Warum wir nicht vergessen dürfen

Zweiter Weltkrieg, Völkermord an den Armeniern, Vietnam – Unser Autor über die Gefahr von automatisiertem und fehlendem Gedenken. Vor allem aber über die selektive Wahrnehmung von historischen Schreckenstaten.

German Chancellor Angela Merkel (L) attends a wreath laying ceremony at the memorial in the former German Nazi concentration camp in Dachau near Munich, Germany May 3, 2015, to mark the 70th anniversary of the camp liberation by the U.S. army on April 29, 1945. REUTERS/Michaela Rehle (Bild: MICHAELA REHLE)

Zweiter Weltkrieg, Völkermord an den Armeniern, Vietnam – Unser Autor über die Gefahr von automatisiertem und fehlendem Gedenken. Vor allem aber über die selektive Wahrnehmung von historischen Schreckenstaten.

Sieben kurze Kapitel über das «Gedenken». Die Kapitel in der Übersicht (per Klick direkt zum Thema: I – Was bedeutet Völkermord? / II – Wo bleibt das Schweizer Gedenken? / III – Was ist mit dem ersten deutschen KZ in Namibia? / IV – Wer gedenkt der sogenannten «Indigenen Völker»? / V – Wo bleibt das öffentliche Echo? / VI – Was ist Gedenken wert? / VII – Ein Wort von Paul Celan zum Schluss.

I

Vor 100 Jahren haben Militär und Polizei des noch existierenden osmanischen Reiches in der Türkei über 1,5 Millionen Menschen armenischer Herkunft innerhalb weniger Monate «liquidiert».
Dieses Verbrechens zu gedenken, verlangt sowohl der Respekt vor den Getöteten und deren Nachfahren als auch der Respekt vor dem Wissenskatalog der Menschheit. In diesem Katalog ist der 1915/16 durchgeführte Mord an Hunderttausenden Armeniern aus dem offensichtlich einzigen wirklichen Motiv, Menschen deswegen zu töten, weil sie von Herkunft Armenierinnen, Armenier gewesen sind, als Völkermord vermerkt.

Was bedeutet der Begriff «Völkermord»? Artikel 2 der UN-Völkermordkonvention, verabschiedet am 11. Dezember 1946, definiert Völkermord wie folgt:

«In dieser Kon­ven­tion bedeutet Völk­er­mord eine der fol­gen­den Hand­lun­gen, die in der Absicht began­gen wird, eine nationale, eth­nis­che, ras­sis­che oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teil­weise zu zerstören: Tötung von Mit­gliedern der Gruppe; Verur­sachung von schw­erem kör­per­lichem oder seel­is­chem Schaden an Mit­gliedern der Gruppe; vorsät­zliche Aufer­legung von Lebens­be­din­gun­gen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre kör­per­liche Zer­störung ganz oder teil­weise herbeizuführen; Ver­hän­gung von Mass­nah­men, die auf die Geburten­ver­hin­derung inner­halb der Gruppe gerichtet sind; gewalt­same Über­führung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.»

Die gezielte Ermordung von armenischen Menschen in der osmanischen Türkei ab 1915 ist nach den Kriterien der UN-Völkermordkonvention in ihrer Faktizität Völkermord gewesen, weil nachweislich «Armenier» deshalb getötet wurden, weil sie Armenier waren, also qua Geburt irreversibel, unkorrigierbar dieser Gruppe von Menschen im osmanischen Staat angehört haben. Die Behauptungen aus den staatlich gelenkten türkischen Stellungnahmen, wonach es sich um die damalige staatliche Reaktion auf einen «Aufstand», einen Revolutionsversuch «der Armenier» gehandelt habe, entspricht nicht den Fakten. Getötet wurden alle Menschen armenischer Herkunft, deren Armee und Polizei habhaft wurden. Es ist an der Zeit, dass dieser Völkermord endlich allgemein anerkannt wird. Ihn zu leugnen bedeutet, Geschichtsfälschung zu betreiben.

