Zivilcourage ist ein Fremdwort für die westliche Aussenpolitik

Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Malala Yousafzai und Kailash Satyarthi würdigt das Nobelpreiskomitee zwei Menschen, die humanitäre Prinzipien in ihrer Lebensrealität umgesetzt haben – unter Einsatz ihrer eigenen Sicherheit. Im Kontrast dazu steht das Gebaren westlicher Regierungen, wenn es um die Durchsetzung von Menschenrechten geht.

Combination photo shows the two winners of the 2014 Nobel Peace Prize Indian children's right activist Kailash Satyarthi (L) laughing at his office in New Delhi and Pakistani schoolgirl Malala Yousafzai speaking at Birmingham library in Birmingham, centra (Bild: STAFF)

Mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an Malala Yousafzai und Kailash Satyarthi würdigt das Nobelpreiskomitee zwei Menschen, die humanitäre Prinzipien in ihrer Lebensrealität umgesetzt haben – unter Einsatz ihrer eigenen Sicherheit. Im Kontrast dazu steht das Gebaren westlicher Regierungen, wenn es um die Durchsetzung von Menschenrechten geht.

Das Nobelpreiskomitee in Oslo hat den diesjährigen Friedensnobelpreis Malala Yousafzai aus Pakistan und Kailash Satyarthi aus Indien zugesprochen.

Ein inzwischen 17-jähriges Mädchen, das seit Jahren für Bildung, für Mädchenrechte, auch und besonders für alltägliche zivile Rechtssicherheit gebloggt und gekämpft hat und deshalb von Talibanmännern angeschossen wurde und beinahe sein Leben verloren hat.

Ein sechzigjähriger Mann, der seit seinem 26. Altersjahr mit der von ihm begründeten Organisation «Bachpan Bachao Andolan» (Bewegung zur Rettung der Kindheit) gegen die in Indiens Armutsmassen sehr verbreitete Kinderarbeit und gegen den Verkauf von Kindern an Sklavenhändlerringe gekämpft und zehntausende Kinder aus widerlichen Sklavenverhältnissen befreit hat.

Beide Nobelpreisträger leben ein existentielles Engagement gegen Willkür, gegen Unterdrückung, gegen die Verherrlichung dogmatisierter Religionsansprüche und gegen das «Entweder-Oder» einer Bürger- und Religionskriege, Mord und Vergewaltigung produzierenden Umwelt.

Das Friedensnobelpreiskomitee hat zwei Menschen, welche humanitäre Prinzipien in ihre Lebensrealität umgesetzt haben, ausgezeichnet und deren Engagements in den Zusammenhang mit dem Begriff «Frieden» gebracht.

«Unsere» humanitären Werte finden die Anerkennung, die ihnen bezüglich friedlicher – oder soll ich schreiben friedensfähiger? – gesellschaftlicher Verhältnisse gehört. Allerdings kann unsere Aufmerksamkeit, einmal von der ersten Nachrichtenblendung befreit, auf ein interessantes Phänomen stossen: «Unsere», also die häufig zitierten «westlichen» Werte, werden offensichtlich beispielhaft verteidigt durch eine Muslima und durch einen Hindu!

Die westlichen Werte werden beispielhaft verteidigt durch eine Muslima und durch einen Hindu!

Diesen Hinweis des Komitees haben die aktuell redenden, filmenden und schreibenden Tagesnachrichtenkommentatorinnen und -kommentatoren, die ich zur Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises gehört und gelesen habe, überhaupt nicht oder nur sehr kleingeschrieben am Rande erwähnt. Umso mehr war dafür von den Taliban die Rede, welche das Mädchen Malala in ihrem grünen Heimattal im Nordosten Pakistans bedroht und zusammen mit zwei Schulkolleginnen im Schulbus beinahe zu Tode geschossen hatten. Und es war, weniger ausführlich insgesamt, die Rede von rückständigen Verhältnissen auf dem Land in Indien, denen sich ein studierter Elektroingenieur ab seinem 26. Altersjahr entgegengestellt hat.

