Eine Zweiteilung des Rechts bedeutet Apartheid

«Ausländer als Täter, also Ausschaffung. Basta.» Solcherlei existiert in einem Rechtsstaat aus guten Gründen nicht. Warum ein Ja zur Durchsetzungsinitiative in die Apartheid führen würde.

Die Apartheid in Südafrika dauerte von 1948 bis 1994.

(Bild: unbekannt)

«Ausländer als Täter, also Ausschaffung. Basta.» Solcherlei existiert in einem Rechtsstaat aus guten Gründen nicht. Warum ein Ja zur Durchsetzungsinitiative in die Apartheid führen würde.

I
Mit der Abstimmung über die Durchsetzungsinitiative der SVP steht eine Entscheidung über den Rechtsstaat der Schweiz im Sinn des «gleichen Rechts für alle» an. Wer dieser Initiative zustimmt, will die Unabhängigkeit der Gerichte beenden und Rechtsprechung für rund einen Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz, nämlich die Ausländerinnen und Ausländer, dem diktatorisch formulierten Zwang einer «Mehrheit» der Abstimmenden aussetzen.

In jeder demokratisch zustande gekommenen Verfassung weltweit wird ausdrücklich die Unabhängigkeit der Gerichte respektive der gesamten Rechtssprechung bestimmt – wozu auch Verteidigungsrechte wie der Gang zu einer höheren richterlichen Instanz (Rechtsweg) gehören. Diese Unabhängigkeit besteht darin, dass im Rahmen und geleitet durch die Vorschriften des Straf- und des Zivilrechts Zuwiderhandlungen, also kriminelle Taten, in regulierten Prozessen verhandelt und unter Berücksichtigung der Schwere, von eventueller Wiederholung, sozialen, gesundheitlichen oder auch vom Zufall bestimmten Umständen einer widerrechtlichen Tat untersucht, prozessual behandelt und beurteilt werden.

Strafen werden durch Gerichte ausgesprochen.

Es gibt dafür keinen automatisierten Strafenkatalog, den irgendwelche Instanzen (staatlicher oder privatrechtlicher Observanz) quasi abhaken können, also etwa: «Ausländer als Täter, also Ausschaffung. Basta.» Solcherlei existiert in einem Rechtsstaat aus guten Gründen nicht.

Vollzogen werden Urteile in Rechtsstaaten allein durch staatliche Institutionen, die zum Justizapparat gehören müssen.

Man kann sich erinnern, wohin katalogisierte «Massnahmen» gegen bestimmte Menschen-Gruppen in einem Staat führen. Unter den Nazis wurden nicht nur in Deutschland Menschen allein aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus der Rechtsstruktur ausgeschlossen und schliesslich millionenfach industriell ermordet – auch auf Grund der so genannten «Nürnberger (Rassen)-Gesetzgebung» ab 1935.

Weitere Beispiele: Unter Stalin wurde ein Mensch getötet, wenn er der so genannten kulakischen Bevölkerungsschicht angehörte. Im Apartheidstaat Südafrika wurde das Individuum als blosses «Arbeitstier» behandelt, wenn es nicht «Weisse oder Weisser» war.

Weiter im Rechtsstaat, und zwar über- oder nachnational:
Vollzogen werden Urteile in Rechtsstaaten allein durch staatliche Institutionen, die zum Justizapparat gehören müssen. Wird ein Vollzug «automatisiert», das heisst, wird die «Ausschaffung» oder «Abschiebung» einer eigenen Behörde übergeben, ist die Justiz, also die dritte, unabhängig funktionierende Gewalt im Rechtsstaat, aufgelöst.

Abwägung ist eine der wichtigsten Errungenschaften für Rechtsgleichheit. Ohne Abwägung wird Rechtssprechung willkürlich.

Eine solche Einrichtung ausserhalb des Justizapparates ist wohl notwendig, wenn man an die angeblich so hohe Ausländerkriminalität in der Schweiz glaubt, welche die SVP-Propagandisten an die Wand malen. Doch diese Darstellung ist nicht nur massiv übertrieben, sondern bezogen auf den Bevölkerungsanteil der «Ausländer» nachgewiesenermassen eine Lüge. Der SVP zufolge müssten täglich Ausschaffungen erledigt werden. Das ginge nicht ohne Bahn- , Flug- oder andere Transportunternehmungen.

