«Die Burka» – ein zentraler Kampfbegriff des europäischen Rechtspopulismus

Die Diskussion um das «Stoffgefängnis» füllt die Zeitungsspalten. Doch die Verbotsprediger sind dieselben, die stets gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter antraten.

2016 Rio Olympics - Fencing - Victory Ceremony - Women's Sabre Team Victory Ceremony - Carioca Arena 3 - Rio de Janeiro, Brazil - 13/08/2016. Ibtihaj Muhammad (USA) of USA celebrates winning the bronze medal. REUTERS/Toru Hanai FOR EDITORIAL USE ONLY. NOT FOR SALE FOR MARKETING OR ADVERTISING CAMPAIGNS.

(Bild: Reuters)

Die Diskussion um das «Stoffgefängnis» füllt die Zeitungsspalten. Doch die Verbotsprediger sind dieselben, die stets gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter antraten.

Als ob es in diesem Sommer keine grösseren Probleme gäbe: In Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich und anderswo spielt die sogenannte «Burka» im öffentlichen Politikalltagsgerede bis hinein ins Leitartikelwesen der führenden Printmedien die erste Geige.

Postuliert wird das Bekenntnis zum «offenen Gesicht», weil dies einer «unserer Werte» sei, also einer des christlichen Europa oder einer des Abendlandes, wahlweise des Westens oder, besonders beliebt, einer, der die Befreiung der Frau vor der Unterdrückung durch den muslimischen Mann markiere.

Die Burka und der Nikab seien Stoffgefängnisse, wird weiter ausgeholt. Gefängnisse, in die Frauen, genauer: «die» Frau durch Männer eingesperrt würden. Den Männern, welche ihre Frauen in Nikab oder Burka und dazu auch noch unter den Tschador zwingen, gehe es darum, die Bewegungsfreiheit der Frau in der Öffentlichkeit zu unterbinden, sie ans Haus zu fesseln. Und dies im Namen einer Religion, nämlich des Islam, welche «die» Frau als Objekt des Mannes definiere.

Und so treten nun Politiker ins sommerliche Medientief und helfen dank ihrer lautstark vorgetragenen Empörung über die geknechteten Burka-Trägerinnen mit, Einschaltquoten und Printauflagen wenigstens ansatzweise zu stabilisieren. Auffallend ist: Es sind vor allem männliche Politiker, welche bezüglich des «Stoffgefängnisses» die mediale Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchen.

Die meisten Frauen, die in der Schweiz eine Burka tragen, sind Touristinnen, die in Luxusgeschäften anzutreffen sind.

Die Stilisierung der Burka oder des Nikab als quasi öffentlich herumlaufendes Symbol der Unfreiheit «der» Frau ist, bezogen auf die Lebensrealität und damit auch die Bekleidungsrealität in Europa, in den USA, Kanada usw. eine massive Übertreibung. Ein Burkaverbot würde im Westen alltäglich weder irgendeine unterdrückte muslimische Frau noch irgendeine nichtmuslimische Frau schützen vor der wieder einmal geschwind postulierten männlichen Allmacht, welche «der» Muslim, also der muslimische Mann, angeblich global durchsetzen wolle.

Der Grund für das Unnütze eines Burkaverbots in der Schweiz oder anderswo in Europa liegt unter anderem darin, dass das Burkatragen in der Öffentlichkeit im Westen kaum, in Deutschland beispielsweise praktisch überhaupt nicht existiert.

Die meisten Frauen, welche in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich oder auch in Spanien (wo ein Gesetz das Tragen der Burka in der Öffentlichkeit seit 2010 an sich verbietet, abgesehen von tolerierten Ausnahmen) eine Burka tragen, sind Touristinnen – welche bezeichnenderweise sehr häufig keineswegs in Hinterhöfen oder Migrations- oder gar Armenvierteln anzutreffen sind, sondern in den Luxusgeschäften der europäisch-nordamerikanischen Markengötterwelt. Mit den Kreditkarten ohne Begrenzung versehen symbolisieren solche Burkaerscheinungen – in Europa sind es praktisch ausschliesslich Nikabträgerinnen – alles mögliche.