Die Preiszuteilung des Friedensnobelpreiskomitees für 2014 lädt zum Nachdenken ein. Erstens gibt sie Anlass, die Realität der menschenrechtlichen, der völkerrechtlichen, der systemischen Lebens-Situationen als Teil eines angeblich definierten westlichen Wertesystems zu bedenken, aber auch, wie darüber in der globalisierten Nachrichtenwelt berichtet wird.

Was auffallen kann, wenn man etwas genauer hinschaut: Unsere sprachlich bezüglich Menschenrechte, Völkerrecht oder Demokratie auf wenige Begriffe eingeschränkte Nachrichtenvermittlung erklärt selten, was denn nun in jeweils konkret auftretenden Situationen unter «humanitären» Werten, was unter «gelebten Menschenrechten», was unter dem Allerweltstitel «Demokratie» zu verstehen ist. Diese Sprachgewohnheiten sind völlig interpretationsoffen.

Das heisst: Was «man» unter «Menschenrechten» versteht, ist – machtpolitisch, bündnispolitisch, wirtschaftspolitisch – im Westen zwar ständig in allen PR-Medienoffensiven verbal, dem reinen Wortgebrauch nach in zahlreich publizierten oder distribuierten Erscheinungen (pro Tag) vorhanden, aber keineswegs allgemein und verständlich definiert. Schon gar nicht definiert existent in konkreten, erlebbaren Details, welche alltäglich Milliarden Menschen betreffen können.

Die Begriffe, welche die westliche Wertesystematik benennen, werden medial vornehmlich dann eingesetzt, wenn deren Mangel oder deren Nichtexistenz in bestimmten Staaten oder in bestimmten Machtverhältnissen kritisiert oder, was weit öfter vorkommt, an den Pranger gestellt werden soll. Aus Gründen, die oft genug bloss mit politischen oder ökonomischen Machtpositionsbestimmungen – Interessen genannt – zu tun haben.

Menschenrecht ist nicht gleich Menschenrecht

Wenn eine Delegation chinesischer Politiker sich mit einer Delegation beispielsweise deutscher Politiker trifft, kann man sicher sein, dass der offizielle Sprecher der deutschen Regierung anlässlich der bei solchen Veranstaltungen üblichen Pressekonferenzen «in aller Offenheit» betont, «man» habe gegenüber den chinesischen Gästen in «mit Nachdruck und kritisch die Menschenrechtssituation in China» angesprochen.

Natürlich gibt es für solche Kritik an chinesischer Machtstrukturauswirkung auf die Freiheit chinesischer Individuen oder gesellschaftlicher Minderheiten genügend Anlass.

Wenn gegenseitige Regierungskonsultationen zwischen der US-Regierung und der deutschen Regierung stattfinden, kann man sicher sein, dass der Sprecher der deutschen Bundesregierung das Wort «Menschenrechte» oder gar den Begriff «Völkerrecht» bezüglich der permanenten Verletzung menschenrechtlicher und völkerrechtlicher Grundsätze durch US-Regierungshandlungen (Guantanamo, gezielte Drohnentötungen ausserhalb strafrechtlich vorgeschriebener Abläufe, um zwei Beispiel zu nennen) nie, wirklich niemals in den Mund nehmen wird. Auch deshalb nicht, weil man sich in der «engen transatlantischen Freundschaft» gegenseitig schon vertrauen sollte, wie es oft genug und vor allem abschliessend heisst. Ausser man werde von diesem engen Freund als Regierungschefin abgehört. Das gehört sich dann natürlich schon nicht. Wenigstens nicht vor aller Öffentlichkeit. Aber: Weggewischt, als Einzelfall abgetan! Nicht als massiven Rechtsbruch und vor allem nicht als systematisch vorgenommenen Bruch der menschenrechtlich garantierten Freiheit der Meinung, der Forschung, des Glaubens verstehen oder gar darstellen wollen. Obwohl es genau dieses ist: Ein massiver Rechtsbruch gegenüber rechtsstaatlich garantierten Rechten, begangen durch westliche Staaten. Gegen diese Rechtsbrüche nicht eintreten, sie so quasi als unwichtig oder gar als nicht Geschehenes hinzustellen, gilt wohl sowohl bei vielen Medien als auch bei vielen Politikern nicht nur in Deutschland als «Dienst an der transatlantischen Freundschaft», die auf einem «gemeinsamen Wertesystem» beruhe.