II

Dass der Deutsche Bundestag per Entschliessungsdiskussion dieses «Völkermordes» unter der ausdrücklichen angewandten Begrifflichkeit «Völkermord» gedenkt, ist bemerkenswert. Bemerkenswert deshalb, weil es Jahrzehnte gebraucht hat, bis der Begriff «Völkermord» im Bundestag und beim Bundespräsidialamt bezüglich des osmanisch-türkischen Massenmordes an Menschen armenischer Herkunft Eingang in die entsprechenden Redetexte gefunden hat. Grund dafür war vermutlich auch, dass die Verwicklung der reichsdeutschen Regierung unter Bethmann Hollweg und des reichsdeutschen Generalstabs, mindestens deren genaues und unmittelbares Mitwissen und eine gewisse deutsche Mitschuld an der Verdrängung der Tatsache des Völkermordes offensichtlich war und ist.

In der Schweiz, nebenbei gesagt, ist diesbezüglich gar nichts von Belang geschehen. Zur Erinnerung:

«(Bundesrat) Christoph Blocher hat bei seinem Türkei-Besuch Verständnis für die türkische Kritik an der Schweizer Haltung zur Armenierfrage geäussert. Er kritisierte die Strafverfahren, die in der Schweiz gegen zwei prominente Türken laufen, welche den Völkermord an den Armeniern leugnen. Blocher kündigte an, er lasse eine Änderung der Anti-Rassismus-Strafnorm prüfen, die das Leugnen von Völkermord verbietet.» (Quelle)

Gibt es im Gedenkjahr 2015 dazu vielleicht eine, damaliges relativierende, Äusserung von Blocher oder von Seiten der SVP?

Gedenken an eigene Verstrickungen etwa in die europäische Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 sind in der Schweiz – ähnlich wie zum Beispiel auch in Österreich – nicht nur unbeliebt, sondern eher für ein «Fachpublikum» als etwa im Bewusstsein einer aufgeklärten Öffentlichkeit ein Thema. Viel lieber schwafelt man da aktuell von angeblich sinnstiftenden «Mythen» namens Morgarten oder Marignano. Bei etwas Bewusstsein für historische und auch für aktuelle Zusammenhänge erkennt man sofort: Eine Folge von Peinlichkeiten, von Faktenerfindung, willkürlicher Faktenumdeutung und auch Faktenfälschung erster Grössenordnung!

III

In Deutschland ist, angefangen mit den ersten Auschwitzprozessen in Frankfurt am Main ab 1963, nach und nach eine Erinnerungskultur an den von Deutschland (und den Deutschen) zu verantwortenden systematischen Völkermord an den europäischen Juden zwischen 1941 und 1945 entwickelt worden. Die Fakten sind heute – sieht man von Holocaustleugnern überall in Europa, auch und gerade in der Schweiz, ab – im allgemeinen Bewusstsein fest verankert.

Das Erinnerungsjahr 2015, 70 Jahre nach der «Befreiung» der deutschen Vernichtungslager Auschwitz, Treblinka usw. durch die Rote Armee, ist die Erinnerungskultur in Deutschland einerseits etabliert. Dies birgt die Gefahr eines Automatismus und einer gewissen unverbindlichen Schwätzerei bei Sonntagsreden in sich.

Anderseits existiert für das Gedenken innerhalb der weitgefächerten und durchaus heterogen zusammengesetzten deutschen Gesellschaft eine Sprache, welche frei von Pathos den Faktizitäten in ihrer gesamten nachentwickelten Komplexität einigermassen gerecht wird. Das ist von grosser Bedeutung, scheint mir.

Ein Beispiel dafür:

Unter dem Titel «Der andere Völkermord» hat Paul Munzinger in der «Süddeutschen Zeitung» vom 28. April 2015 über die systematische Ermordung von zahlreichen Angehörigen der Herero und der Nama durch die deutschen Kolonialherren geschrieben:

«In den Jahren 1904 bis 1908 ermordeten kaiserliche Truppen im heutigen Namibia etwa 90’000 Angehörige der Herero und Nama – aus Vergeltung. Die Stimme hatten sich gegen die Kolonialherren erhoben. Wer nicht erschossen wurde, den trieben die Deutschen zum Sterben in die Omaheke-Wüste. Auf der Haifischinsel errichteten sie ihr erstes Konzentrationslager, die Gefangenen arbeiteten sich zu Tode oder verhungerten. Nicht einmal ein Drittel der Herero und nur die Hälfte der Nama überlebten».

