Christoph Blocher will uns glauben machen, die EU und der Rest der Welt würden dem Schweizer Wunsch nach Sonderregelungen schon nachgeben, weil sie ja auch wirtschaftliche Interessen hätten. Doch dass sie sich nicht erpressen lassen, haben «Brüssel» und «Washington» längst bewiesen.
«Mir war von Anfang an klar, dass die FDP nicht mitmachen wird. Für die FDP ist die EU wichtiger als das Schweizer Volk. Sie fürchtet sich vor einer Kündigung der bilateralen Verträge durch die EU, doch Brüssel hat kein Interesse daran. Die FDP ist eine Angsthasenpartei par excellence. CVP-Präsident Gerhard Pfister wollte die Initiative zwar umsetzen, doch er ist nicht die CVP. Die Wirtschaftsverbände haben allerdings erkannt, dass man den Verfassungsartikel umsetzen muss, sonst gibt es ein böses Ende.»
(Christoph Blocher in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» vom 2. September 2016.)
Bei der EWR-Abstimmung im Dezember 1992 sagten 50,3 Prozent der Abstimmenden Nein zu einem Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum. Seither richtet sich das Initiativ- und Referendumsgehabe der SVP gegen jegliche supranational institutionalisierte Verbindlichkeit mit der europäischen Nachbarschaft.
Diese Politik einer ausschliesslichen und quasi «ewiggültigen» schweizerischen «Selbstbestimmung» wird seit nunmehr über 25 Jahren von einer einzigen Person und deren finanziellen Möglichkeiten diktiert – entgegen den schweizerischen föderalen Verfahren von Diskurs und Kompromissfindung.
Mit der MEI hat Blocher die Verfassung der Schweiz in einer wichtigen Detailfrage derart belastet, dass die Handlungsfähigkeit der Schweiz nachhaltig gestört ist.
Mit der Masseneinwanderungsinitiative (MEI), die im Februar 2014 mit wiederum 50,3 Prozent Ja-Stimmenanteil angenommen wurde, hat diese Person die Verfassung der Schweiz in einer wichtigen Detailfrage derart belastet, dass die politische Handlungsfähigkeit der Schweiz innerhalb Europas, bei genauerem Hinsehen aber auch global (OECD, ILO, IKRK etc.), nachhaltig gestört ist.
1.
Die Behauptungen des SVP-«Strategie»-Chefs, wonach die anderen – also die EU oder «Brüssel», «Deutschland» und so weiter – der Schweiz in Sachen Personenfreizügigkeit (PFZ) und anderem aus Eigeninteressen nachgeben müssten, weil sie vom Handel mit ihr massiv profitierten, haben sich sehr rasch als Illusion erwiesen.
Die anderen, darunter auch die USA (Steuerhinterziehungsdelikte mit Hilfe schweizerischer Banken), mussten nicht nur nicht «nachgeben», vielmehr haben sie internationale Rechtsverbindlichkeiten eindeutig auf ihrer Seite.
Es handelt sich sowohl bei der EU als auch bei den USA um Rechtsstaaten. Rechtsstaaten kennen Regeln. In Rechtsstaaten müssen Regeln auch durchgesetzt werden, was unter anderem die vom Regierungshandeln unabhängige Justiz gewährleisten muss.
Der SVP-«Stratege» und seine Propagandisten verwechseln ihre «Erfahrungen» – gewonnen durch das Handeln mit Lackfarben oder Kunststoffen, oder, wenn ich an gewisse Bankiers denke, im Umgang mit Steuerhinterziehern und Diktatoren – mit den politischen Realitäten, die in Rechtsstaaten immer wieder durchgesetzt werden:
- Das Recht ist in Rechtsstaaten eine übergeordnete Einrichtung.
- Manchmal funktioniert es nicht sofort. Aber oft funktioniert es schlussendlich eben doch.