Unsere schädliche Parteilichkeit

Diese erkennbar inszenierte Parteilichkeit schadet sehr vielen Menschen weltweit, welche gezwungen sind, für ihre «Freiheit», für Meinungsfreiheit und für jene Rechte, welche menschliches Leben den westlichen Standards entsprechend auch in heterogenen Strukturen erst wirklich lebenswert machen, Unbequemlichkeit bis hin zu Verfolgung und mehr, Folter beispielsweise, in Kauf zu nehmen.
Diese Parteilichkeit untergräbt die Glaubwürdigkeit, und zwar erst einmal jene der Werte an sich und dann natürlich auch jene der Regierungen, der Staaten, der Gesellschaften, der «Freiheit der Rede», in deren Namen sie reklamiert werden – oder wahlweise, willkürlich von irgendwelchen «Sicherheitsinstanzen» bestimmt, eben nicht.

Im ersten Fall entpuppen sich die Menschenrechtsbegriffe für sehr sehr viele Menschen vor allem auf der südlichen Halbkugel als reine Papiertiger. Die Rechte werden erfahrungsgemäss gerade auch von westlichen Machtstrukturen bewusst nicht eingehalten, wenn es um wirkliche Macht über oder im Alltagsleben geht – beispielsweise um jene von Shell oder BP im Nigerdelta, wo die Lebensgrundlagen (das Trinkwasser) von Dutzenden Millionen Menschen aus reinen Renditegründen systematisch zerstört werden und die verzweifelten Versuche der Bevölkerung gehört zu werden, dort, wo man dieses Vernichten stoppen könnte, nämlich in den westlichen Regierungszentralen, sofort als «terroristisch» verunglimpft werden.

Im zweiten Fall ist schon längst klar, dass «das Recht» philosophisch verstanden an sich und in all seinen rechtsstaatlich existierenden Formen immer allgemeingültig ist, es aber aus politischen, aus ökonomischen oder auch aus ideologischen Gründen in einzelnen Staaten durch Machtausübende oder durch militärische Potenzen bestehender «Interessenwahrnehmungen» im Kleinen wie auf ganzen Kontinenten ausser Kraft gesetzt wird. Das kodifizierte Recht steht realen Machtstrukturen in Politik, Wirtschaft oder Militär sehr oft, wenn nicht im Prinzip eigentlicherweise oppositionell gegenüber.

Darauf weist die Vergabe des Friedensnobelpreises 2014 hin.

Ein Mädchen, welches für sich eine eigenbestimmte persönliche und damit auch kulturelle Identität in Anspruch nimmt, weist in seinen Auftritten auf Werte hin, die das Recht schützen muss:
Das Recht auf Bildung, unabhängig vom Geschlecht – oder von sonst irgend einer herkünftlichen Heterogenität zu «herrschenden Verhältnissen».

Ein Mann aus Indien, in jungen Jahren zum Elektroingenieur ausgebildet, also vermutlich aus einer privilegierten Schicht stammend, erkennt, dass die real existierende indische Kastenwelt unter anderem den Kindern unterer Schichten trotz der Garantien der indischen Verfassung keine Bildung vermitteln will, sie vielmehr als Sklavenarbeitskräfte missbraucht und damit um ein sich entwickelndes Leben bringt. Seine Organisation klärte auf und befreite zugleich zehntausende Kinder aus Sklavenverhältnissen.

Mutige, couragierte Menschen wie Kailash Satyarthi haben das Verdienst, dass wir in Europa über die Kinderarbeit in den Textil-Produktionsstätten in Indien, Bangla Desh und Sri Lanka sehr genau Bescheid wissen. Dieses Bescheidwissen bleibt allerdings im meistens rechtsleeren, mindestens bewusst rechtsdurchsetzungsschwach gehaltenen Raum der so genannten «Welthandelsfreiheit» westlicher Textilhändler und westlicher regierungsausgegehandelter «Handelspolitik» wirkungslos stehen, wenn es – zum Beispiel – konkrete alltägliche Veränderungen zu Gunsten der versklavten Kinder bewirken sollte.

