Lärmende Wutbürger, medial verstärkt – ein Appell an Journalisten und ihre Konsumenten

Macron hat die Wahl klar gewonnen, doch noch immer malen Medien Le Pen als künftige Präsidentin von Frankreich an die Wand. Es wäre an der Zeit, den Fokus weg von den Wutbürgern, zurück auf die vernünftige Mehrheit zu richten.

Wutbürger und Medien

(Bild: Nils Fisch)

Macron hat die Wahl klar gewonnen, doch noch immer malen Medien Le Pen als künftige Präsidentin von Frankreich an die Wand. Es wäre an der Zeit, den Fokus weg von den Wutbürgern, zurück auf die vernünftige Mehrheit zu richten.

Nachdem in Österreich der rechtsextreme Bundespräsidentenkandidat Hofer nicht gewählt wurde, nachdem der Rassist Wilders in den Niederlanden statt den Wahlsieg gerade mal 13 Prozent Wählerstimmenanteil eingefahren hat, sollte es wenigstens, ganz nach dem Muster der Trump-Wahl in den USA, mit Le Pen in Frankreich etwas werden.

Es ging und geht um die Schauergeschichte, welche Europa angeblich gerade einholt, nämlich die Rückkehr des Faschismus. In vielerlei Spielarten geschehe das, aber immer angeblich unmittelbar vor der Tür stehend. Ja, es existiert eine sehr präsente faschistische Propaganda. Es existieren Wählerschichten, welche sich hinter den Einfachstrezepturen und den Hasstiraden der neuen Führer (oder Führerinnen) extremer Nationalistenparteien sammeln und ihnen so etwas wie «Masse» verschaffen.

In der deutschsprachigen Mediennachrichtenwelt wird auf diese Erscheinung, nachdem sie lange Zeit nicht wahrgenommen wurde, inzwischen seltsam zurückhaltend, teilweise auch ziemlich anpässlerisch gegenüber dem darin zum Ausdruck kommenden Versuch der Zerstörung offener Gesellschaftsverhältnisse reagiert.

Faschismus, nicht Rechtspopulismus

Das beginnt damit, dass die rassistisch-faschistischen Organisationen und ihre von Hassbotschaften und Hetzereien gegen die Vielfalt westlicher Gesellschaften erfüllten «Programme» nicht als das, was sie sind, nämlich «Faschismus», bezeichnet werden, sondern abwiegelnd als «Rechtspopulismus».

Es wird seit ein paar Jahren weitherum sehr oberflächlich von einer angeblich riesigen «Wutwelle», von grossen Massen von «Wutbürgern» erzählt, welche der EU und deren (neo-)liberalem Getue innerhalb absehbarer Zeit den Garaus machen könnten. Noch braucht man im Allgemeinen den Konjunktiv: Es könnte, wenn nicht …

Wenn nicht was? Wenn «man» nicht an der Personenfreizügigkeit schraube? Wenn man nationale Identität nicht endlich wieder als des Menschen einzig normale Verortung in seiner Gesellschaft betrachte? Oft gerade diesbezüglich meinungslos wird dergleichen im Prinzip Beliebiges, weil schlicht Unfassbares als ziemlich einziges Zeitphänomen dargestellt – was angesichts der herrschenden Vielfalt in den meisten europäischen Staaten und deren heterogen zusammengesetzten Gesellschaften nicht stimmt.

Die auf Skandalsensation ausgerichtete «Berichterstattung» macht aus alltäglichen Mücken Elefanten, welche es gar nicht gibt.

Trotzdem serviert die medial auftretende «Öffentlichkeit» diesen «Wutbürgern» seitenweise und talkrundenlang in ständiger Zitierung ihre Stichwörter und tut dann verwundert, wenn dieses hechelnde Einknicken vor sektiererischen Erscheinungen auf Widerspruch stösst. (Wer spricht heute noch von Pegida? Man hat jetzt ja die AfD, eine Parteiorganisation mit Parteitagen und Führungsstruktur, an die man sich halten kann, also braucht man Pegida nicht mehr für die Sensationsnachrichten.) Widerspruch von «den Eliten», wie die Anpässler dann sofort erklären – auch wenn er in zahlreichen «eliteeinkommensfernen» Menschengruppen zu finden ist!