Die SVP will den Rechtsfindungsprozess und den darin enthaltenen Rechtswegen in Bezug auf Bussenverfügungen sowie bedingt oder unbedingt ausgesprochenen Strafmassen für alle Ausländerinnen und Ausländer, welche in der Schweiz leben, abschaffen und jeglichen von einer «ausländischen» Person verursachten Rechtsverstoss mit der automatischen «Ausschaffung» aus der Schweiz «ahnden». Es dürfte, sollte diese «Durchsetzung» in die Verfassung gelangen, keine Richterin, kein Richter irgendwelche Abwägungen treffen, welche ihnen im Straf- und Zivilrecht seit Bestehen dieser Gesetzgebung abverlangt werden. Abwägung aber ist eine der wichtigsten Errungenschaften für Rechtsgleichheit. Ohne Abwägung wird Rechtsprechung willkürlich.

Was die SVP will:
Wenn eine ausländische Person mit Wohnsitz in der Schweiz angeklagt ist, soll die Abwägung nicht nur aufgehoben werden. Vielmehr ist sie, das heisst, was die Ausschaffung aus dem Rechtsgebiet der Schweiz betrifft, ausdrücklich verboten. Die Richterin, der Richter bewirkt, ohne dass zum Beispiel der Rechtsgrundsatz der Verhältnismässigkeit berücksichtigen zu können, die Ausschaffung bei einer Verurteilung automatisch.

Das ist ungeheuerlich.

Welche Rechtsvorstellung hinter dieser Unrechtsinitiative steckt, zeigt sich, wenn man schaut, wen es nicht betrifft – ausländische Steuerhinterzieher. Dabei handelt es sich im Normalfall um Reiche und Superreiche, welche auch bei höchsten Bussverfügungen, wenn sie in der Schweiz nachgewiesenermassen Steuern hinterzogen haben, nicht ausgeschafft werden (dürfen).

Solche Delikte kommen im Katalog, welche die Durchsetzungsinitiative in ihrem ersten Teil aufstellt, nicht vor. Hingegen jede kleinste Handlung eines «strafmündigen» Menschen ausländischer Herkunft, auch wenn es sich dabei um jemanden handelt, dessen Familie seit mehreren Generationen in der Schweiz lebt. Mehr dazu bei Matthias Bertschinger

Zahlreiche Fallbeispiele sind inzwischen bekannt. Und zwar für alle Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Sollten Sie Bedarf haben – FDP-Präsident Müller hat dies in einer TV-Diskussion klar formuliert.

Dass eine derart gezielte Aushöhlung rechtsstaatlicher Grundprinzipien in einem Staat, der sich als demokratisch versteht, überhaupt zur Abstimmung steht, ist an sich ein Skandal.

Wer die Gleichheit aller Bewohnerinnen und Bewohner eines Staates aufhebt, schafft nicht nur Ungerechtigkeit, sondern vor allem zweierlei Recht. Das Recht wird aufgeteilt und geht von einer Unterscheidung aus, für die ein Individuum nichts kann, weil es nichts dafür kann, als Schweizerin oder als Ausländer geboren zu werden.

Eine Zweiteilung des Rechts bedeutet nichts anderes als das, was man Apartheid nennt.

Dieser Punkt weist auf Rassismus hin. Rassismus besteht diesem Fall darin, dass die von der SVP postulierte gesellschaftliche und staatliche Grundlage einer Personeneinteilung darauf basiert, Individuen nichtschweizerischer Herkunft, welche in diesem Staat leben, arbeiten, Steuern und Abgaben bezahlen sowie die sozialstaatlichen Krankenkassen- und Renteneinrichtungen mit ihren Beiträgen mitfinanzieren, einer straf- und zivilrechtlichen Sonderbestrafung auszusetzen.

