Bürgerwut oder Wutbürger?

Rechtsnationale Propagandisten schmähen Politiker als «Eliten» und die Medien als «Lügenpresse». Dabei helfen unreflektierte Journalisten den Wutbürgern bei der Verbreitung ihrer Hetze.

Frauke Petry ist das Gesicht der deutschen Bürgerwut. Brüder und Schwestern im Geiste hat sie auch in der Schweiz.

(Bild: Reuters)

Rechtsnationale Propagandisten schmähen Politiker als «Eliten» und die Medien als «Lügenpresse». Dabei helfen unreflektierte Journalisten den Wutbürgern bei der Verbreitung ihrer Hetze.

I
Rechtsnationalisten, Neofaschisten, Rechtspopulisten begründen seit einiger Zeit ihre Hass- und Hetzparolen als Ausdruck von Rettungsbereitschaft für das aufgeklärte, das moderne Europa. Das Fremde, namentlich «der Islam» bedrohe Europas Kultur und plane, Europäerinnen und Europäer zu entrechten. Die Flüchtlingsmassen würden «uns» überrollen. Deshalb müsse die Migration sofort gestoppt und müssten Asylanten ausgeschafft und «zurückgeschickt» werden.

Solcherlei wird bei jeder Gelegenheit, die sich – ob aus realen Gründen oder dank der eignen PR-Übertreibung – bietet, als einzig mögliche «Politik» der Gegenwart vorgetragen.

Nun:
Die gleichen Redner und Bewegungssprecherinnen, die sich als Retter des modernen Lebens in Europa, zu dem unter anderem die geschlechtliche Gleichberechtigung, die Gleichberechtigung der sexuellen Orientierungen, die Sozialstaaten existentiell gehören, machen kaum ein Geheimnis aus ihren Absichten, diese Lebensgrundlagen dann abzuschaffen, wenn sie die Macht dazu erhalten haben.

Ein Abendland ohne Aufklärung

Ihr «Abendland» nährt sich zwar aus allerhand Bezügen bis weit ins Mittelalter zurück, aber die europäische Bewegung der Aufklärung mit Begriffen wie Gewaltenteilung hat in ihrem Rechtsstaatsverständnis kaum Spuren hinterlassen. Sie predigen Homophobie, sie reklamieren ihre Vorstellung von der Frau am Herd als «normal», als «natürlich». Sie wollen «Recht» und «Richter» von einem «Volksmehr» abhängig machen – dies ersichtlich, um es dann in ihrer angestrebten oder erreichten Machtausübung für sich gefügig anwenden zu können.

Sie sind gegen die europäische Erfindung des Sozialstaates, wollen ihn am laufenden Band immer mehr einschränken und schliesslich «privatisieren», das heisst abschaffen. Wenn sie die Macht dazu haben, schränken sie die freie Meinungsäusserung sofort ein mit dem Ziel, Kritik an ihrer Machtausübung medial mehr oder weniger zu verunmöglichen, mindestens quasi auszuhungern – wie die Beispiele Ungarn und Polen eindrücklich zeigen.

«Rettung Europas»?

Die Wahlerfolge von rechtsnationalistischen Parteien überall in Europa sind unübersehbar.

Aber:
Mit Ausnahme von Ungarn und Polen besteht nirgendwo eine rechtsnationalistische Regierungsmehrheit, welche durch Wahlen zu Stande gekommen wäre. In Dänemark, in Norwegen, in Finnland oder zum Beispiel in der Schweiz sind rechtsnationalistische Parteien und Bewegungen allerdings an der Regierungsmacht entweder direkt oder durch «Duldung» beteiligt.

Nur: Weder in Dänemark, Finnland, Norwegen noch in der Schweiz besteht die «Notwendigkeit», Rechtsnationalisten in Regierungen aufzunehmen oder sich durch sie «tolerieren» lassen zu müssen.