Niemand kann Vorschriften diktieren
Einen zweiten Punkt haben der «Stratege» und seine Entourage immer schon unterschätzt. Dieser verdient namentlich in der Deutschschweiz endlich und – was die gegebene Realität in der Diskussion über die Durchsetzung der MEI betrifft – durchaus dringend mehr Aufmerksamkeit, als ihm auch im medialen Alltag zuteil wird.
Die EU ist eine Union von souveränen Staaten. Der Grad der EU-eigenen und damit den Mitgliedstaaten verpflichtend auferlegten ökonomischen, sozialen, kulturellen, und zunehmend auch ökologischen Gesetzesvorlagen und Ausführungsbestimmungen hängt von Entscheidungsprozessen ab, deren institutionelle Komplexität es verunmöglicht, dass irgendwer Vorschriften diktiert.
Man muss, wenn man den EU-Prozess der vergangenen Jahrzehnte beurteilen will, unter allen Umständen die Spannungen beachten, die bedingt durch die verschiedensten Interessen staatlicher, namentlich sozialer, ökologischer und kultureller, privatwirtschaftlicher sowie währungspolitischer Natur auf den diversen EU-Ebenen (Kommission, Ministerrat, Parlament und Gerichtsbarkeit) institutionell verankert exisiteren. Weil da keine Diktatur herrscht, herrscht Vielstimmigkeit. Vielstimmigkeit aber ist verwirrend und es ist schwierig, daraus jene politischen Linien herauszuarbeiten, die sich durchsetzen, weil es sich erst einmal um Entwicklungen handelt, nicht um «diktierte» Befehle «der» EU.
Wollten die Rechtsnationalisten wirklich mitbestimmen, müssten sie sich detailliert ins Bild setzen und Kompromissfähigkeit entwickeln.
Rechtsnationalisten wie dem SVP-Chef-«Strategen» oder seinen Anverwandten namens Wilder, Strache, Petry, Le Pen oder seinerzeit Berlusconi bereitet die Existenz der supranationalen Entscheidungsprozesse, also dessen, was den Handlungsalltag innerhalb der EU ausmacht, natürlich keine Freude.
Sie müssten sich, wollten sie wirklich fundiert mitbestimmen, jeweils umfassend und gleichzeitig detailliert ins Bild setzen, müssten Kompromissfähigkeit entwickeln, um einzelne ihrer Postulate durchsetzen zu können. Es ist viel einfacher, «dem Volk» Hetz- und Hassparolen vorzusetzen und zu behaupten, alle Probleme existierten nur, weil «Brüssel» als allesbestimmendes Monstrum existiere.
Bei den SVP-Propagandisten kommt zusätzlich die Behauptung dazu, die grosse Bedrohung des «Wohlstandes» rühre daher, dass «der Staat» mehr sein wolle als eine Versicherung gegen zu viele Ausländer oder gegen den Islam und sich anmasse, sich in «die Wirtschaft» einzumischen oder zu behaupten, dass es eine Klimaproblematik gebe.
Blick durch den Zerrspiegel
Die SVP beurteilt Europa erkennbar aus Sicht ihrer eigenen Anti-EU-Propaganda. Mit der Realität hat diese Propaganda sehr wenig zu tun und mit für die Schweiz wesentlichen Fragen gar nichts, etwa bei den Entscheidungswegen in Verhandlungsangelegenheiten.
Die EU-Institutionen werden von der SVP-Propaganda als total «undemokratisch» verleumdet, als «Brüsseler Diktat» bezeichnet oder wahlweise als «Bürokratenmonstrum» hingestellt.
Es existiert keine Demokratie, in der Entscheidungen «rasch» und «sauber» gefällt werden können.
