«Was? Die Schwulen nehmen ein Medikament, um danach hemmungslos und ungeschützt rumvögeln zu können? Prep als eine Art Designerdroge für den promiskuitiven Lifestyle?»
Ungefähr so lassen sich die Reaktionen zusammenfassen, als ich im Zuge meiner Recherchen den unterschiedlichsten Menschen vom «Wundermittel Prep» erzählt habe, das vor einer HIV-Ansteckung schützt. Eine Zuspitzung, klar, aber im Subtext entsprachen sie meist dieser Aussage. Ich gebe zu, meine erste Reaktion ging in dieselbe Richtung.
Dann habe ich mich mit knapp zehn schwulen Männern über Prep unterhalten. Nicht alle nehmen es selber, alle hatten sie sich aber mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt. Es entstanden Gespräche von einer Offenheit, die mich jedesmal wieder staunen lässt, wenn ich in meiner Funktion als Journalist mit Menschen über urpersönliche Themen sprechen darf. Männer, die mich zuvor noch nie gesehen hatten, sprachen mit mir über ihre Sexualität, über Wünsche und Ängste, die sie damit verbinden. Und ich sass dort und übertrug diese Intimitäten in mein Notizbuch.
Moralische Argumente werden der Lebenswelt dieser Menschen nicht gerecht.
Sehr schnell wurde mir klar, moralische Argumente werden der Situation nicht gerecht. Denn sie lassen es nicht zu, sich auf die Lebenswelt dieser Menschen einzulassen. Sie leben nämlich eine hochgradig reflektierte Sexualität. Sie wissen genau, was sie wollen und wie sie es wollen. Sie scheuen sich nicht, darüber zu sprechen. Und nutzen die Mittel, die ihnen dafür zur Verfügung stehen.
Es ist erstaunlich, wie schnell aufgeklärte, moderne und liberale Menschen beim Thema Sex in moralische Denkmuster verfallen. Oder lag es etwa daran, dass es um Sex zwischen Männern ging?
Die Schweiz steht erst am Anfang
Bei manchen Menschen lässt Lust das vernünftige Denken aussetzen. Sie lassen sich auf ungeschützten Sex ein, in Kenntnis aller Risiken. Prep ist die Möglichkeit, sich auf genau diese Situationen vorzubereiten. In einem Moment, in dem der Geist noch nicht von Geilheit berauscht ist.
Infektiologen, HIV-Aktivisten und Präventionsmediziner haben das Potenzial der blauen Pille erkannt. In England sollen demnächst für eine Studie 10’000 Patienten über drei Jahre mit Prep versorgt werden, auf Staatskosten. In Frankreich wird Prep bereits von der Krankenkasse übernommen.
In der Schweiz steht man noch ganz am Anfang. Über eine staatliche (Teil)-Finanzierung wird noch nicht einmal nachgedacht. Der Weg dorthin ist mit Hindernissen gepflastert. Die moralisch unterfütterte Diskussion über Sexualität ist vielleicht das grösste.