Dass «bürgerliche» Politik – im Kompromiss natürlich – ohne solche Parteien geht, zeigt das Beispiel der Niederlande, wo die Erfahrungen mit der «Duldung» einer rechtsliberalen Minderheitsregierung durch die rechtspopulistisch-nationalistische «Partij voor de Vrijheid» wegen deren Erpressungsversuchen xenophoben Inhalts zu vorzeitigen Neuwahlen führten und nach langwierigen Verhandlungen zu einer Koalition zwischen Rechtsliberalen und Sozialdemokraten.

Wahlerfolge sind nicht das gleiche wie Wahlsiege.

In Polen hat es die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) dank einer ziemlich fragwürdigen Regelung über die Verteilung von Parlamentsmandaten in Proporzwahlen geschafft, mit 37 Prozent der Wählerstimmen eine absolute Mehrheit im Sejm (eine Kammer des polnischen Parlaments) zu erreichen. 37 Prozent sind keine «Wählermehrheit». Das einzige Land im demokratisch verfassten Europa, in dem die Rechtsnationalisten eine reale Wählermehrheit erhalten haben, ist Ungarn.

Wahlerfolge sind nicht das gleiche wie Wahlsiege. Ein Wahlsieg tritt dann ein, wenn eine oder mehrere Parteien zusammen ihr vorher kommuniziertes Ziel einer Regierungsbildung in Wahlen erreicht haben. Sie haben gesiegt. Nun hat die AfD bei den jüngsten drei Landtagswahlen in Deutschland 24,3 Prozent Wähleranteil in Sachsen-Anhalt, 15,1 Prozent in Baden-Württemberg und 12,6 Prozent in Rheinland Pfalz erhalten. Daraus wurde medial ein AfD-Wahlsieg gemacht.

Der «Spiegel» titelte in der Printausgabe Nr. 12 vom 19. März 2016:
«Aufstand der Wutbürger», und, ganz gross über einem grafisch sinnbildlich verwüsteten Porträt von Frau Merkel: «IHR DA OBEN BELÜGT UNS DOCH ALLE»

Auf vielen Textseiten wird die These vertreten, dass die AfD-Erfolge in erster Linie Ausdruck einer Entfremdung zwischen einem Teil des Volkes und der Bundeskanzlerin Merkel seien:
«Der Triumph der AfD ist nichts weniger als ein Aufstand gegen Angela Merkel.»
(Printausgabe SPIEGEL, Texttitel: «Das Zerwürfnis», S. 14)

Die Umfragemethoden des «Spiegel»

Ähnliches hört, sieht und liest man in den meisten deutschen Medien mit überregionaler Bedeutung. Nun ja, man hat da die Umfragen. Als Ergebnis teilen diese angeblich Eindeutiges mit: So seien beispielsweise 61 Prozent mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin Merkel unzufrieden.

37 Prozent der Befragten hätten sich diesbezüglich mit der Bundeskanzlerin sehr zufrieden oder zufrieden erklärt. Diese Antworten der Befragten kamen durch folgende Frage zu Stande:

«Wie zufrieden sind Sie mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel?»

Für die Bewertung dieses «Ergebnisses» aufschlussreicher wäre, wenn man wüsste, was den Befragten als Antwort abverlangt wurde. Hiessen die Antwortsangebote: Sehr zufrieden. Zufrieden. Unzufrieden.

Wenn das so gewesen wäre – die Angaben im Text lassen darauf schliessen – stellt sich die Frage, weshalb zwar im Bereich der Zufriedenheit eine Abstufung vorgeschlagen, im Bereich der Unzufriedenheit hingegen nicht. Warum gab es als Antwortmöglichkeit nicht die Zwischenstufe «eher unzufrieden» und «sehr unzufrieden»?