Es liegt in der Natur von Zerrbildern, dass sie mit der Realität nicht zu tun haben, hier also mit dem bekämpften, respektive beschimpften EU-Alltag. In den Institutionen der EU wird auf geregelten Entscheidungsebenen diskutiert, verhandelt und entschieden. Das sind in diesem Fall die demokratisch gewählten Regierungen und Parlamente der Mitgliedstaaten genauso wie das durch allgemeine Wahlen zusammengesetzte EU-Parlament.
Der geltende Lissabon-Grundlagenvertrag der EU ist in einigen Staaten (Frankreich, Niederlande, Irland) in Referenden erst abgelehnt, nach weiteren Verhandlungen allerdings bestätigt und von den Parlamenten sämtlicher Mitglieder ratifiziert worden. Irland stimmte in einer zweiten – obligatorischen – Referendumsabstimmung zu. Auch in Spanien und in Luxemburg wurden die Lissabon-Verträge in Referenden eindeutig gutgeheissen.
Kurz: Der Ratifizierungsprozess des Lissabon-Vertragswerks war von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bestimmt.
Die folgenden Links führen zu informativen Darstellungen europäischer Verfassungs- und Politikrealität: Vertrag von Lissabon, Hintergrunddiskussion und Ratifizierungsverfahren.
Dass der Diskurs- und der Entscheidungsprozess zwischen den einzelnen Ebenen in der EU keine «raschen» oder «sauberen» Entscheidungen produziert, ist kein Wunder.
Nur: Es existiert keine Demokratie, in der Entscheidungen «rasch» und «sauber», wie zum Beispiel in einem übersichtlichen Chemieunternehmen in Eigenbesitz, gefällt werden können. Denn ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Verhältnisse in der Politik eines Landes oder eines Staaten-Bündnisses ist der Diskurs, der die Suche nach praktikablen Lösungen für eine Staatsbevölkerung organisiert. Dieser Diskurs braucht immer Zeit.
Und: Eine einmal gefällte Entscheidung hat, von Grundlagen der Rechte des Individuums in einem Rechtsstaat abgesehen, kaum einen Ewigkeitswert. Sie ist immer auch zeitgebunden. Zeitläufte ändern sich, Lebensbedingungen verändern sich. Ein demokratisch organisierter Staat muss auf solches reagieren können. Auch demokratisch zustande gekommene Entscheidungen können sich als fehlerhaft, als Irrtum gar, herausstellen. Da muss es möglich sein, Änderungen vorzuschlagen und durchzuführen. Die dafür notwendigen Prozessregeln sind eiserner Bestandteil sowohl des demokratisch als auch des rechtsstaatlich organisierten modernen Staates.
2.
In Bezug auf die Personenfreizügigkeit und die Gültigkeit der bilateralen Verträge zwischen der Schweiz und der EU muss die EU gar nichts tun, denn sie stellt diese Verträge ja nicht infrage. Wegen des MEI-Verfassungszusatzes ist es die Schweiz, die einen wesentlichen Bestandteil des bilateralen Vertragswerkes mit der EU infrage stellt und, sollte die MEI wortgetreu bis Februar 2017 durchgesetzt werden, zahlreiche Vertragsverletzungen gegenüber der EU begehen müsste.
Konkret: Bei wörtlicher Umsetzung müsste die Schweiz entweder bilaterale Verträge kündigen oder die EU müsste, sollte eine Kündigung ausbleiben, die Vertragsverletzungen bei den in den Verträgen vorgesehenen Rechtsinstanzen einklagen.
Genau dies war bereits vor der Abstimmung am 9. Februar 2014 klar. Es war die Propaganda des SVP-Chef-«Strategen», die behauptete, die MEI stelle keine Bedrohung der Bilateralen dar.
Nun hat die Staatspolitische Kommission des Nationalrates einen Kompromiss für eine – wohl vorläufig gedachte – Umsetzung des MEI-Verfassungsartikels erarbeitet, der drei Massnahmen vorsieht:
- 1. ausländische Arbeitnehmer, die bereits hier sind, besser in den Arbeitsmarkt integrieren,
- 2. eine Stellenmeldepflicht, wenn die Zuwanderung einen Schwellenwert erreicht, bevor Arbeitskräfte aus dem Ausland rekrutiert werden,
- 3. ein mögliches Eingreifen des Bundesrates mit Zustimmung der EU (bilateraler Ausschuss).