Auf die Annahme, sie befänden sich in einem Gefängnis, kommt man als Beobachter spontan allerdings ehrlicherweise kaum. Es sei denn, man versteht das Konsumieren durch Frauen, welche im «Anhang» reicher Männer durch die Metropolen ziehen und deren Geldbesitz demonstrieren, als Aufenthalt in einem Luxusgefängnis. Zu einem solchen Urteil kann man angesichts vieler Frauen in diesem Partikel der öffentlichen wie auch der medial publizierten Bedeutungsdemonstration durchaus kommen. Nur: Das trifft natürlich nicht nur Burkaträgerinnen, sondern ganz allgemein zahlreiche auf Vorzeigeeffekte getrimmte Frauen «bedeutender» oder reicher Männer.

Der Missbrauch der Frau Trump

Zur Zeit erlebt man dieses oft bis zum erkennbaren Missbrauch einer weiblichen Person als ein zur Puppe hergerichtetes Vorzeigemodell etwa in der Ehefrau des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Trump: Sie hat auf Befehl ihres Mannes oder auch auf Befehl der «Mannschaft» des Kandidaten immer dann als Werbefigur dazustehen, wenn diese es für notwendig erachten. Geglättet, schweigend im Normalfall oder dann Lobhudeleien auf ihren Besitzer und Ehemann vom Teleprompter ablesend, kurz: Erkennbar als automatisierter und auf Mediengeilheitsbefriedigung abgerichteter Teil eines Veranstaltungsablaufszenarios, als entpersönlichtes Schmuckstück, als weibliches Alien, welches der Verherrlichung des Ehemannes zu dienen hat.

Die Burkadiskussion hat in der Zwischenzeit den Charakter einer medial orchestrierten Zwangsliturgie zu Gunsten der «Befreiung der Frau» angenommen, die meiner Ansicht nach bloss eine billige Vorgabe darstellt von Handlung, die man überhaupt nicht anwenden kann – weil das Objekt respektive die Trägerin der Anwendung im Anwendungsbereich gar nicht vorhanden ist.

Die Frage, was mit einem «Verbot der Burka» gewonnen würde, stellt sich den Verbotsstrategen nicht.

Ich schreibe bewusst «Objekt». Es ist auffallend, dass die Burkaverbots-Forderungskaskade dieses Sommers die wenigen burkatragenden Frauen in Europa nicht zu Wort kommen lässt. Es wird vielmehr einfach festgestellt, dass die Religion, also der Islam, Frauen gegenüber gewalttätig und unterdrückend sei. Ob solcherlei stimmt, spielt keine Rolle. Im Gegenteil: Jeglicher Ansatz einer Differenzierung, sowohl was die Auslegung von Koransuren zum Thema als auch ganz persönliche Entscheidungen von Frauen für oder gegen Tschador, Nikab usw. betrifft, wird mit autoritär vorgetragener Diskussionsverweigerung verunmöglicht ( in jüngster Zeit beispielsweise die CDU-Innenminister in Deutschland oder der Zürcher SP-Regierungsrat Fehr in der Schweiz).

Die Frage, was mit einem «Verbot der Burka» gewonnen würde, stellt sich den Verbotsstrategen offensichtlich nicht. Es geht ihnen gut erkennbar vor allem darum, dem von ihnen auf wenige Merkmale reduzierten Islam eins auszuwischen und den
«Rechtspopulisten» Wind aus ihren antiislamisch aufgeblähten Segeln zu nehmen.

Was kann man dazu sagen? Wie kann man sich ins Bild über Kleidergewohnheiten, welche durchaus auch in einem Zusammenhang mit einer Religion stehen können, auseinandersetzen und danach vernünftige Entscheidungen für das Zusammenleben in vielgestaltigen, immer heterogen zusammengesetzten Gesellschaften, also allen westeuropäischen, treffen?