Weiteres «Wissen» über die Stimmung gegen Merkel wurde offenbar von der Beurteilung folgender Aussage durch die Befragten gesammelt:
«Ohnmacht. 57 Prozent der Befragten stimmen der Aussage zu: Die da oben in der Politik machen sowieso, was sie wollen, meine Meinung zählt da nicht. 41 Prozent stimmen nicht zu.»
(SPIEGEL Nr. 12, 19.3.2016, S. 17)

Sowohl im Covertitel als auch in der Frage nach der Bedeutung der eigenen Meinung in der Politik ist von «die da oben» die Rede. Rein ortsbestimmend ist «da» unrichtig. Wenn man von OBEN und UNTEN spricht, dann sind die gemeinten «Eliten» des Staates DORT oben, nicht DA oben. Diese Kleinigkeit weist meiner Ansicht nach auf die heisse Nadel hin, mit der in den deutschen Medien am «Abgang» der bis vor kurzem noch hochstilisierten Frau Merkel gestrickt wird.

Die grosse Mehrheit stützt Merkels Politik

Sprachliche Genauigkeit wird oberflächlichem Nachreden der Hetz- und Jammerreden aus der rechtsnationalistischen Ecke geopfert. Völlig übersehen wird dabei im konkreten Fall der jüngsten Landtagswahlen die Tatsache, dass beispielsweise in Rheinland-Pfalz die Unterstützerparteien für Merkels Positionen in der Flüchtlingspolitik über 85 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinigt haben. In Baden Württemberg waren es deutlich über 80 Prozent. Sogar im durchaus als Sonderfall zu verstehenden Sachsen-Anhalt haben diese Parteien und Gruppen gut 70 Prozent der Wählerstimmen erhalten.

Das ist weiter gar nicht so verwunderlich, denn Merkels Positionen sind immerhin auch die Positionen der CDU, der SPD, der Grünen und eines bedeutenden Teils der Linken, dagegen stellen sich die AfD und die CSU.

Bei den vorvergangenen Landtagswahlen gab es in allen drei Bundesländern die sogenannt «übrigen», in den Ergebnislisten also nicht namentlich aufgeführte Parteien, Gruppierungen usw., die – da deren Wahlergebnisse als Einzelparteien weit unter der 5-Prozent-Hürde lagen – meistens nicht namentlich ausgewiesen werden.

Darunter befanden sich immer die NPD, die Republikaner (in Baden-Württemberg), bibeltreue Christen, DVU usw., also rechtsextreme Politikgruppierungen. Die Prozentangaben schwankten dabei von 6 bis zu 9 oder 10 Prozent.

Nun hat sich eine Partei gebildet, die AfD, welche diese bisher verstreuten Wählergruppen für einmal unter einem Parteinamen mit einer rechtsnationalistisch, teilweise grob rassistisch ausgerichteten Wahlpropaganda eingesammelt hat.

Unter Berücksichtung dieser Umstände kann man eigentlich nicht im Ernst von einem «Aufstand gegen Angela Merkel» schreiben.

Statt Analyse zu betreiben, schreiben viele Journalisten mit dem Vehikel namens Übertreibung an einer «Stimmung» herum.

Aber man schreibt solcherlei.

Warum?

Die Frage, ob viele Journalistinnen und Journalisten von den Aufmärschen und der unanständigen Sprache rechtsextremer Gruppen derart fasziniert sind, dass sie die Realität etwas aus den Augen verloren haben könnten, ist berechtigt. Es ist – leider – offensichtlich, dass bei vielen Medienleuten jene Distanz verloren gegangen ist, welche notwendig wäre, um öffentliches Geschehen zu analysieren.

Statt Analyse wird dann mit dem Vehikel namens Übertreibung an einer «Stimmung» herumgeschrieben, welche mit der Realität in weiten Teilen der Gesellschaft nichts zu tun hat – sieht man von den Insiderkreisen innerhalb der Medienstrukturen und in Parteisekretariaten einmal ab. Und sieht man davon ab, dass die TV-Bilderproduzenten, die doch eigentlich wissen müssten, dass «Bilder» Machwerk sind und nicht «die» Realität, oft nicht mehr zwischen PR-Manipulationen und wirklicher Lage, wirklicher Situation unterscheiden können.

II
Die Vereinfachung von – übrigens oft vorübergehenden – gesellschaftlichen Problemsituationen auf «politische» Parolen mit Rezeptcharakter bringt erkennbar nie tragbare, lebensrealistische «Lösungen» für diese.