(Quelle: SRF)
Wenig überraschend haben sich die SVP-Mitglieder in der Kommission gegen diesen Kompromiss ausgesprochen. Allerdings scheint es innerhalb der Partei oder vielleicht auch deren Fraktion Ansätze einer «aufgeweichten» Verhaltensweise zu geben. Immerhin trat Kommissionspräsident Heinz Brand (SVP) mit dem Kommissionsmehrheits-Vorschlag an die Öffentlichkeit und gab ihm dadurch so etwas wie eine normale parlamentarische Note.
Wohl um seinen SVP-Laden ideologisch zusammenhalten zu können, hat sich der SVP-«Stratege» vom «Tages-Anzeiger» umgehend zum Kommisssionsvorschlag befragen lassen – wobei die Fragen für unbefangene Leserinnen und Leser den Charakter einer bestellten Stichwortlieferung aufweisen:
«Wird das Gesetz so umgesetzt, wie es die Kommission will, dann wird die Zuwanderung weiter zunehmen, die Erwerbslosenquote wird steigen, und die Kosten für Verkehr und Sozialbezüger werden in die Höhe schnellen.»
Die naheliegende Interpretation dieser Behauptungen führt wohl zum Kern der vom SVP-Chef-«Strategen» mit Hilfe seiner finanziellen Möglichkeiten der Partei seit einem Vierteljahrhundert aufoktroyierten Ideologie.
Es ist die Ideologie eines Besitzers.
Etwa: Der Besitzer bestimmt, was er an Personen um sich haben will. Wenn er nicht mehr alleine bestimmen kann, wer in seine Nähe gelangen darf, verliert er die Kontrolle über seinen Besitz. Also muss der Zugang zum Besitz reglementiert werden und zwar allein nach den Bedürfnissen des Besitzers.
Oder: Arbeitslosigkeit wird dadurch geleugnet, dass sie begrifflich gar nicht existiert. Vielmehr handelt es sich bei dem Phänomen laut dem SVP-Chef-«Strategen» um «Erwerbslosigkeit». Wer nichts erwirbt, wer kein Geld verdient also, ist entweder faul oder nicht bereit, Arbeit ohne Nachfrage zu übernehmen. Solcherlei wird natürlich nicht laut herausgesagt. Aber zum «Arbeitsethos» vieler SVP-Leute, das «Gefügigkeit» und «Gehorsam» sowie «Brauchbarkeit» als Kriterien eines «normalen» Arbeitnehmers voraussetzt, gesellt sich oft eine Verachtung für jene, welche eben keinen Erwerb haben.
Das Lieblingskind der SVP-Propaganda: (Gratis-)Parkplätze in den «linken Städten».
Das seien, wird behauptet, vor allem zugewanderte Ausländer. Oder Leute, die unnützes Zeug studiert haben. Wahlweise auch Frauen, die meinen, alleinerziehend das «bürgerliche» Familienbild verletzen zu müssen. Vor allem aber gilt laut SVP-Vorstellung von dem «einen Volk»: Wenn man Zuwanderung verhindert, verhindert man Erwerbslosigkeit. So einfach fällt des «Strategen» «Analyse» von gesellschaftlich komplexen Verhältnissen aus.
Nicht zuletzt: Die Kosten! Die Staatsquote! Das Lieblingskind der SVP-Propaganda: Zwar fordert man am laufenden Band den weiteren «Ausbau» der Autobahnen und unbeschränkt zur Verfügung stehende (Gratis-)Parkplätze vor allem in den «linken Städten». Zugleich aber wird der Dichtestress auf den Strassen als alleinige Folge der «Zuwanderung» beschrieben.
