Das reale Volk hat manifestiert

Aller Kritik zum Trotz: Die drei Millionen Menschen, die nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» auf die Strasse gegangen sind, zeigen, wie es um die republikanischen Werte in Frankreich wirklich steht.

Demonstrators hold a banner reading " I am Charlie", during a demonstration at the Old Port of Marseille, southern France, Wednesday, Jan. 7, 2015, after a shooting at a French satirical newspaper in Paris. Three masked gunmen shouting "Allahu akbar!" stormed the Paris offices of a satirical newspaper, Charlie Hebdo, Wednesday, killing 12 people, including its editor, before escaping in a car. It was France's deadliest postwar terrorist attack. (AP Photo/Claude Paris) (Bild: CLAUDE PARIS)

Aller Kritik zum Trotz: Die drei Millionen Menschen, die nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» auf die Strasse gegangen sind, zeigen, wie es um die republikanischen Werte in Frankreich wirklich steht.

Weit mehr als eine Millionen Menschen haben am 11. Januar 2015 allein in Paris manifestiert. Das Wort «manifestieren» gefällt mir deswegen recht gut, weil es in sich den Hinweis auf einen Inhalt trägt, den sich die «Manifestanten» zu eigen machen. Manifestieren bedeutet so viel wie bekanntgeben, kundgeben, offenbaren. Heute wird im deutschen Sprachgebiet eher «demonstriert» als «manifestiert». Ich demonstriere im allgemeinen Sprachgebrauch für oder – meistens – gegen etwas. Ich manifestiere im allgemeinen Sprachgebrauch eher nur für etwas.

Die Manifestationen unter dem Titel «Je suis Charlie», aber auch – immer wieder zu sehen – unter dem Titel «Je suis Ahmed» oder «Je suis juif», deklarieren eine klare Botschaft: 

  • Das Recht auf Satire gehört zu den Grundrechten der westlichen Zivilisation.
  • Jeder Mensch, unabhängig von Herkunft, Aussehen, Sprache oder auch so etwas wie Religion, ist in westlichen Zivilisationen gleich an Rechten.

Um die französische Manifestation für die «Werte der Republik» – die da sind: Rechtsstaat (égalité), Solidarität (fraternité) und die Freiheit des Wortes, der Kulturen, der Religionen (liberté) – als Manifest des Volkes gegen Gewalt und Hetze zu verstehen, ist vielleicht ein Gedankenweg, der bei der Person des französischen Präsidenten beginnt und in der Realität der französischen Republik am 11. Januar 2015 angesiedelt ist, hilfreich.

Der präsente Präsident

Der französische Präsident François Hollande hat seinen Ruf vor allem in den Medien schon lange weg. Ihn als lächerliche, manchmal, eher selten allerdings, auch als tragische Figur hinzustellen, gehört auch in deutschen Breitengraden seit Langem – eigentlich, seitdem er ins Amt gewählt wurde – zum medialen Meinungsstandard.

Seine Liebesaffären wurden fleissig kolportiert, ganz so, als ob ein Mensch, der in der Politik tätig ist, kein privates Leben, keine Affäre, keine entspannende Beziehung ausserhalb protokollverseuchter Alltäglichkeit leben dürfte. Diesem Rigorismus gegen den halben «Trottel» im Präsidentenamt setzte die verlassene Lebensgefährtin mit ihrem schnell geschriebenen Buch über den aus ihren Augen Treulosen die Krone auf.

Offensichtlich besitzt Hollande aber eine stilsicher auftretende Unmittelbarkeit, die auf seinem «Niveau», also in Staatsführungen auf Präsidentenebene eben, ansonsten praktisch nicht mehr vorhanden ist – sieht man mal vom argentinischen Papst ab.

Kaum war der barbarische Akt auf die Redaktion des «Charlie Hebdo» bekannt geworden, ist Hollande vor Ort. Ganz schlicht und ohne grosse Begleitmannschaft vor Ort. Er bekundet damit seine Nähe zum Recht auf Satire nicht bloss mit einer «Fernsehansprache» oder mithilfe eines Regierungssprechers zuhanden der Medien. Er ist vor Ort.

Schlicht unvorstellbar ist es, dass ein US-Präsident nach einem derart aufwühlenden Terroranschlag vor Ort dieses Anschlages erscheint und sowohl mit den Polizisten als auch mit den Angehörigen der Ermordeten ohne aufgefahrene Panzer, ohne Heerscharen von Sicherheitsleuten sprechen würde. Bei vielen im Präsidentenrang weltweit ist solcherlei unvorstellbar. 

Hollande aber hat spontan, aber im Nachhinein gut erkennbar, sofort noch etwas ganz anderes gedacht: Es sind nicht «die Muslime»! Es ist das Werk von Terroristen, die den Islam missbrauchen, die alle Muslime in «Religions»-Geiselhaft für die Begründung ihrer Ermordung von Menschen nehmen. 

Die Regierung und die französische Bevölkerung sind nicht in die Falle der Rechtspopulisten getreten.