«Merkel muss weg» ist eine Parole, die sich leicht in TV-Kameras hineinschreien lässt.

«Wir sind das Volk», die Adaption eines Jahrhundertsatzes, lässt sich ebenfalls leicht für allerlei Rassistisches missbrauchen.

Was in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden sollte: Damit solche Parolen als «Volksstimmung» verallgemeinert daherkommen können, braucht es Medien.

Klar: Heute existieren dafür Socialbookseiten.

Nur:
Diese Socialbookseiten vermitteln politische wie gesellschaftliche Stimmungen erst einmal nicht unbedingt «allgemein zugänglich», sondern in Aufbauphasen der Organisation einer politischen Botschaft innerhalb relativ geschlossener Zirkel.

Für die Schaffung einer breiteren passiven, das heisst erst einmal bloss konsumierenden Öffentlichkeit, die heute für Rechtsnationalisten überall in Europa besteht, brauchte es nach wie vor vor allem die klassischen, das heisst die redaktionell arbeitenden Medien.

Die Wutdemonstrationen sind keine spontanen «Erhebungen». Vielmehr gehören ihre Inszenierungen zum Propagandaarsenal der Rechtsnationalisten.

Für die sich selber so nennenden «Wutbürger», denen wir in endlosen TV-Nachrichtenschlaufen oder, wenn wir danach suchen, auf Youtube begegnen, existiert – der Einfachheit halber als «Tat» und danach geschwind als «Fakt des Volkes» ausgegeben – ausschliesslich die inszenierte Inbesitznahme von Strassen und Plätzen in der «Heimat», auf denen sie dann die gerade angesagten Parolen in die immer anwesenden Kameras und Mikrofone aller möglichen Senderkorrespondenten hineinschreien.

Innerhalb der letzten zwei, drei Jahre haben sich im deutschen Sprachraum nebst der «Wir sind das Volk»-Parole vorrangig die «Lügenpresse», die «Eliten verarschen uns» oder «Wir lassen uns nicht mehr verarschen» sowie, im Fall der Schweiz durch die SVP-Propaganda eingesetzt «Landesverräter» in die Parolenschreihalsspitze vorgedrängt.

Natürlich sind diese Wutdemonstrationen keine spontanen «Erhebungen». Vielmehr gehören ihre Inszenierungen zum Propagandaarsenal der Rechtsnationalisten, der Rassisten, der Neofaschisten. Die überregional bekannt gewordenen Hetzereien gegen ankommende Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg in Freital bei Dresden und in Clausewitz im Erzgebirge lassen deutlich die Künstlichkeit und von Rechtsnationalisten geplante und eingeübte Inszenierung von angeblicher «Wut» erkennen.

Es fällt auf, dass ARD-, ZDF-, ORF- oder SRF-Fernsehkameras immer wieder die x-te Wiederholung der Verwünschung von angeblichen «Schmarotzern», die sich als Flüchtlinge auf «unsere Kosten» ein schönes Leben einrichten, auf «die da oben» oder auf den «Verrat der Eliten am Volk» detailliert aufnehmen und ausstrahlen.

Ergänzt werden diese TV-Dauerschlaufen eines angeblich allgegenwärtigen Wutpotentials in den abendlichen Talkrunden, wo dann die immer gleichen Meinungsträger im Namen der «Allgemeinheit» sich mit ihren längst bekannten Meinungsäusserungen fortgesetzt ins Wort fallen.
Die Gegenstimmen zu den «Wutbürgern» – Individuen, Gruppierungen, Unterstützer der Flüchtlinge, Willkommenskulturträgerinnen und -träger, wohl mehrere Millionen Bewohner allein in Deutschland, kommen in diesem Medienhype über die «Wut» kaum vor. Sie haben es sehr schwer, als das wahrgenommen zu werden, was sie wirklich sind: Differenzierend sprechende, kommunikativ argumentierende Menschen, welche in der Lage sind, etwas komplexere Zusammenhänge zu erkennen und darüber zu sprechen. Sie sprechen keineswegs «einstimmig», sie tragen keine «Einheitsmeinung» vor sich her.