Gedenken? Verständnis für die heute lebenden Nachfahren der wenigen Überlebenden? Wiedergutmachungen?

Gedenken etwa an die Sprache des Vernichtungsbefehls, welche der deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha: «Innerhalb der deutschen Grenze [d.h. in «Deutsch Südwestafrika!», Anmerkung des Autors] wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auch auf sie schiessen.»

Immerhin ist es der Redaktion der «Süddeutschen Zeitung» eingefallen, über diesen vor etwas mehr als 100 Jahren vollzogenen Völkermord, befohlen durch eine europäische Grossmachtregierung, anlässlich der offiziellen deutschen Gedenkbemühungen über den von der Regierung einer absterbenden nahöstlich-südeuropäischen Grossmachtregierung vor 100 Jahren befohlenen – und vom Deutschen Reich durchaus mitgetragenen – Völkermord an 1,5 Millionen Armenierinnen und Armeniern zu berichten.

Gedenken auf privater Basis quasi. Aber: Ein erster Schritt ins öffentliche Bewusstsein.

IV

So genannte «Indigene Völker» wurden seit Beginn der europäischen «Neuzeit» durch europäische Mächte, von der spanischen Conquista im späten 15. Jahrhundert über portugiesische, niederländische, britische und französische «Handelsstützpunkte», «Landeroberungen» und «Kolonisationen» bis hin zu den belgischen und deutschen Kolonien in Afrika weltweit und immer wieder systematisch aus ihren Lebensbereichen verdrängt. Als «widerspenstige Stämme», die den Kolonialmächten aus diversen Gründen im Wege standen, wurden ganze Völker in «Reservate» eingesperrt oder – wiederum systematisch – vernichtet.

Unzählige Millionen Menschen fielen der brutalen Vernichtungsgewalt der europäischen Weltherrschaft im Verlauf der letzten 500 Jahre zum Opfer. Menschen, ganze Menschengruppen und Völker wurden in die Verelendung und in den sicheren Tod getrieben, indem zum Beispiel deren Lebensgrundlagen aus schlichtem ökonomischen Profitstreben zerstört wurden – was bis heute alltäglich stattfindet, etwa in Afrika (Ölförderung in Nigeria, bloss zum Beispiel!).

Gedenken daran?

Mindestens öffentliches Gedenken an das Zurückdrängen, das Vertreiben und schliesslich die Ermordung Zehntausender «Indianer», «Rothäute» in der sich immer weiter nach Westen ausdehnenden USA des 18. und 19. Jahrhunderts?

Anerkennung von früherem oder aktuellem, gemessen an einfachsten Regeln des menschlichen Zusammenlebens schuldhaftem Verhalten von Kolonialherren, von Militärs, von Kapitalgesellschaftsträgern, von Bankern und Warenbörsenspekulanten, wie bereits erwähnt bis zum heutigen Tag?

Es existiert im Westen insgesamt kaum ein allgemein anerkanntes Bewusstsein, vor allem kein öffentlich vollzogenes Gedenken an diese Vergangenheit.

V

Was heute jenseits von institutionalisiertem Gedenken an Vergangenes und an Versuchen, mit Hilfe von Gedenkkulturen Aufklärung zu schaffen, an Anstrengungen für die Verhinderung von Völkermord und Lebensvernichtung existiert?

Es existiert eine Öffentlichkeit für das heutige lebensvernichtende Verhalten von gewissen ökonomischen Strukturen. Man kann sich informieren. Auch die zahlreichen Verbrechen an Menschen sind heute oft ziemlich genau dokumentiert.

Nur:

Zwischen der Dokumentation von Mord, von Völkermord genau so wie von machtpolitisch begründeter militärischer Todesgewalt gegen die Bewohner ganzer Staaten oder von Staatsbezirken auf der einen Seite und deren Verhinderung sowie deren dringend notwendiger – weltgerichtlichen – Ahndung ohne Rücksicht auf die Herkunft von Tätern auf der anderen Seite klafft eine riesige Lücke. Gewisse Täter standen oder stehen vor den Tribunalen der UNO in Den Haag, Täter aus den Bürgerkriegen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda und Burundi sowie in westafrikanischen Staaten.