Die Finanzierung der gesamten Infrastruktur des Individualverkehrs soll dabei, wenn es nach SVP-Plänen ginge, nicht einmal teilweise von den Verursachern, sondern allein durch allgemeine Steuern beglichen werden – ähnlich dem Subventionsselbstbedienungsladen namens «Landwirtschaft». Denn die Verursacher sind Kunden von SVP-Klientel, also von Autoverkäufern, Benzinanbietern oder Logistikunternehmern und so weiter. Und diese Kunden sollen nicht etwa «sparen», sondern möglichst Konsumwachstum ins Grenzenlose betreiben.
Natürlich darf in dieser Ideologiedarstellung in keinem noch so kurzen Interview der Hinweis auf die Sozialbezüger fehlen. Schmarotzer an «unserem» Steuersubstrat! Schändliche Ausnützung unseres Staates!
Verstopfen tatsächlich die Ausländer unsere Strassen?
Stimmt das Verdikt des SVP-Chef-«Strategen» über die «Zuwanderung» aber auch? Existiert zwischen der «Zuwanderung» und den behaupteten «Folgen» ein derart ausschliesslich auftretender, nachvollziehbarer, gar nachweisbarer Zusammenhang?
Würde der Autoverkehr bei Abnahme der Zuwanderung deutlich geringer? Gäbe es weniger «Erwerbslose» und weniger Sozialhilfebezüger?
Im Zusammenhang mit dem Begriff «Zuwanderung» ist es offensichtlich notwendig darauf hinzuweisen, dass die Sozialabgaben (AHV, IV, ALV, zusätzlich auch die Krankenkassenprämien und die Beiträge zur 2. Säule der Altersvorsorge) und die allgemeinen Steuerabgaben durch alle in der Schweiz arbeitenden Personen mitgeleistet und «unsere Sozialwerke» (ein von der SVP-Propaganda gerne gebrauchtes Wortpaar) damit wesentlich mitgesichert werden. Das heisst eindeutig: auch und geradezu wesentlich durch die über anderthalb Millionen «Ausländer», die den schweizerischen Arbeitsmarktprozess mitgestalten. Und dies im Übrigen zu vielen Hunderttausenden seit Jahrzehnten schon getan haben.
Dazu eine Zahlenfolge als Illustration:
(selbstständige, familieninterne Familienbetriebsmitarbeitende, angestellte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer):
Insgesamt: 5’033’000 Personen
davon Schweizerinnen/Schweizer: 3’493’000 Personen
Ausländerinnen/Ausländer: 1’540’000 Personen.
(zweites Quartalsende 2016, provisorische Berechnung des Bundesamts für Statistik)
Sozialhilfe ist in allen Kantonen der Schweiz gesetzlich geregelt, genauso wie das Bezahlen von Steuern und Abgaben. Natürlich gibt es immer wieder Missbrauch. Es ist allerdings nicht so, dass Missbrauch eine spezielle Herkunft hat. Man kann sich, wenn man will, aber schon auch an diverse teilweise ziemlich prominente SVP-Exponenten mit eigenartigen Handhabungen schweizerischen Sozialrechts oder sehr gespannten Verhältnissen zum Strafrecht erinnern. Die WOZ listet in einem Bericht einige der gröbsten Verstösse unter anderem gegen Sozialrechte in der Schweiz aus der Mitgliedschaft der SVP auf.
Im bereits genannten Momentum des SVP-Chef-«Strategen», welches der «Tagesanzeiger» wie die offizielle Amtsblattverkündigung eines Machthabers in die Medienwelt hineingeschossen hat, kommt der Hintergrund der herrschenden SVP-Ideologie ziemlich unverfälscht zum Vorschein:
«Ergreift die SVP das Referendum, falls das Parlament den Vorschlägen der Kommission zustimmt?