Tempo Tempo TV

Natürlich sind Einheitsmeinungs-Parolenschreier TV-tauglicher als Menschen, welche unter Umständen einige Sätze brauchen, um ihre Ansichten, in sich oft halt keine «einfachen Wahrheiten» oder keine geschlossenen Dogmen, sondern abwägend vorgetragene Überlegungen abspielen, zu diskutieren.

TV-Bilder haben nie Zeit.

Sie müssen laufen und laufen.

Sobald sie an Geschwindigkeit verlieren, werden sie weggezappt. Das jedenfalls meinen sehr viele TV-Produzenten. Und danach verhalten sie sich, und gleichzeitig werden die Kommentare und Talks ihrer Bildschirmstars immer laufbildabhängiger.

Als Ergebnis entsteht dergestalt in vielen Fällen das Paradoxon, dass ein Begriff der schreienden Medienbeschimpfer, nämlich «Lügenpresse», sich tatsächlich, bezogen auf Nachrichteninhalte oder Kommentare dann, wenn man sich mit Fakten versieht, immer wieder als berechtigt erweist. Dies, weil Bildmanipulationen von den Bildverwaltern nicht als solche erkannt werden und man als Medienmitarbeiter aus Zeitmangel, aus Mangel an Recherchierfreiheit oder aus Mangel an Budgetmitteln für eine seriöse, also verantwortlich gehandhabte Recherche in der veröffentlichten Berichterstattung Lügengebilden Senderaum und Printseiten verschafft.

Und viele (nicht alle) Printmedienverleger folgen ihnen. Sie nehmen auf «Rat» von irgendwelchen «Beratern» aus «Investorenkreisen» an, dass niemand mehr genauer angelegte Analysen lesen wolle. Voreilig schaffen sie solche Seiten dann ab, entlassen die dafür gut ausgebildeten Mitarbeiter und wundern sich anschliessend, wenn die Leserinnen und Leser danach in noch viel grösserem Ausmass als vorher aus ihren Abonnementslisten «verschwinden».

III
Rassisten, Hetzer gegen «Ausländer», gegen «Muslime», gegen «Landesverräter in der Regierung», die sich in jeder Staatsbevölkerung in Europa und auch anderswo immer wieder aufplustern und behaupten, sie seien «das Volk», kann man sehr wohl mit gut begründeter Gegenrede öffentlich, also in der Öffentlichkeit innerhalb einer vielfältig zusammenlebenden Gesellschaft so begegnen, dass es den Völkischen nicht gelingt, die existierende Vielfalt zu zerstören.

Allerdings ist es notwendig, die Gegenrede tatsächlich zu halten.

Seit den Wahlen im Oktober 2015 sitzt der Gemeindeamman von Oberwil-Lieli im Kanton Aargau, Mitglied der SVP, im schweizerischen Nationalrat. Der Mann hat es im deutschen Sprachraum via ARD und anschliessender Videoverwertung auf Youtube zu einiger Bekanntheit gebracht, die ihm sicherlich auch geholfen hat, als Neuling in den Nationalrat einziehen zu können.

Gemeindeamman und SVP-Nationalrat Glarner lässt lieber mit Steuergeldern Gebäude abreissen als Asylbewerber aufzunehmen.

Als Gemeindeammann einer wie es heisst wohlhabenden Gemeinde hat Andreas Glarner laut seiner eigenen Darstellung in der ARD-Sendung eigenmächtig entschieden, dass Oberwil-Lieli wegen der Weigerung, sechs bis acht Asylbewerberpersonen, die auf Grund der Rechtslage von dieser Gemeinde hätten übernommen werden müssen, lieber die Zwangsabgabe der Gemeinde an den Kanton für die Aufnahmeverweigerung zahle. Und zwar nicht nur für 2015, sondern auch für 2016. Dies, trotzdem der Kanton diese Zwangsabgabe verzehnfacht hat, was die Gemeinde in diesem Jahr dann 290’000 Franken kosten würde.