I.
«Die Burka» ist seit Jahren einer der zentralen Kampfbegriffe des europäischen Rechtspopulismus. Wie solchen Begriffen oft eigen, ist dabei für ihren alltäglichen Propagandagebrauch unwichtig, was zu seiner Definition gehört, also, was er bezeichnet. Die Reduzierung auf die Burka von «all dem», was man über den Islam und die Frauen zu wissen vorgibt, spart nicht nur Differenzierungen aus, sondern lässt jegliche genauere Beschäftigung mit Fragen der Gleichberechtigung und der Einhaltung der Menschenrechte, beispielsweise im Verkehr mit Regimes wie jenen in Katar oder in Saudi-Arabien, als Ausrede von «Gutmenschen» oder dergleichen mehr erscheinen.

Man erklärt der Einfachheit halber: Seht dorthin, die Frauen müssen sich in Stoffgefängnissen bewegen. Sie sind unterdrückt. Und das verbieten wir bei uns. Denn wir haben die Werte, die wir haben. Der Islam versucht, diese Werte zu unterlaufen.

Fakt ist allerdings:
Eine Burka, für deren Tragen in der Öffentlichkeit zahlreiche Politiker und medial operierende Meinungsmacher in einigen Staaten in Europa ein Verbot fordern, ist nicht einfach ein Kleiderdiktat religiöser oder paternalistisch begründeter Unterdrückung «der» Frau. Es existieren weltweit sehr viele weibliche Ganzkörper-Bekleidungssgewohnheiten, ausdrücklich festgehalten sei: ausserhalb des Islam. Beispiele: Indien, Indonesien, Polynesien, die Andenregion in Südamerika, Nomadenvölker in der Mongolei, Tibeterinnen und so weiter. Ohne grosse Anstrengung liegt die Feststellung nahe, dass männliche wie weibliche Bekleidung oft etwas mit den äusseren, klimatischen Bedingungen oder mit dem Leben in Höhenlagen zu tun hat.

Von aussen betrachtet ist die Burka eine Ganzkörperbekleidung mit einem durch Fadenstränge vergitterten Ausguckfenster, welche von Frauen in der muslimischen Welt praktisch ausschliesslich in gewissen Gebieten Afghanistans und Pakistans getragen wird. Auffallend ist auch die Farbe der Burka: Keineswegs schwarz, sondern bei Frauen aus vermögenden Schichten in Blautönen gehalten, bei anderen in Stoffen und deren Farben, welche zur Verfügung stehen.

Zur Verdeutlichung eine Bemerkung eines in diesen Zivilisationsbereichen erfahrenen deutschen Politikers in einem Interview: «Omid Nouripour: Klar ist, dass eine Vollverschleierung kein Ausdruck ausgeprägten Integrationswillens ist. Ich bin aber gespannt, wie die Union-Innenminister ein Verbot rechtlich stricken wollen. Aber jenseits davon müssen wir in die Köpfe dieser Menschen rein und dürfen nicht symbolisch auf ihre Köpfe schauen. Außerdem habe ich außerhalb Afghanistans noch nie eine Frau mit einer Burka gesehen.»

Der Tschador hat keineswegs religiöse Hintergründe. Vielmehr bietet er Schutz vor Staub und vor intensiver Sonnenbestrahlung.

Wenn man in Europa ganzverschleierten Frauen begegnet, sind es praktisch ausnahmslos solche, welche einen Nikab tragen. Dabei handelt es sich um eine Kopfverschleierung, welche bloss einen Sehschlitz kennt. Getragen wird der Nikab meistens zu einem Tschador. Der Tschador hat keineswegs religiöse Hintergründe. Vielmehr war – und ist – er ein Kleidungsstück etwa der berberischen Nomaden. Er bietet Schutz vor Staub und vor intensiver Sonnenbestrahlung.