Blocher: Ein Sieg in einer Referendumsabstimmung ist nichts wert. Wir wären wieder am Punkt null, der aktuelle Zustand wäre weiterhin gültig. Der Aufwand dafür ist zu gross.
Die SVP hat Erfahrung mit Durchsetzungsinitiativen.
Wenn wir sehen, dass das Umsetzungsgesetz die Zuwanderung nicht massiv drosselt, wird die SVP eine Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit lancieren.
Nennen Sie eine Zahl: Wie stark muss die Einwanderung abnehmen, damit die SVP zufrieden ist?
Im Vergleich zu heute genügt ein Rückgang um 10’000 Leute sicher nicht. Mit dem bewährten Kontingentsystem hatten wir bis 2007 im Durchschnitt eine Zuwanderung von 20’000 Leuten pro Jahr. An diesen Werten können wir uns orientieren.
…
Das hat sein Gutes: Die EU kann die Zuwanderungsfrage nicht mit dem Rahmenabkommen verknüpfen.
Bern will neue Abkommen mit der EU, deshalb wird der Bundesrat einem Rahmenabkommen ohnehin zustimmen. Diese Verhandlungen werden weitergehen. Mit dem Entscheid, den Verfassungsartikel zur Zuwanderung nicht umzusetzen, sind die Chancen für das Rahmenabkommen in der Bevölkerung aber massiv gesunken. So krass wurde ein Verfassungsartikel noch nie nicht umgesetzt.»
(Quelle: «Tages-Anzeiger», 2. September 2016)
Der SVP-«Stratege» erklärt, was gilt und was nicht gilt.
Nun: Wer die Revisionsfähigkeit eines demokratisch zustande gekommenen Entscheides verneint, verneint die Möglichkeit, dass Entscheide Irrtümer oder Fehler beinhalten können. Irrtümer können manchmal sehr rasch als solche erkannt werden. Die Probleme, die der MEI-Verfassungszusatz geschaffen hat, sind für die Wirtschaft und die gesellschaftliche Struktur der Schweiz, etwa im Gesundheits- und im Bildungsbereich, sowie für die Zukunftsfähigkeit des Landes von existenzieller Bedeutung. Für die Forschung sind die dann, wenn sie in einem Hauruckverfahren durch eine «wörtliche» Umsetzung «durchgesetzt» werden sollen, äusserst gefährlich.
Gleiches gilt beispielsweise auch für die Rechtsstellung Hunderttausender Schweizerinnen und Schweizer, die in EU-Staaten leben oder dort lernen, lehren, wirtschaften, Verbindungen und Netzwerke schaffen, welche schweizerischer Alltäglichkeit zugutekommen.
Der Ideologe will nur eines: Sich total durchsetzen. Die Macht erobern.
Aber solches interessiert den Ideologen nicht, er will nur eines: Sich total durchsetzen. Die Macht erobern und dann durchexerzieren: Abschaffung des Sozialstaates, Abschaffung der Unabhängigkeit der Justiz, Abschaffung des schweizerischen Föderalismus, indem zentralistische Rechthaberpostulate – etwa die, immerhin gescheiterte, «Durchsetzungsinitiative» – jegliche Abwägung irgendeines politischen oder rechtlichen Vorgangs per Verfassung verbieten will.
In kleinteiligeren Grössenordnungen fällt zum Beispiel die Absicht auf, die Hochschulautonomie abzuschaffen (eine Absicht, welche die SVP Baselland mit ihren ständig verlangten Budgetkürzungen an der Universität dokumentiert und vom unsachlichen Dauergeschwätz über «Ausländer an Hochschulen» seitens Mörgeli, Köppel, Weltwoche-Gut und anderen seit Jahren zelebriert wird).
Der Inhalt der SVP-Ideologie von heute: Es diesen «Weicheiern», diesen «Angsthasen» zu zeigen!