Zudem hat Glarner ein leerstehendes Einfamilienhaus abreissen lassen, damit der Kanton nicht auf die Idee kommen könnte, in diesem Haus Asylbewerber einzuquartieren. Mit Steuergeldern, so Glarner im ARD-Morgenmagazinreport weiter, hat er auch einen alten Bauernhof mitsamt Stall und Umgebungsland gekauft, Haus und Stall abreissen lassen, so dass der Kanton auch in diesem Fall keine leere Gebäulichkeit in seiner Gemeinde finden würde, wo Asylbewerber hätten einquartiert werden können.

Mit der scheinbar kühlen Trockenheit eines geschäftstüchtigen Schweizers erklärte Glarner dem ARD-Reporter:
«Wir möchten zur Zeit keine Asylbewerber aufnehmen.»
Auf die Reporterfrage, was er Familien sagen würde, die es bis zur Grenze geschafft hätten und auf Aufnahme in der Schweiz hofften:
«Dass sie die Reise vergebens gemacht haben.»
Was die Flüchtlinge denn nun machen sollten, fragte der Reporter den Herrn Glarner.
«Umkehren.»
Nun fragte der Reporter Glarner nach den Gründen für seine Aussagen.
«Das sind potentielle Sozialhilfebezüger, die werden uns immer und ewig auf der Tasche liegen.»

In der Gemeinde Oberwil-Lieli hat sich in der Zwischenzeit Widerstand gegen die Machenschaften des Gemeindeammanns und Neunationalrats Glarner organisiert. Den Stand der Auseinandersetzung in der Gemeinde kann man hier erfahren.

Die SVP aber hat Glarner in ihre Leitungsgruppe aufgenommen und ihn zum Parteiverantwortlichen für die Dossiers «Asyl» und «Migration» berufen. Das ist selbstredend eine typische blochersche Provokation gegenüber der «classe politique», die er, ganz AfD- oder FPÖ-like mit «Eliten» oder mit «Diktatur des Bundesrates» betitelt.
Kaum hatte Glarner die Dossiers und damit auch die Sprachregulierungen über deren Inhalte übernommen, twitterte er:

Sollen die anderen, also jene nicht in der von der «Strategie» Blochers abhängigen SVP politisch Tätigen so tun, als sei es normales Politikgeschäft, was Glarner und andere verbal, aber auch mit bürokratischer Schlaumeierei (zum Beispiel eine Zwangsabgabe von 290’000 Franken ins Gemeindebudget aufnehmen und damit «Asylanten» von der Gemeinde fernhalten) und mit üblen Hetzparolen gegen die Anderen betreiben?

Fest steht: Das ist nicht normales Politikgeschäft.

Und zwar im konkreten Fall, weil ein Gemeindeammann bewusst eine Gesetzesvorschrift lächerlich macht. Die reiche Gemeinde kann sich eine Zwangsabgabe leisten. Diese Abgabe soll im Budget, das der Gemeindeversammlung vorgelegt und von ihr akzeptiert werden muss, erscheinen. So hat Glarner versucht, alle Bewohner der Gemeinde in eine kollektive Gesetzesverächtlichmachung zu zwingen. Das ist ihm vorerst misslungen.

Aber:
Es ist eine politische Ungeuerlichkeit.

Soll «man» mit solchen Politikern «zusammenarbeiten»? Vertrauen kann man ihnen jedenfalls nicht. Wer sich damit brüstet, als Amtsperson Gesetze, die exekutiv zu vollziehen sind, ausser Kraft zu setzen, weil man als reiche Gemeinde dafür genügend Steuergelder hat, um Zwangsabgaben bezahlen zu können, wird genau dieses Aushöhlen der Gleichheitsgarantie zu Gunsten einer privilegierten Klientel (in diesem Fall reiche Einwohner und bieder daherredende Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten denen Asylbewerber ein Dorn im Auge sind) im Staat aus allen seinen Politik- und Verwaltungsebenen immer wieder anwenden, wenn ihm nicht klare Grenzen gesetzt werden.