Hollande, die französische Regierung und, wie sich am 11. Januar 2015 gezeigt hat, die französische Bevölkerung sind nicht in die Falle der Rechtspopulisten getreten. Indem Hollande die Regierungschefs der Welt dazu aufrief, zusammen mit ihm die Manifestation für die Freiheit des Wortes und die «republikanischen Werte» zu gestalten, hat er einen jeglicher Missdeutung entzogenen Appell in den Mittelpunkt gesetzt:

  • Für Toleranz. Für Vielfarbigkeit. Für Heterogenität. Für globale Manifestation gegen terroristische Gewalt!
  • Gegen national chauvinistisches und xenophobes Hetzen.

Wenn man irgendwo einmal mit einem gewissen Recht «das Volk» nennen kann, welches sich äussert, dann hier, am zweiten Januarwochenende in ganz Frankreich. Das französische Volk hat im Sinne der Republik und der republikanischen Werte manifestiert, zu Millionen. 

Jene, welche sich als Stimme des «Volks» sehen, waren nicht beim Volk, sondern, nicht einmal ganz unter sich, ein paar Hundert, in Beaucaire – so wie die Pegida nach wie vor mehr oder weniger unter sich in Dresden auftritt (Quelle).  

Der Front National wird profitieren, aber…

Natürlich wird der Front National ein wenig «profitieren», etwa in Umfragen, die aufgrund von unbedarfter Frageeindimensionalität immer wieder «gewünschte», das heisst auf Vorurteilen beruhende «Mehrheitsmeinungen» herausfinden.

Genau so wie die AfD in Deutschland ein paar solche Stimmen gewinnen wird. Natürlich fühlen sich jene, welche sich als Islamexperten ausgeben, weil sie angeblich den ganzen Koran, aber nie die «ganze Bibel» gelesen haben, im Aufwind der öffentlichen Meinung. Aber eigentlich ist dieser «Aufwind» bloss in diesen Rechtspoulistenréduits selber zu spüren. Er bläst nicht durch Europa. 

Vielmehr fühlen sich bekannte Rechtspopulisten wie Viktor Orban aus Ungarn, Benjamin Nethanjahu aus Israel, Rechtsbrecher auf afrikanischen Präsidentenstühlen oder die Financiers des sich selbst islamistisch nennenden Verbrechens gegen die Menschheit gezwungen, an der Manifestation des französischen Volkes für die republikanischen Werte teilnehmen zu müssen. 

Eine solche Manifestation habe ich in meinem Leben noch nie erlebt – auch nicht um 1989 herum.

Das ist das eigentliche, das starke Zeichen: 

Im Vordergrund steht erst einmal aus gegebenem Anlass die Idee der realen Medienfreiheit, dann aber unübersehbar in Paris, in Lyon, in Marseille, in Rennes und in vielen Kleinstädten und Dörfern die Idee der realen Gleichberechtigung aller Menschen im Land, in dem sie die Bevölkerung bilden. 

Eine solche Manifestation habe ich in meinem Leben noch nie erlebt – auch nicht um 1989 herum. 

Natürlich geht all das, was Hass und Hasspredigt erzeugt, weiter. Natürlich schaukeln sich ein Faschismus, genährt aus Koransuren, die falsch oder einseitig interpretiert das Gerüst für Mord, Krieg, und Menschenverachtung abgeben, und ein Faschismus, der den Rassismus zur Richtschnur seiner «Bevölkerungspolitik» macht und Menschen erster, zweiter und dritter «Qualität» schafft, gegenseitig hoch.

Ein Hinweis für Naserümpfer

Zu erkennen ist aber, dass diese beiden Faschismen sich nicht nur gegenseitig hochschaukeln, sondern mit derselben Gewaltbereitschaft gegen «Andere», vor allem gegen Unbeteiligte, auftreten. Nicht vergessen werden sollte, dass in Deutschland ein rechtsnationalistisch-nationalsozialistisches Trio (mit viel Unterstützung) während einiger Jahre immer wieder Migranten ermordet hat, ohne dass «man» trotz massiver Beamtentätigkeit in allerlei Verfassungsschutzämtern auf die Idee kam, den rechtpopulistischen Hintergrund etwa eines «thüringischen Heimatschutzes» und dergleichen mehr unter die Lupe zu nehmen. 

Auf der anderen Seite finde ich es ziemlich unangebracht, die Manifestation des französischen Volkes vom ersten Januarwochenende 2015 deshalb, weil daran Leute wie Orban und Co. teilgenommen haben, kleinzureden. Da sind – leider – wieder sofort viele Haarsucher in einer von grossem Engagement geprägten Manifestationssuppe unterwegs. 

Diesen Haarsuchern ins Stammbuch: 

Menschenrechte, Gleichberechtigung aller in einem Land, Freiheit des Wortes, der Kunst, der Religionen geht nicht ohne Emotion. Emotion für Menschenrechte, für Gleichberechtigung aller in einem Land, für die Freiheit des Wortes, der Kunst, der Religionen.

Naserümpfende Besserwisserei auf Twitter, in Facebookbotschaften oder in allerlei Blogs und Foren über das, was Hollande, was Merkel, was weit über drei Millionen Bewohner Frankreichs am 11. Januar 2015 ausgedrückt haben, ist billig und zeugt in den allermeisten Fällen vor allem von rechthaberischem Kleingeist.

Dabei gilt hier das, was sonst kaum je wirklich nachzuweisen ist: Das reale Volk hat manifestiert.

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