Gegen die EU. Natürlich. Denn die EU bedeutet, dass «man» als SVP-Chef-«Stratege» zu klein ist, um sich dort im Sinn der eigenen Machtentfaltung inszenieren zu können.
3.
Es ist offensichtlich, dass der MEI-Verfassungszusatz für viele Schweizerinnen und Schweizer nicht akzeptabel ist. Es ist entgegen der ständig wiederholten Behauptung der SVP-Propaganda, das Volk habe souverän entschieden, was da in die Verfassung hineinbugsiert worden ist, eben nicht «das Volk», sondern es war ganz knapp über die Hälfte der Abstimmenden, also ein Teil des Volkes, gewesen. Der Teil, der sich von der SVP-Propaganda hat lenken, zum Teil auch hat irreführen lassen. Der Verfassungszusatz erweist sich nur dann als durchführbar, wenn zahlreiche alltägliche Lebensgrundlagen der schweizerischen Bevölkerung nachhaltig gestört, viele wohl sogar endgültig zerstört würden. Die Erkenntnis, dass dem so ist, ist inzwischen fester Bestandteil im gesellschaftspolitischen Diskurs im Land.
Was geschieht angesichts der eigentlich hoffnungslos verfahrenen Situation?
Die schweizerische Politik windet sich um Auslegungswörtchen im Stil des am Konzils von Nizäa langatmig diskutierten Glaubenssatzes, ob Engel auf einer Nadelspitze tanzen können oder nicht. Schlimmer noch: Sie duckt sich unter den massiven Unterstellungen von SVP-Verdächtigungskaskaden und versucht sich in fortgesetzten Kotauübungen.
So lange der MEI-Zusatz in der Verfassung steht, spielt der SVP-Chef-«Stratege» sein Machtspiel mit der Zukunft des Landes.
Aber: So lange dieser Verfassungszusatz von den – hier ist der Ort, diese einmal zu nennen – «anderen Parteien», der SP, der FDP, den Grünen, auch der CVP ohne ihren rechten Flügel, der die Parteileitung gekapert hat, nicht direkt angegriffen wird – das heisst, so lange dieser Satz in der Verfassung steht –, spielt der SVP-Chef-«Stratege» sein Machtspiel mit der Zukunft des Landes.
Für die Beziehungen zur EU, mittelfristig zudem zusammen mit all den Projekten, angefangen von den angeblich «fremden Richtern» bis hin zu Verbotsinitiativen über irgendwelche Beziehungsgestaltungen der Schweiz zur EU, welche der SVP-Chef-«Stratege» sonst noch so in die Medienwelt hineinbläst, um im Gespräch zu bleiben, erweist sich der MEI-Verfassungszusatz als Irrtum, der in der Verfassung nichts zu suchen hat.
Er ist nicht durchsetzbar, soll die Schweiz als Staat in Europa nicht in die völlige wirtschaftliche Isolation getrieben werden.
Dies steht fest.
Folglich ist es notwendig, diesen Verfassungszusatz wieder aus der Verfassung herauszunehmen.
Dafür braucht es eine politische Anstrengung. Dass sie erfolgreich sein kann, zeigte sich in der realen Auseinandersetzung mit der angeblich so populären SVP-Durchsetzungsinitiative, die von zahlreichen Schweizerinnen und Schweizern mit bemerkenswertem Engagement zum Scheitern gebracht wurde.
Meiner Ansicht nach ist es höchste Zeit, dass neben den bereits zahlreichen aktiven Schweizerinnen und Schweizern, denen ihre Zukunft mehr bedeutet als blosse SVP-Rechthaberei, auch die «anderen» Parteien sich endlich zu einer konzertierten Aktivität zusammenfinden, um die Wirkung des SVP-Chef-«Strategen»-Ungeistes so weit einzudämmen, dass es in der Schweiz wieder offener, rechtsstaatlicher und demokratischer zu- und hergehen kann.