All die Moderatoren und Talkmeisterinnen postulieren aber, ganz auf ihre gar nicht diskussionsbereiten «Rechtspopulisten»-Gäste eingestellt, man müsse über gesellschaftliche Phänomene diskutieren lassen. Es existiere nun einmal keine heile Welt. Sie übersehen dabei am laufenden Band, dass gesellschaftliche Phänomene im Plural existieren. Sie stürzen sich seit ein paar Jahren allein auf eines, machen also aus dem Plural und damit der Realität einen Singular. Diese auf Skandalsensation ausgerichtete «Berichterstattung» macht aus alltäglich auftretenden Mücken ständig Elefanten, welche es gar nicht gibt.

Besoffene Provinzler als «nationales Nachrichtenthema»

Wenn in Dresden ein paar Hundert Schreihälse «Lügenpresse» gebrüllt haben, wurde dies in exakt dieser «Presse» tagelang in geradezu masochistisch vorgenommenem Kotau «dokumentiert». Wenn in irgendeinem ostdeutschen Kleinstädtchen ein paar Leute, die in TV-Filmchen erkennbar, teilweise zumindest, angetrunken waren, wüste Drohungen gegen Flüchtlinge oder die Bundesregierung ausstiessen, konnten diese Gruppierungen sicher sein, ein «nationales Nachrichtenthema» zu werden, gleichentags, ohne Berücksichtigung eines Filters etwa der Grössenordnung, dass ungefähr 80 Millionen Menschen in Deutschland mit solcherlei «Wutdarstellung» nichts zu tun haben.

Wenn gegen Hetzer und Schreihälse Protest formuliert wurde, wurde er in der aufgeregt jedem rassistischen oder mordlüsternem Wutgeschrei hinterherrennenden Medienwelt übergangen oder kleingeredet, manchmal auch in irgendeine kriminelle Ecke geschoben – indem man von «Autonomen» schrieb oder sprach, als ob dieses Wort an sich bereits der Ausbund des Bösen schlechthin sei. Wenn es dann aber um Mord, um Hetzjagden gegen angeblich Fremdes, wenn es um die zahlreichen Brandsätze ging, welche von Rassisten gelegt wurden, wurde die Berichterstattung darüber im Allgemeinen sofort gebremst, wurde eher geschwiegen als recherchiert.

Und nun?
Macron: 66,1 %.
Le Pen 33,9 %.

Was bekommt man nun zu lesen. Was wird in Radio und TV an uns herangetragen? Nun schreiben und reden die gleichen Beschwörer des angeblich unmittelbar bevorstehenden Zerfalls der EU oder des Euro, dass Macron gar nicht wirklich gewählt worden sei, dass vielmehr Le Pen nur «noch nicht» gewählt sei. Macron werde wohl scheitern, dann sei in fünf Jahren Le Pen dran.

Macron stosse auf Widerstand.

Erst einmal:
Ja, das ist so. Jede Politikerin, jeder Politiker in demokratisch verfassten Staaten stösst immer wieder auf Widerstand.

Zudem:
Ich persönlich weiss, dass ich bei all den Wahlen und Abstimmungen, an denen ich mein Leben lang teilgenommen habe, immer auch «gegen» Parteien oder Personen und gegen Abstimmungsinhalte gewählt und gestimmt habe, ohne dass ich mit Überzeugung für «die anderen» gestimmt oder sie gewählt hätte. Anders gesagt: Ich habe sehr oft einfach das in meinen Augen kleinere Übel gewählt.

Da diese Feststellung vermutlich nicht nur für mich, sondern auch für viele kommentierende Chefredaktoren oder Chefkorrespondenten gilt, wird dieses Grundphänomen demokratisch ablaufender Wahlen (oder Abstimmungen) einfach nicht genannt. Würde man es berücksichtigen, wäre ein schöner Teil der Schauergeschichtenproduktion von selber entkräftet, hätte man weniger Skandalträchtiges zur Verfügung.