Der Nikab wiederum ist wohl ebenfalls nicht aus religiösen Gründen eines angeblich im Koran ausgeführten Verschleierungszwangs entstanden, sondern für Männer und Frauen aus ganz praktischen Gründen, nämlich dem bereits genannten Schutz vor in der direkten Umwelt vorhandenen Gefahren durch Bestrahlung und Staub. Wer je einmal in Wüstengegenden war, weiss, wie wichtig Kopfbedeckungen, und zwar umfängliche Kopfbedeckungen, sein können. (Wenn man will, kann man solcherlei Bedeckungskleidungsstücke bei den Kolonialherren genau so sehen wie bei den – filmisch überlieferten – Helden der Verständigung des Westens mit der arabischen Welt, etwa bei Lawrence von Arabien).

Ich kenne den Koran nicht, abgesehen von ganz wenigen Suren, deren zeitgebundene Aussagen mir allerdings nicht geläufig sind, weil ich die Geschichte ihrer Entstehung nicht kenne. Ich spreche oder lese nicht arabisch, was mit Sicherheit eine Voraussetzung darstellt, damit ich inhaltlich, sowohl theologisch als auch historisch und etymologisch aus eigener Kenntnis sachgerecht über «den» Koran oder über einzelne Äusserungen darin ein redlich begründetes Urteil vornehmen könnte. Diese beiden Einschränkungen treffen wohl auf die meisten zu, welche sich am westeuropäischen Burkaverbotsdiskurs beteiligen.

Zur Zeit Mohammeds waren die Kleider arabischer Frauen so weit ausgeschnitten, dass ihre Brüste zu sehen waren.

Wenn ich mich über bestimmte, hier konkret Frauen betreffende Koraninhalte informieren möchte, brauche ich Hilfe. Für diesen Text habe ich sie in einer katholischen Redaktion gefunden, dem «Domradio» des Erzbistums Köln. Gewählt habe ich diese Quelle, weil ich deren Darstellung lesbar finde. Gewählt habe ich sie auch, weil sie eine Art «Religionsverhaltens-Quelle» darstellt, also auf der Erfahrung beruht, wie schwierig es sein kann, Bibel- oder eben Korantexte in einen Geschichtsprozess einzuordnen und deren wörtliche Umsetzung in zeitgebundene Veränderungsstrukturen aufzunehmen – oder auch zu überwinden. Die Domradio-Redaktion beantwortet die Frage, welche Kleidervorschriften für Frauen im Koran vorhanden seien, wie folgt:

In Sure 24, Vers 31 ergeht die Aufforderung, dass Frauen «ihren Schleier (Chimar) über ihren Busen ziehen» sollen. Zur Zeit Mohammeds waren die Kleider arabischer Frauen so weit ausgeschnitten, dass ihre Brüste zu sehen waren. Der Vers propagiert keine Pflicht zur Verschleierung des Gesichts. Die Verhüllung des Busens in der Öffentlichkeit ist überdies auch nach westlicher Kleidersitte selbstverständlich. Mancher übersetzt Chimar im Übrigen nicht mit «Schleier», sondern mit «Schal».

Sure 33, Vers 53 bestimmt, dass die männlichen Gäste Mohammeds nur getrennt durch einen Hidschab, einen Vorhang, zu den Frauen des Propheten sprechen dürfen. Die Vorschrift, die womöglich nur Mohammeds Wunsch nach Privatsphäre für seine Gattinnen betraf, deuteten viele Koranexegeten später als Befehl für eine strikte Geschlechtertrennung und Isolierung der Frau. Heute bezeichnet der arabische Begriff Hidschab alles, was Blicke fernhält, besonders weite Kleidung zur Verdeckung weiblicher Körper.

Sure 33, Vers 59 fordert gläubige Frauen auf, «dass sie etwas von ihrem Gewand über sich ziehen. So ist gewährleistet, dass sie (als anständige Frauen) erkannt und nicht belästigt werden». Im arabischen Original ist nicht explizit von der Bedeckung des Kopfes die Rede.

Natürlich sind solche Sätze interpretierbar. Man kann aus ihnen machen, was gerade herrschenden Familienclans, Priesterschaftsbünden oder Machtkämpfen dient.