Vor diesen Tribunalen werden die Gewalttaten, die Morde, die Entrechtungen erst einmal genannt. Sie werden als Verbrechen, als kriminelle Straftaten, als gegen das Menschliche gerichtete Taten definiert. In langwieriger Arbeit wird Aufklärung aufgebaut.

Das Echo in der breiteren Öffentlichkeit ist, sieht man von spektakulären Anfangsberichten ab, gering.

Das hat auch damit zu tun, dass der Eindruck besteht, nur «kleine Nummern» aus der Internationale der Staatsverbrecher stünden vor den Haager Tribunalen.

VI

Was ist es wert, durch Gedenken im Gedächtnis der Menschheit präsent zu bleiben?

Der Vietnamkrieg, an dessen Ende 1975 man dieses Jahr zum 40. Mal erinnert wird, von Kennedy in Ansätzen von Eisenhower «geerbt», wurde durch Präsident Johnson mit einer Lüge zum grossen Boden- und Luftbombardementkrieg ausgeweitet: Die sogenannte «Tonkin-Resolution» im August 1964 im Kongress, von Johnson als Kriegserlaubnis gebraucht, beruhte auf der Lüge, dass ein Angriff von nordvietnamesischen Kanonenbooten auf die US-Zerstörer «Meddox» und «Turner Joy» im Golf von Tonkin stattgefunden habe. Der Angriff war aber eine US-eigene Inszenierung.

Die Folge: Weit über eine Million Tote unter der Zivilbevölkerung Vietnams, aber auch – was am laufenden Band übersehen, nicht genannt, vertuscht wird – das Pol-Pot-Regime mit seinem Völkermord am eigenen Volk, welches auf die US-Marionettenregierung Lon Nol’s in Kambodscha, nachdem der CIA die kriegsneutrale Regierung unter Prinz Sihanouk gestürzt hatte, folgte.

Und:

Bis heute Hunderttausende Opfer – Stichwort: vererbte Vorgeburtsschäden – des US-Giftgaskrieges gegen die Zivilbevölkerung auf dem Land (so genannte Entlaubung) mit «Agent Orange».
Wer wurde für diese Verbrechen zur Verantwortung gezogen ?

Ein paar durch Kriegswirren verrückt gewordene Soldaten wurden für begangene Gräueltaten zu Gefängnisstrafen verurteilt.

Ein paar Generale wurden strafversetzt.

Ansonsten: Nichts.

Existiert ein Gedenken für die unzähligen Kriegsopfer in Vietnam?

Gar eines, welches zum Beispiel auf so etwas wie Reuekundgebungen US-amerikanischer oder australischer, kanadischer oder auch Nato-europäischer Politik gegenüber den Vietnamesen für die Bombardements, die Giftgasfolgen aufbauen würde?

Nun, so etwas ist «dem Westen» offenbar nicht zuzumuten.

Vielmehr das Folgende, vermutlich angerührt, damit man die «Deutungshoheit» über neuere Geschichte wieder zurückerhält:

Neuerdings wird in gewissen Think Tanks in den USA versucht, dem von den USA grausam, unter Einschluss von unkontrolliertem Mord an der Zivilbevölkerung geführten Vietnamkrieg die Geschichte einer moralisch übergeordneten Notwendigkeit gegen «Unrechtsregimes», für einen angeblichen «Freiheitskampf» des vietnamesischen Volkes, überzustülpen.

Damit könnte man dann auch, einer mindestens national eingerichteten «Gedenkkultur» entsprechend, in einigen Jahren das näher liegende völkerrechtsverletzende Verbrechen von Bush, Blair und Co., welche den zweiten Irakkrieg ebenfalls mit einer Lüge als Angriffskrieg planten und begannen, in eine historisch sich angeblich als notwendig erweisende gewaltige militärische Vernichtungs-Intervention von hohem moralischem Wert umdeuten.

VII

Zum Schluss, weil es meiner Ansicht nach zum Begriff «Gedenken» passt:

ZUVERSICHT
Es wird noch ein Auge sein,
ein fremdes, neben
dem unsern: stumm
unter steinernem Lid

Kommt, bohrt euren Stollen!

Es wird eine Wimper sein,
einwärts gekehrt im Gestein,
von Ungeweintem verstählt,
die feinste der Spindeln.

Vor euch tut sie das Werk,
als gäbe es, weil Stein ist, noch Brüder.

Paul Celan

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