Was die SVP hier will:
Das ausschliessliche Recht der «Inländer» auf Rechtsgleichheit einerseits.
Anderseits das mehr oder weniger abgeschaffte Recht auf unabhängige richterliche Beurteilung im Fall eines Gesetzesverstosses, wie klein oder gross der auch sein mag, ob sie aus Unwissenheit oder aus Not heraus entstanden ist, begangen durch eine «ausländische» Person. «Beendet» wird ein solches Verfahren zwangsweise mit der Ausschaffung aus der Schweiz.

Eine solche Zweiteilung des Strafrechts und in gewissen Teilen des Zivilrechts bedeutet nichts anderes als das, was man Apartheid nennt. Apartheid aber ist ihrer Natur nach immer zweierlei: 1. Rassismus und 2. das Diktat von politischer Macht über Rechtsverhältnisse. Es spielt keine Rolle, wie zweierlei Recht in einem Staat zu Stande gekommen ist. Auch ein «Volksmehr» kann schlichtes Unrecht schaffen.

II
Was meiner Ansicht nach in der zur Zeit stattfindenden Diskussion über diese SVP-Verfassungsinitiative zu wenig beachtet wird:
Man führt sich als Schweizerin oder als Schweizer zu selten vor Augen, was allein schon die grundunanständige SVP-Propaganda alltäglich für jene Teile der Bevölkerung bedeutet, welche von der Durchsetzungsinitiative direkt betroffen sind: Die Ausländerinnen und die Ausländer nämlich.

Wer sind diese Ausländerinnen und Ausländer?
Ende 2014 waren dies laut BfS über 24 Prozent der Gesamtbevölkerung, also praktisch ein Viertel aller in der Schweiz lebenden Menschen.

Diese Menschen leben grösstenteils genau gleich, wie die Menschen mit Schweizer Pass. Sie leben in Familien, sie haben Kinder, welche die gleichen Schulen besuchen wie jene der «Schweizer Familien», sie arbeiten, sie zahlen, wie oben bereits erwähnt, Steuern, sie zahlen in die Sozialversicherungen ein. Nebenbei bemerkt: Ohne die Beiträge der «Ausländer» wären sowohl die AHV als auch all die Pensionskassen wegen einer längst einseitig gewordenen Altersstruktur im «rein schweizerischen» Bevölkerungsteil des Landes in schwierigsten Verhältnissen.

Die Schweiz könnte ohne Ausländerinnen und Ausländer nicht existieren.

Sie erledigen alltäglich den grössten Teil der Dienstleistungen in Bereichen wie Müllentsorgung, Strassendienst, im Baugewerbe, bei den Grossverteilern des Detailhandels. Ausgesprochen existentiell ist die Arbeit der Ausländerinnen und Ausländer im gesamten Gesundheitsbereich, und zwar auf allen Ebenen. Ohne Ausländerinnen und Ausländer könnten vermutlich weit über Dreiviertel aller Alters- und Pflegeheime in der Schweiz zumachen. Von Lehre und Forschung zu schweigen.

Man erkennt, wenn man auch nur ein wenig nachdenkt, dass die Schweizerinnen und Schweizer sowie die Ausländerinnen und Ausländer längst eine gemeinsame Gesellschaft bilden. Man erkennt, um es eindeutig zu formulieren: Die Schweiz könnte ohne dieses eine Viertel ihrer Bevölkerung, also ohne Ausländerinnen und Ausländer, nicht existieren.

Nun behauptet die Blocherpartei mit der sogenannten «Ausländerkriminalität» aufzuräumen. Sie will, dass unbesehen von der «Tat» jegliches individuelle Fehlverhalten mit der unbedingten «Ausschaffung» der «ausländischen Person» aus der Schweiz erledigt wird, ein für alle Mal.

Man kann sich vorstellen, wie sich unter «Wutbürgern» ein Denunziantentum entwickeln wird, um «dem Ausländer» eins auszuwischen.

Das betrifft natürlich auch die Nachbarn auf der gleichen Etage im Wohnhaus, sofern sie «Ausländer» sind. Es betrifft die Kassiererin in der Migros, es betrifft den Rangierarbeiter bei der SBB, den Biochemiker bei Roche und die Gymnasiallehrerin, es betrifft den Notfallarzt im Universitätsspital und die Pflegefachfrau im Pflegeheim, wo zum Beispiel unsere («schweizer») Eltern rund um die Uhr betreut werden – natürlich praktisch ausschliesslich durch Ausländerinnen.