Medienleute müssen mit Leuten wie Glarner sprechen. Sie müssen aber darauf achten, nicht zu Handlangern der Rechtsnationalisten zu werden.

Noch einmal: Soll man sich mit solchen Politikern an einen Tisch setzen, um mit ihnen «Lösungen» zu diskutieren, deren Umsetzung sie dann postwendend aus «parteistrategischen Gründen» wieder behindern oder verhindern?

Das ist im Fall der SVP – oder beispielsweise in Österreich im Fall der FPÖ – am laufenden Band die Frage.

Meiner Ansicht nach fällt die Antwort für Medienleute ein wenig anders aus als für Politikerinnen und Politiker.

Medienleute müssen mit Leuten wie Glarner, oder mit den Parteiführungen von AfD und so weiter, müssen mit all den rechtsextremen Provokateuren und Hetzparolenverbreitern sprechen. Sie müssen aber darauf achten, nicht ungewollt oder fahrlässigerweise zu Handlangern der Rechtsnationalisten zu werden. Handlanger wird man auch dadurch, dass man die Vorsprecher der rechtsnationalistischen Provokationsdarstellung in jede Talkshow einlädt oder deren längst bekannten «Meinungen», die gewohnheitsgemäss aus Hetzparolen bestehen, zu jedem politischen oder gesellschaftlichen Ereignis einholt und verbreitet.

Vor allem muss endlich darauf geachtet werden, dass all die üblen Beschimpfungen der Anderen, all die Verleumdungen und Lügengeschichten, welche als solche meistens sofort erkennbar sind, mit unmittelbar gesprochener klarer und faktenbezogener Gegenrede zurückgewiesen werden. Immer wieder. Und immer wieder unmittelbar.

Anders sieht es meiner Ansicht nach in dieser Beziehung für Politikerinnen und Politiker ausserhalb rechtsnationalistischer Kaderparteien aus.

Es besteht keinerlei Verpflichtung, dass sich Politikerinnen und Politiker mit Leuten unterhalten oder in weitschweifige Diskussionen begeben, denen es ausschliesslich um die Zerstörung des rechtsstaatlichen Rahmens eines Staates geht, um danach Macht «ewig» handhaben zu können.

Entdeckt werden die Folgen stillschweigender Duldung menschenfeindlicher Parolen meistens zu spät.

Inzwischen besteht überall in Europa augenfällig die politische Notwendigkeit, die rechtsextremen Hetz- und Hassproduzenten klar zurückzuweisen. Und zwar immer, wenn von denen Attacken gegen den Rechtsstaat geritten werden. Man sollte sich nicht in irgendwelche «Zweckbündnisse» mit Rechtsnationalisten und Rassisten einlassen.

Solche Bündnisse führen zu stillschweigender Duldung menschenfeindlicher Parolen.

Entdeckt werden die Folgen solcher Duldung meistens zu spät. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts kennt einige Beispiele, wie aus Unachtsamkeit, aus Bequemlichkeit, vor allem aber auch aus Gründen ökonomischer oder sozialer Egoismen Bündnisse mit Zerstörern des Menschlichen eingegangen worden sind, aus denen heraus die Zerstörer wegen ihrer verbal und provokativ eingesetzten und antrainierten Gier auf das Totale innert kürzester Zeit mörderische Diktaturen errichteten.

Bürgerwut kann entstehen aus Enttäuschung über Zustände in der Politik. Ausdrücken kann sich solche Wut in Demonstrationen. Sie kann zu Abwahlen von Politikerinnen und Politikern, zu anderen Zusammensetzungen in Parlamenten oder in der «direkten Demokratie» vor allem in Referendumsabstimmungen zu Zurückweisungen von Regierungs- oder Parlamentsmehrheitsentscheidungen führen.

«Wutbürger», welche rassistisch oder sonstwie ideologisch begründet die «Vernichtung» von Menschen fordern und sich beispielsweise mit Brandsätzen oder mit körperlichen Angriffen auf «Ausländer» «Luft verschaffen», handeln kriminell.

Kriminelles Handeln gehört zur Beurteilung vor Gericht.

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