Mit aller Macht hat der Ständerat während dieser Session seinen Ruf beschädigt. Die ungewollte Image-Korrektur war überfällig: Die kleine Kammer war noch nie so gut, wie sich die Herren und Damen Ständeräte in der Vergangenheit gerne darstellten.
Am Donnerstag, kurz vor Ende der Session, da konnten die Mitglieder des Ständerats noch einmal zeigen, was in ihnen steckt. Während der Debatte über die 1:12-Initiative der Juso packten die Damen und Herren Ständeräte ihr ganzes Bildungsbürgertum in die sorgfältig vorbereitenden Voten. Einen Auftritt hatten unter anderem Adam Smith, Martin Luther, Thomas von Aquin, Joe Stiglitz, Paul Krugman oder Marion Gräfin Dönhoff. Erkenntnisgewinn der Debatte: das mit der Gerechtigkeit ist eine schwierige Sache, über die schon viele gescheite Menschen nachgedacht haben. Erkenntnisgewinn für die Meinungsbildung zur 1:12-Initiative: genau Null.
Aber das spielte an diesem Morgen im Ständerat keine Rolle. Man sah den Parlamentariern an, dass sie sich in ihrer Rolle als beflissene Dozenten gefielen. Denn das war der Ständerat, wie er sich gerne selber sieht: besonnen, distinguiert, reflektiert. Eine «chambre de réflexion», um diesen unsäglichen Begriff zu verwenden («chambre de citation» würde es wohl eher treffen).
In der Sinnkrise
Die geschwollene Debatte vom Donnerstagmorgen mag den Ständeräten gut getan haben. Sie reicht aber nicht aus, um die Risse im sorgfältig gepflegten Image der kleinen Kammer zu überdecken. Seit der Wintersession, seit dem ersten von Politnetz aufgedeckten Zählfehler, steckt der Ständerat in einer Sinnkrise. Und das macht die Leute nervös. Am Tag vor der 1:12-Debatte straften die bürgerlichen Ständeräte Gesundheitsminister Alain Berset ab und überwiesen eine Motion von CVP-Ständerat und Groupe-Mutuel-Beirat Urs Schwaller, um einen Gegenvorschlag zur Einheitskasse zu verhindern. Die linke Seite tobte, das sei gegen die Tradition des Ständerats, vergifte die Atmosphäre. Als ein linker Ständerat nach der Überweisung des Vorstosses das persönliche Gespräch mit der Gegenseite suchte und sich über die Abstrusität des Vorstosses von Schwaller enervierte, meinte ein bürgerlicher Ratskollege zu ihm: «Aber die Fetz hat kürzlich auch verlangt, dass wir eine Abstimmung auszählen.»
Ein Debatten-Niveau etwa auf Stufe Kindergarten.
Ursache für die Nervosität ist ein Gefühl, das die Damen und Herren Ständevertreter bisher so nicht kannten: Das Gefühl, an ihrer Arbeit gemessen zu werden. Das Gefühl, Rechenschaft ablegen zu müssen. Es ist dem Politnetz und der ausdauernden Berichterstattung in den grossen Schweizer Medien zu verdanken, dass der Vorstoss von This Jenny (SVP, GL) für die Einführung einer elektronischen Abstimmungsanlage überhaupt noch einmal traktandiert wurde. Die Debatte über sich selber, die in der ersten Sessionswoche stattfand, war ein Tiefpunkt in der Geschichte des Ständerats. Wie sich gewisse Ständeräte gegen die Transparenz des eigenen Abstimmungsverhalten wehrten, war demokratisch gewählten Volksvertretern unwürdig. Dass die entscheidende Abstimmung dann insgesamt dreimal durchgeführt werden musste, war die hübsche Pointe einer traurigen Geschichte.
Ganz gewöhnliche Politiker
Da sassen sie nun, die Ständeräte, und schwebten nicht mehr distinguiert über den Dingen. Sie zitierten auch nicht mehr Montesquieu oder Locke. Sie waren einfach gewöhnliche Politiker. Mit Ausfällen und Abfällen. Mit Fehlern und Unzulänglichkeiten. Die sich auch einmal anzünden. Und auch einmal fragwürdige Entscheidungen treffen (Alkohlverkauf ab 22 Uhr verboten? Tatsächlich?).
Es ist jenes Bild der Ständeräte und Ständerätinnen, das der eigentlichen Wahrheit viel näher kommt, als das selbstpostulierte Image als letzter Hort für die Vernunft in der Politik.
Wahrscheinlich wussten die 46 Menschen in diesem ehrenwerten Hause insgeheim schon länger, dass sie nicht unbedingt besser oder schlauer oder erhabener sind als ihre Kollegen im Nationalratssaal. Der einzige Unterschied zu früher: Nun wissen wir es auch.