gainsbourg selber eingeladen hatte, kam in Scharen, das Strassburger Publikum wurde in Geiselhaft genommen und musste auf das Konzert verzichten, für das es Karten gekauft hatte.

Und schliesslich ist es nur bedingt richtig zu behaupten, die Elsässer seien die Einzigen, die sich auf dem Boden des Rechtsextremismus bewegten. Über die vom Front National erzielten Wahlergebnisse wird seit 20 Jahren spekuliert – meistens parteiisch und fast immer ungenau. Sie wurden vorschnell als Rückzug auf eine «eigene Identität» ­erklärt, womit man die Elsässer anprangern und ebenso unsinnige Querverbindungen zur Geschichte der Zwangsrekrutierung im Zweiten Weltkrieg anstellen konnte. Dabei geben inzwischen alle ländlichen Regionen viele ihrer Wählerstimmen dem FN.
Anders als es von den sanften Hügeln des Sundgaus aussehen mag, ist das Elsass vor allem eine städtische Region. Zwei Drittel der Bevölkerung lebt in den Ballungsräumen von Strassburg, Mulhouse und Colmar. Das dörfliche Elsass stellt eine Minderheit dar, und hier wie anderswo klaffen das Wahlverhalten der urbanen und das der ländlichen Bevölkerung auseinander. Während die systematische Ausgrenzung der Bevölkerung mit Migrationshintergrund deren Rückzug auf einen gemeinschaftlichen Reflex bewirkt hat, haben sich deren angebliche Opfer – die in Wirklichkeit viele Kilometer fahren müssen, um einen Migranten aus der Nähe zu sehen – hinter einem extremistischen Wahlverhalten verschanzt.

Viele stimmen links

Eine weitere Eigenart französischer Wähler ist es, für Linksextremisten zu stimmen. Fast 13 Prozent der Franzosen stimmen für die radikale Linke. Tatsächlich haben sich die traditionellen Parteien als «bobos» (bourgeois-bohème) – alternativ angehauchte, jüngere Wohlstandsbürger – gentrifiziert und ihre ursprüngliche Wählerschaft aufgegeben. Grob gesagt: die PS die Arbeiter, die UMP die Landwirte – diese haben sich an den Wahlurnen allmählich dem Ex­tremis­mus zugewandt.

Verantwortlich dafür sind die beiden Mehrheitsparteien. Ohne die Stimmenabgabe für die extreme Rechte verharmlosen zu wollen, ist es dennoch wichtig, sie aus der richtigen Perspek­tive zu sehen. Das Elsass, wie andere Regionen Frankreichs, ist aufgeteilt in eine Land- und eine Stadtbevölkerung. Die einen fürchten, was sie nicht kennen, die anderen leben mit jenen, die ihre Nachbarn sind, und warten auf eine harmonischere Zukunft. Die Elsässer sind also nicht aus der Reihe getanzt. Hoffen wir nun, dass sie als Erste den braunen Narrentanz beenden. Übersetzung: Johannes Honigmann

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 11.05.12

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