Wenn eine klare Niederlage zum halben Sieg wird

Anstatt zuzugeben, dass man sich mit dem seit Monaten beschworenen angeblich möglichen oder gar wahrscheinlichen Einzug von Le Pen in den Elysée-Palast ganz gehörig verschätzt hatte, begibt man sich weitherum in die Position der Prophetie über die angeblich «letzte Chance» der «alten» Konzepte wie der Parteien-Demokratie gegenüber dem rassistisch-faschistischen Programm von Le Pen und Konsorten. Und übersieht dabei, dass in Frankreich gerade ein Mann die Präsidentenwahlen gewonnen hat, der eben kein Parteiexponent ist – was über 20 Millionen Wahlberechtigte offensichtlich nicht daran gehindert hat, ihm ihre Stimme zu geben.

Durchgesetzt hat sich dieser Mann im Übrigen gegen eine typische Parteivertreterin, die ihren Wahlkampf vor allem mit Darlehen einer russischen Bank und der illegalen Abzweigung von Geldern aus dem EU-Parlament finanziert hat.

Diese Art Finanzierung ist nun allerdings für manche Partei in manchem europäischen Staat typisch. Nicht die «russische Bank» als Financier, aber anonyme Grossspender, welche dann die Rechnungen an die von ihnen unterstützte Parteipolitik zu stellen pflegen. In der Schweiz, daran sei hier erinnert, darf das alles anonym passieren. Immerhin hat diese typische Fremdfinanzierung ihres Wahlkampfs Le Pen nicht zum «Sieg» verholfen.

Dass mit ihr auch ihre Partei, der Front National, verloren hat, ist zwar klar, wird aber in sehr vielen Kommentaren entweder übergangen oder ins halbe Gegenteil, nämlich in einen «halben Sieg» umgedeutet.

Anhaltende Katastrophenwarnungen

So schreibt der Chefredaktor der Tagesanzeiger-Gruppe, nachdem er die Situation in Frankreich als eine riesige Katastrophe dargestellt hat – was mindestens eine massive Übertreibung darstellt und in vielerlei Hinsicht, auch in gesamtwirtschaftlicher, vielfach nicht stimmt – in seinem Wahlkommentar: «Dass ein Drittel der Wähler für Marine Le Pen gestimmt hat, ist die letzte Warnung. Le Pen wird nicht ruhen. Misslingt Macrons Reformprojekt, wird sie in fünf Jahren die Mehrheit holen.»

Ich zitiere diese beiden Sätze, weil sie keineswegs solitäre Erscheinungen nach der französischen Präsidentschaftswahl sind, sondern sehr typische. Diese Kommentarmelodie soll darüber hinwegtäuschen, dass Macron die Präsidentschaftswahl mit Zweidrittelmehrheit gewonnen hat.

Was dabei nicht oder kaum berücksichtigt wird:
Macron hat bezüglich Frankreich und der EU eine Programmatik ohne Hintertürchen-Phraseologie für institutionelle Veränderungen zugunsten des Euro und einer «Wirtschaftsdemokratie» ins Zentrum seines Wahlprogramms gestellt. Er hat in seinen Auftritten die EU als festen Bestandteil seiner Politik dargestellt. Ob er seine Programmideen ohne Abstriche durchsetzen kann? Wahrscheinlich ist das nicht. Aber es ist wahrscheinlich, dass seine Regierung eine Diskussion darüber anstiften kann, aus der heraus sich gewisse Reformschritte in Richtung einer gemeinsamen Finanz- und Wirtschaftspolitik innerhalb der EU ergeben können. Nicht heute, nicht sofort, aber in absehbarer Zeit.

Sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern ist bewusst, dass Politik keine Entweder-Oder-Angelegenheit ist.

Es war für die meisten Wählerinnen und Wähler klar: Wenn sie Macron wählen, wählen sie eine Politik, die den Fortbestand der EU als Ausrichtung der französischen Politik garantiert. Sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern ist im Gegensatz zu den Chefkommentatoren der «Leitmedien» in Europa bewusst, dass Politik keine Entweder-Oder-Angelegenheit ist, sondern geprägt von Prozessen, die von zahlreichen sich oft weit auseinander abspielenden gesellschaftlichen Heterogenitäten bestimmt werden.