Zur Erinnerung und zu Gunsten einer etwas breiter aufgestellten Wahrnehmung von religiösen oder auch politischen oder rechtlichen Zeitgebundenheiten schreibe ich an dieser Stelle das Folgende:

Das Christentum in all seinen Kirchen und sektiererischen Organisationen ist voll von menschenfeindlichen Interpretationen der «heiligen Schriften», und zwar nicht bloss im Mittelalter, sondern bis heute – wenn ich da zum Beispiel an die Rolle der katholischen Kirche im franquistischen Spanien oder im Chile von Pinochet, in der wüsten Diktatur des katholischen Marcos-Clans auf den Philippinen bis weit in die Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts oder an die verheerende Rolle – bezogen auf Aufklärung und Prävention für Hunderttausende Menschen in Uganda, Kenia oder Sambia und anderswo im südlichen Afrika –, welche der Vatikan im Kampf gegen AIDS mit seiner weit im Sektiererischen angesiedelten Kondomverurteilung jahrzehntelang ausübte.

Mit Feuereifer gegen das neue Familienrecht

Von Frauengleichstellung kann innerhalb derselben Kirche nun wirklich nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Die Frau, also der weibliche Teil der Menschheit, ist vom Priestertum ausgeschlossen. Warum? Auch wegen der von Dogmatikern beherrschten Interpretation und «Wortauslegung» der Römer-, der Korinther- oder der Ephesusbriefe des Apostels Paulus und deren Verankerung in angeblich unveränderbaren Glaubensdogmen.

Trotz dieser historisch bedingten «Theologie» und der darin gepflegten Dogmatik bewegt sich in der katholischen Kirche von heute vieles in Richtung jener Gleichberechtigung der Frau hin, welche in den säkularen europäischen und nordamerikanischen Rechtsstaaten schrittweise seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eingesetzt hat.

Die Rechtssituation einer wirklichen Gleichberechtigung innerhalb einer Ehe beispielsweise ist in zahlreichen Staaten in Europa erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erreicht worden. In diesem Zusammenhang kann man darauf hinweisen, dass einer wie Blocher mit Feuereifer gegen das neue Familienrecht angetreten war. Und zwar inhaltlich wegen der dort neu auf volle Gleichberechtigung positionierten Stellung der Frau mit dem Mann im Rechtsbündnis der Ehe. Aber solches vergisst vor allem das TV-Mediengedächtnis all zu bereitwillig, weil dieser Blocher doch so tolle Einschaltquoten garantiert und seine Jünger nun mit ihrer Burkaverbotsinitiative wieder einmal die «Volksseele» kitzeln dürfen, was wiederum die Einschaltquoten …

II.
Als ich im April 1951 in Walchwil am Zugersee als Erstklässler schulpflichtig wurde, begegnete ich, im Dorf wegen Zuwanderung und wegen der Tatsache, kein Bauernkind zu sein, nicht gerade verankert, voller Interesse (daran kann ich mich gut erinnern) meiner ersten Lehrperson. Es war eine Nonne, eine Menzinger Lehrschwester. Sie hiess Schwester Luzilla. Genauer hiess sie, glaube ich, Schwester Maria Luzilla. Wie sie eigentlich geheissen hat, habe ich nie erfahren. Lehrschwestern besassen weder einen Nachnamen noch einen Taufnamen, sondern bloss einen sogenannten «Professnamen». Eine Menzinger Lehrschwester besass keine Biografie, keine «Jugend», sie war nur eines: Nonne, Lehrschwester, lehrend tätig im Dienst des Ordens.

Vom Körper meiner Lehrerin sah ich gar nichts. Sie trug einen bodenlangen schwarzen Rock, der in den Ärmeln am Handgelenk endete. Über dem Rock schwebte ein Stoffungetüm, eine Art Mantel, der jegliche Andeutung irgend einer Körperform verhinderte. Der Hals steckt in einer gesteiften Halskrause, welche auf der Gesichtsseite bis unter den Mund reichte. Über dem Kopf sass eine ebenfalls gesteifte Haube, deren Verlängerung nach unten knapp über den Augenbrauen endete.