Es betrifft alle, welche keinen Schweizer Pass haben. Es betrifft in jedem Fall Leute, die man als Schweizerin, als Schweizer alltäglich kennt, mit denen man am Arbeitsplatz, also im Büro, im Laden, in der Zahnarztpraxis zusammenarbeitet. Sie, die «Nichtschweizer», sind alle bei Annahme der Durchsetzungsinitiative bedroht, bei geringstem Fehlverhalten ohne Wenn und Aber ausgeschafft zu werden.

Wohin?

Nun, das interessiert die Blocherboys Köppel, Mörgeli, Rutz, Matter, Amstutz oder neuerdings Rösti und Co. nicht. Genau so wenig, wie es sie interessiert, wie denn das Zusammenleben im Land wohl herauskommen wird, wenn man eine Zweiklassengesellschaft in die Verfassung hineinschreibt. Man kann sich – dies nur als Beispiel – leicht vorstellen, wie sich da unter all den von primitiven Machtgelüsten befallenen «Wutbürgern» ein Denunziantentum entwickeln wird, um «dem Ausländer» eins auszuwischen.

Und: Wie ist es eigentlich mit den gemischten Familien – oder sonstigen Zusammenlebensverhältnissen? Wie ist es, wenn ein Teil der Familie oder der Wohngemeinschaft, des Konkubinats den Schweizer Pass hat, ein anderer Teil aber nicht?

III
Es ist erstens bodenlos, was mit dieser Durchsetzungsinitiative angesteuert wird. Bodenlos in Bezug darauf, was den Vollzug dessen betrifft.

Es ist zweitens nichts anderes als die Abschaffung der Unabhängigkeit der Rechtssprechung. Das bedeutet: Der schweizerische Rechtsstaat wird schlicht ausgehebelt.

Der Politik wird Macht über das Recht verliehen, was genuin zur Definition eines Unrechtsstaates gehört.

Er wird bei Annahme der Initiative in einem seiner wesentlichsten Bereiche, in welchem man ihn als Bewohner und als Bürger eines Staates erfährt, gegenüber einem Viertel der Bevölkerung zu einem reinen Vollzugsorgan einer abstrakten Verfassungsbestimmung ohne Berücksichtigung des alltäglichen Lebens sowohl des Individuums als auch der Bevölkerungsgruppe insgesamt. Genau das macht Apartheid aus.

Zudem: Die Politik («Volksmehr») wird Macht über das Recht verliehen, was genuin zur Definition eines Unrechtsstaates gehört.

Damit ist der Rechtsstaat dann allerdings futsch. Das geht, um es deutlich zu formulieren, weit hinter das zurück, was seit 300 Jahren in Europa, ausgehend von England, von Frankreich durch Napoleons «code civil», von Preussen durch die Stein’sche Reform und so weiter als Rechtsstaat gegenüber dem Individuum diskutiert und durchgesetzt wurde, oder was durch die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates 1848 mit einem einheitlichen Recht wie auch durch Revisionen späteren Datums erreicht worden ist.

Was aus solcher Machtpolitik wird, weiss man. Ausnahmslos geschieht danach Unrecht.

Es ist schliesslich drittens gegenüber Hunderttausenden von «ausländischen» Mitbewohnern, welche, teilweise seit mehreren Generationen, die schweizerische Gesellschaft genau so aufbauen, erweitern, bereichern wie Schweizerinnen und Schweizer, zutiefst unanständig.

Wer dieser Initiative zustimmt, stimmt der sukzessiven Beeinträchtigung, das heisst der mindestens teilweisen Abschaffung des «gleichen Rechts für alle» zu.

Was aus solcher Machtpolitik wird, weiss man. Ausnahmslos geschieht danach Unrecht. Unrecht, welches im übrigen immer nur mit Hilfe von Unterdrückungsmassnahmen durchgesetzt werden kann.

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