Das dürfte auch im Fall von Macrons programmatischen Vorstellungen, mit denen er seinen Wahlkampf geführt hat, zutreffen.
Le Pen wollte erst einmal den «Frexit» aus dem Euro, dann, weil sie sich die Unterstützung eines gaullistischen Sprengkandidaten holte, irgendeine Mischwährung, um dann mit einer dem Brexit nachgemachten Frexitdrohung Austrittsspielchen mit Erpressungen aller Art zu verbinden.

Diese beiden Positionen, EU ja, Weiterentwicklung ja, mehr gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik ja, vertreten durch Macron, und anderseits «France first» und dergleichen der Trump-Beliebigkeit nachgeschwatzte Leerformeln mehr, propagiert durch Le Pen, sind völlig klar zur Wahl gestanden.

Mit 66,1 Prozent haben die Wählerinnen und Wähler bei einer Wahlbeteiligung von 74,5 % die Programmatik von Macron gewählt.
Das ist nun einfach eines: Eindeutig.

Abschied von der Einstimmigkeit

Diese Eindeutigkeit wird auch durch das Faktum, dass es viele Leerstimmen gab (laut «Le Monde» etwa 4 Millionen, durchaus eine bemerkenswerte Zahl), nicht beeinträchtigt. Der Unterschied im Wahlergebnis zwischen Macron und Le Pen ist eindeutig. Macron erhielt 20,8 Millionen Wählerstimmen, Le Pen deren 10,6 Millionen. Insgesamt sind mit den Leerstimmen zusammen rund 35,4 Millionen Stimmen abgegeben worden. Die 20,8 Millionen Stimmen für Macron machen 58,75 % aller abgegebenen Stimmen aus. Das ist sehr deutlich, vor allem auch gegenüber den 29,95 % Stimmenanteil, welche Le Pen von allen abgegebenen Stimmen erhalten hat.

Es ist meiner Ansicht nach an der Zeit, dass das mediale Einheitsgetöse über die angeblich stattfindende Wut der «Abgehängten» endlich infrage gestellt wird. Und zwar unter anderem auch von jenen Medienschaffenden, die mit den Chef- oder den Verlagsleitlinien nicht einverstanden sind. Es ist durchaus auch «internes» Infragestellen notwendig, um sowohl sprachlich als auch analytisch wieder auf einen Level zu kommen, der sich von der – immer falschen, weil völlig unrealistischen – «Einstimmigkeit» verabschiedet.

Man muss Fragen stellen: Was soll denn in Europa, in der Schweiz, in Frankreich usw. anders gemacht werden? Soll man den Rechtsstaat aushebeln oder die Menschenrechte «vorübergehend» abschaffen?

Soll man den Blochers/Köppels, den Straches, den Wilders oder dem FN nachgeben»? Soll man die Personenfreizügigkeit aufheben? Soll man Ausschaffungen von Flüchtlingen en masse organisieren anstatt genaue und natürlich anstrengende prozessorientierte Beschäftigung mit dem Phänomen der Flucht von Abermillionen Menschen zu unternehmen?

Die EU ist nicht infrage gestellt

All die Katastrophengeschichten über die EU oder über die Wut, welche der Politik des Kompromisses angeblich den Garaus mache, werden durch Wahlresultate wie jenes in Österreich (eher knapp), in den Niederlanden (sehr deutlich) und in Frankreich (ebenfalls sehr deutlich) entschärft. Die Geschichten stimmen so, wie sie vor Wahlen sowohl in den Niederlanden als insbesondere auch in Frankreich en masse publiziert worden waren, einfach nicht. Österreich, die Niederlande und Frankreich sind nicht mit den USA gleichzusetzen.

Und die Institutionen der EU sind in Frankreich real nicht infrage gestellt, nicht in Deutschland und Polen – wie man immer wieder an den grossen Demonstrationen gegen die Nationalisten sehen kann –, geschweige denn in Spanien, Portugal oder in Irland.

Es ist an der Zeit, dass diese Fakten auch in der deutschsprachigen Medienwelt endlich wieder zur Kenntnis genommen werden.

Und: Wer heute mehr oder weniger apodiktisch formuliert, was in fünf Jahren politisch sein werde, stellt keineswegs eine seriöse Voraussage in den Raum.

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