Schwester Luzilla bestand für mich als Individuum erkennbar bloss aus der Gesichtspartie zwischen der unteren Lippe bis über die Augenbrauen. Ohren sah ich keine, die waren genau so abgedeckt wir sonst alles, ausser dem genannten Gesichtsausschnitt und den Händen. Die Lehrschwester erschien immer, Jahreszeit oder irgendwelche andere Umstände hin oder her, als schwarz eingekleidete Autorität ohne erfassbaren Körper.

Verschleiert in Schule und Spital

Das Primarschul – und auf der Sekundarstufe das Mädchenschulwesen – in den katholischen Kantonen der Schweiz war bis etwa Ende der Fünfzigerjahre vielerorts ein exklusives Betätigungsrayon von Frauen der Menzinger-, der Ingenbohler –, der Baldegger- und der Heiligkreuz-Schwesternkongregationen.

Dasselbe galt für die Spitäler: Das Pflegepersonal der meisten Landspitäler, aber auch von grossen Kantonsspitälern nicht nur in der katholischen Schweiz bestand aus Nonnen. Auch diese waren genau so eingekleidet wir die Lehrschwestern – häufig allerdings nicht mit schwarzer, sondern mit weisser Tuchfarbe.

Irgendwann während der Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts veränderte sich das Lehrerinnenbild auch in den katholischen Kantonen der Schweiz. Die Gründe dafür sind natürlich vielfältig. Ein Grund dürfte in der Bevölkerungsexplosion seit Beginn der Sechzigerjahre auch oder gerade in innerschweizerischen, katholisch geprägten Kantonen (Zug, Schwyz, Luzern) gelegen haben: Es gab einfach nicht mehr genug Lehrschwestern, welche den Bedarf deckten.

Ein anderer Grund dürfte darin gelegen haben, dass katholische Lehrerinnenseminare (in Menzingen, in Ingenbohl, in Baldegg) viele junge Frauen, die nicht Ordensmitglied werden wollten, für den Primarlehrerinnenberuf auszubilden begonnen hatten. Und: Der Nachwuchs an Nonnen blieb stecken und nahm am laufenden Band ab. Das Leben als «zölibatäre» Frau verlor offensichtlich innert relativ kurzer Zeit massiv an Anziehungskraft.

Irgendwann gab es keine Lehrschwestern mehr

Diese Entwicklung beruhte nicht auf einem Plan. Sie beruhte auch nicht auf einer politisch geführten Diskussion. Es gab, abgesehen von ein paar besonders eifrigen Zwinglianern in ein paar Pfarrhäusern weit draussen im Land keine Instanz, welche erklärte, Lehrschwestern sei ihre Nonnentracht zu verbieten, weil sie darin ihr Gesicht nicht vollständig zeigen würden.

Irgendwann gab es keine Lehrschwestern mehr.

Das Lehrschwesterntum ist, ähnlich wie die einst sehr hochgeschaukelte Frage der angeblich das Weibliche, das Hausfrauliche, das «Praktische» zerstörende «Koedukation» – also gemischtgeschlechtliche Klassen auf allen Volksschulstufen – nicht einmal mehr als Erinnerung allgemein präsent.

Kaum war die zuletzt genannte Frage weg, tauchte sie unter quasi umgekehrter Dogmatik wieder auf, indem vor allem die Feministinnen der Siebziger- und Achtzigerjahre «die» Mädchen gerne wieder separiert unterrichtet hätten, damit sie ihre Geschlechterrolle nicht männlichen Vorstellungen unterordnend entwicklen müssten, sondern von richtig erziehenden Frauen in das Frauentum geführt würden. Bekanntlicherweise ist auch diese Diskussion, wohl mangels Durchsetzungskraft, verschwunden.

