Wir sind Berlin, egal, ob wir aus Schwaben oder aus Syrien kommen

Nach dem Anschlag bei der Gedächtniskirche kommt erst das Mitgefühl und dann die Wut – auf Hetzer und Brandstifter und auf Politiker, die den Schrecken für ihre Zwecke instrumentalisieren.

BERLIN, GERMANY - FEBRUARY 13: A general outside view of the Kaiser Wilhelm Memorial Church during the 66th Berlinale International Film Festival Berlin on February 13, 2016 in Berlin, Germany. (Photo by Andreas Rentz/Getty Images)

(Bild: Getty Images/Andreas Rentz)

Nach dem Anschlag bei der Gedächtniskirche kommt erst das Mitgefühl und dann die Wut – auf Hetzer und Brandstifter und auf Politiker, die den Schrecken für ihre Zwecke instrumentalisieren.

Bist du in Berlin? Geht es dir gut? Bist du in Sicherheit? Am Montagabend erreichten mich Nachrichten aus aller Welt, aus Bayern, aus Mazedonien, auch aus Kambodscha. Die Sorge und Anteilnahme sind heute genauso global wie der Terror, der mir am Montag näher kam als jemals zuvor.

Als mein Handy auf Dauervibration schaltete, musste ich an meinen letzten Besuch auf dem Breitscheidplatz denken. Mein Freund Mateus zog der Liebe wegen vor vier Jahren von Brasilien nach Frankfurt am Main. Seine Frau Sara und er besuchten mich nun zum ersten Advent. Mateus wollte die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche sehen, weil er sie aus seinen Deutsch-Lehrbüchern kannte. Die Turmruine ist für ihn ein Mahnmal und ein Symbol für Berlin und für Deutschland.

Ich organisierte für die beiden eine kleine Tour durch die Berliner City West. Wir liefen die Route an der Kantstrasse entlang, die auch der LKW-Fahrer nahm, bevor er ein Dutzend Menschen ermordete. Auf dem Weihnachtsmarkt vor der Gedächtniskirche standen Leute aus aller Welt, tranken Glühwein gegen die Kälte, assen Marroni, stimmten sich langsam auf die Weihnachtszeit ein und wirkten glücklich im sonst so rauen Berlin. Mateus machte Fotos mit seiner Analogkamera und hakte die Gedächtniskirche auf seiner To-See-Liste für Deutschland ab.  

Danach gingen wir nach Hause, um in den folgenden Tagen unser Recht in Anspruch zu nehmen, Zeit mit unseren Liebsten zu verbringen. Dieses Recht wurde am Montag zwölf Menschen und ihren Angehörigen auf brutalste Art genommen. Viele Verletzte werden Weihnachten im Krankenhaus verbringen. Was wäre gewesen, wenn wir zur falschen Zeit dort gewesen wären?

Mitgefühl und Wut

Ich antwortete auf die vielen Nachrichten, dass es mir gut gehe, und aktivierte den Safe-Button auf Facebook. Ansonsten fehlen mir die Worte. Mir fällt nichts ein, was ich dazu sagen kann, ausser dass ich in Gedanken bei den Verletzten und den Angehörigen der Opfer bin. Und ja, ich bin wütend. Ich bin verdammt wütend auf diesen Verbrecher, der den LKW in die Menschenmenge fuhr.

Wütend bin ich aber auch auf Politiker, die versuchen den Anschlag für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Das Blut der Opfer war noch nicht trocken, als der AfD-Europaabgeordnete Marcus Pretzell in Anspielung auf die deutsche Flüchtlingspolitik twitterte: «Es sind Merkels Tote!»

Auch der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer äusserte sich, nachdem bekannt wurde, dass es sich bei dem Täter womöglich um einen Asylbewerber aus Pakistan handelt: «Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren.» 

Warum weiss Herr Seehofer eigentlich so genau, was wir den Betroffenen schulden? Hat er mit den Verletzten und den Hinterbliebenen der Opfer gesprochen? Oder versucht er einfach nur, seine Forderungen nach einer Obergrenze für Flüchtlinge zu bekräftigen? Inzwischen hat die Berliner Polizei den vorläufig festgenommenen Pakistaner wieder freigelassen, da kein Tatverdacht besteht.

Wütend bin ich auch auf die Hassprediger, die Muslimen in Deutschland erzählen, dass sie keinen Platz in unserer Gesellschaft hätten. Sollten sich die Gerüchte bewahrheiten, dass der Anschlag einen islamistischen Hintergrund hat, dann sind die Toten auch Opfer einer mörderischen Ideologie, die von New York über Paris bis nach Raqqa für den Tod Zehntausender verantwortlich ist. Die meisten Opfer sind Muslime.

Die islamistischen Extremisten wollen, dass Muslime im Westen unter Generalverdacht gestellt werden, um sie leichter für ihre menschenverachtende Ideologie zu rekrutieren. Sie wollen, dass wir Angst voreinander haben und unseren Nachbarn misstrauen. Ihre Helfer sind die Rechtspopulisten, die jeden Anschlag pietätlos nutzen, um gegen Flüchtlinge zu hetzen, die ihr Recht auf Sicherheit in Anspruch nehmen, indem sie in Europa Schutz suchen.

Aber Berlin ist eine weltoffene Stadt und wird nicht auf die Rattenfänger hereinfallen. Berlin wird weiterhin Menschen aus aller Welt mit Gastfreundschaft empfangen, egal, ob sie aus Schwaben oder aus Syrien kommen. Die Gedächtniskirche ist ein Mahnmal gegen den Krieg und den Nationalsozialismus, und das wird sie auch bleiben.

Berlin weiss, dass weder Angela Merkel noch die Flüchtlinge an dem Anschlag schuld sind. Schuld ist der Mann, der mit dem LKW unschuldige Menschen in den Tod fuhr. Schuld sind diejenigen, die zu solchen Taten anstiften. Wir dürfen vor diesen Verbrechern keine Angst haben und uns nicht spalten lassen, denn sonst haben sie gewonnen. Wir dürfen aber wütend sein und wir dürfen mit den Angehörigen der Opfer trauern. Wir sind Berlin.


Krsto Lazarević schreibt für die TagesWoche aus Osteuropa und lebt in Berlin. 

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