Kleidervorschriften verschwinden meist aus ganz und gar praktischen Gründen.

Im Bereich der Kleidervorschriften existiert allerdings eine von zahlreichen Verboten, aber auch deren Auflösung beherrschte Geschichte der neueren Zeit. Diese Geschichte besteht auch nicht bloss aus Bekleidungsvorschriften und deren Anschaffung für Frauen, sondern auch für Männer.

In meiner Kindheit durften Mädchen nicht in Hosen auftreten, auch nicht beim Turnen. In vielen Kantonen der Schweiz herrschte jahrelang ein stiller Kampf von Schulbehörden gegen die so genannte «Röhrlihose», also die heute allgegenwärtige Jeans. Auch daran kann man sich in meinem Alter erinnern. Genau so wie an die Vorschrift, dass Mädchen eine «Scheube», einen «Schurz» zu tragen hatten. Solcherlei galt in weiten Teilen des Kantons Zürich bis weit in die Sechzigerjahre hinein.

Verschwunden sind solche Verbote und Regulierungen meistens aus ganz und gar praktischen Lebensgründen. Dadurch, dass Frauen auch als Arbeitskräfte in der Wirtschaft akzeptiert worden sind, dies vielerorts auch selber durchgesetzt haben, sie genau so selbstverständlich Berufslehren und Studien absolvieren wie Männer, erfahren sie auch gleiche Grundlagen dieses Alltagslebens.

Evolutionäre Prozesse

Gleich bedeutet hier: Es ist nicht mehr nur «der Mann», der eine Erfahrung in der «entfremdeten» Welt der Arbeitsteilung hat, während die Frau zu Hause den Haushalt pflegt und die Kinder versorgt. Nein, es sind seit einigen Jahrzehnten verfestigt in Westeuropa alle, also Frauen wie Männer.

Genau dies führte und führt immer wieder zu neuen, erweiterten, veränderten Bedürfnissen von Gruppen in einer Gesellschaft, zu immer weiterer Ausdehnung der Gleichberechtigungsrechtssetzung, der zivilrechtlichen Gleichstellung im Familien- wie im Arbeitsrecht und so weiter.

Das geschah und geschieht in den allermeisten diesbezüglichen Entwicklungsgeschichten keineswegs in Form revolutionärer Ausbrüche, sondern eindeutig in Lebensform- und Strukturanpassung, das heisst in evolutionären Prozessen. Und man kann solche Prozesse, verzögert, oft auch mit Rückwärts-, dann wieder mit Vorwärtsbewegungen behaftet verlaufend, manchmal langsamer, manchmal schneller als in Europa, inzwischen überall weltweit erkennen.

III.
Für europäische Verhältnisse besteht kein realer Grund, das Burkatragen gesetzlich zu verbieten oder gar als Verbot in Verfassungen hineinzuschreiben. Damit sage ich nicht, dass ich das Burkatragen in irgend einer Form rechtfertigen oder gar begrüssen würde.

Inzwischen ist es weitherum notwendig, darauf hinzuweisen, dass man nicht «für» das Burkatragen ist, wenn man sich gegen ein Burkatrageverbot in Europa ausspricht. Verbote nützen in den Ländern, wo es keine Burkaproblematik gibt, niemandem. Sie diskriminieren allerdings – indirekt, aber durchaus wirkungsvoll – Frauen, welche beispielsweise aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen.

Es ist sehr durchsichtig, dass die Burkaverbotsprediger im Grunde genommen nicht die kaum vorhandene Burka meinen, sondern das häufig sichtbar getragene Kopftuch, den Hidschab von Musliminnen. Sie wollen muslimischen Frauen vorschreiben, wie sie sich zu kleiden respektive nicht zu kleiden haben.

Bei den Olympischen Sommerspielen in Rio ist zum Beispiel die US-amerikanische Säbelfechterin Ibtihaj Muhammad im Hidschab über ihrem Kopf angetreten. Es lohnt sich, ihre Geschichte kennen zu lernen. In der FAZ kann man sie nachlesen.

Muslimische Frauen, welche in Kampfsportarten im Hidschab antreten, eröffnen weit mehr Möglichkeiten für die Emanzipation als westliche Verbotsprediger.

Beteiligungen an internationalen Sportwettbewerben verschaffen Frauen aus Ländern mit mächtiger Männervorherrschaft über das Geschlecht der Frau, also beispielsweise Sportlerinnen aus Saudi-Arabien, aus den Golfstaaten oder auch aus dem Iran und aus Pakistan, also von dort, wo das Nikabtragen oder das Hidschabtragen durchaus alltägliche Erscheinung ist, weil die Machthaber das so wollen, leuchtende Symbolkraft.

Muslimische Frauen, welche in Kampfsportarten (Fechten, Einerkanu oder, man staune, Gewichtheben) im Hidschab antreten, eröffnen jedenfalls weit mehr Entwicklungsmöglichkeiten für die Emanzipation der Frauen in patriarchalischen Männerstaaten als westliche Werteverkünder und Verbotsprediger, welche das IOC oder einzelne internationale Sportverbände in Grund und Boden zu kritisieren versuchen, weil diese bezüglich Kopf- und Körperbekleidung von Sportlerinnen Kompromisse gesucht und gefunden haben.

Während die Sportlerinnen zeigen, was sie mit ihren Körpern erreichen können, was sie als Frauen können, welche Anerkennung eine Frau in der Öffentlichkeit erfahren kann, wenn sie den Mut aufbringt, öffentlich aufzutreten, spricht also ein zürcherischer Regierungsrat, Sozialdemokrat, von der Notwendigkeit eines Burkaverbots in der Schweiz und biedert sich damit bei Leuten an, deren Ressourcen sich vor allem darin zu erkennen geben, dass sie als xenophobe Vorurteilslieferanten durch die Politik ziehen. Ich meine damit das «Egerkinger Kommitee»

Ein Regierungsrat, der westliche Werte mit einem Burkaverbot schützen will, setzt kein Zeichen für die Werte. Sondern ein Zeichen für billige Eigenwerbung.

Rechtsgleichheit ausserhalb der eigenen Wertelandschaft für beide Geschlechter könnte man vielleicht mit einem von der ganzen westlichen Staatenwelt erlassenen und eingehaltenen Verbot von Waffenlieferungen an Saudi-Arabien oder an Katar befördern. Natürlich nur indirekt. Aber indirekt insofern, als damit die Machtvollkommenheit der dort führenden Prinzengarden erkennbar und erst noch von potenter Seite in Frage gestellt würde.

So, wie das jede Sportlerin, welche ihren Hidschab bei der Ausübung ihres Sport aufgesetzt behält, macht: Sie stellt den Machtprotzen ihr Frausein ausgerechnet im Sport, also in einer sozial erkennbaren Emanzipationsgrösse, öffentlich und erst noch in der globalen Bildergegenwart entgegen.

Ich finde, ein schweizerischer Regierungsrat, der aus der sicheren Bürolandschaft seines Amtes heraus westliche Werte mit einem Burkaverbot in der Schweiz schützen will, setzt kein Zeichen für die Werte. Sondern ein Zeichen für billige Eigenwerbung.

Er weiss natürlich: So kommt er viel rascher ins sommerliche Gerede, als wenn er sich beispielsweise mit den von mir genannten Waffenlieferungen, welche Machtapparate von Frauenunterdrückern stützen, kritisch und womöglich sogar öffentlich auseinandersetzen würde. Oder wenn er sich, was Frauen betrifft, nachhaltig für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit (beispielsweise) einsetzen würde. Da könnte er ja kraft seines Amtes Gesetzesvorlagen entwickeln lassen und sie danach durchzusetzen versuchen.

Das würde zur wirklichen Gleichberechtigung und damit auch zur vollen Freiheit der Frau, also für jede einzelne individuelle Frau in der Schweiz, führen und diese auch sichern – und gleiches gilt auch für Deutschland.

 

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