Zivilcourage als täglicher Akt

Das führt mich zu einer zweiten Überlegung, welche ich auf Grund der Verleihung des diesjährigen Friedensnobelpreises etwas ausführen will: Sie handelt von der Zivilcourage.

Es fordert viel Mut, mitten in talibankontrolliertem Land im Nordosten Pakistans als Mädchen zur Schule zu gehen. Viel Mut aufbringen mussten und müssen dazu nicht nur die vielen Mädchen, welche wie Malala Yousafzai täglich zur Schule gefahren werden müssen. Viel Mut aufbringen mussten und müssen die Eltern dieser Mädchen, welche sich den Zwangsvorstellungen der Talibanmänner nicht beugen wollen. Viel Mut aufbringen mussten und müssen die Lehrkräfte jener speziellen Mädchenschulen, die überall in Pakistan von Lehrerinnen, von Eltern, von Frauenorganisationen geführt werden. Viel alltäglichen Mut mussten und müssen auch die Buschauffeure aufbringen, welche die Mädchen zu ihren Schulen fahren.

Mut, den wir uns in unserer «westlichen Ordnung» weder vorstellen noch zumuten wollen und müssen. Mädchenbildung ist in vielen Gegenden in Pakistan, in Afghanistan oder auch im wahhabistisch strukturierten Saudi-Arabien – sofern man dort nicht einer oberschichtigen Familie angehört – nur möglich, wenn alle Beteiligten einen hohen Grad an alltäglich aufzubringender Zivilcourage aufbringen. Wohlverstanden: täglich, jahrein, jahraus. Und schliesslich viele Jahre lang ununterbrochen.

Geschäft geht vor Moral

Auf der Ebene westlicher Grossraumpolitik, Geopolitik genannt, gehören aber Saudi-Arabien und Katar – eindeutig staatliche Finanzierer von sunnitisch-wahhabistischen sektiererischen Allmachtsphantasien über «den Islam» oder über «die Gottlosen» und so weiter – zu den «Verbündeten».

Woher haben Al Kaida oder IS, woher haben all die Dschihadisten ihre Kommunikationsstrukturen, ihre Waffen, ihre Gelder zur Bezahlung von Söldnern aus aller Welt?
«Man» weiss es.

Aber man getraut sich nicht, die Mitfinanciers des islamistischen Terrors zur Rede zu stellen. Die ganze westliche Interessenpolitik dienert sich sektiererisch gesinnten Prinzengarden an, kürzlich, äusserst peinlich, zum schlichten Fremdschämen für jedermann, der auch nur im entferntesten um Zusammenhänge zwischen Katar und bewaffneten angeblich dschihadistischen oder sunnitischen oder sonstigen «Rebellen»-Söldnerheeren in Syrien oder im Irak weiss, die deutsche Bundeskanzlerin Merkel gegenüber dem Scheich von Katar, Tamim bin Hamad Al Thani. Der Regierungssprecher hatte nichts weiter zu vermelden als das Dementi dieses Scheichs über katarische Verbindungen zur IS oder zu anderen islamistischen Terrorgruppen. Und als «Beweis», dass man dem Scheich «glaubt» respektive «vertraut», gab er die Entscheidung von Merkel bekannt, die Ausfuhr einer grossen Zahl gepanzerter Militärfahrzeuge, also Rüstungsgüter, nach Katar zu bewilligen.

Kurz: Das real existierende westliche Modell heisst auch in diesem Fall: Geschäft geht vor Moral.

Courage ist offensichtlich ein Fremdwort für die westliche Aussenpolitik.

Wobei es sich bei der «Moral» um jene «westlichen Werte» handelt, mit denen Frau Merkel, Herr Obama, Herr Hollande, Herr Cameron und auch zahlreiche andere Politikerinnen und Politiker samt ihren jeweiligen Regierungssprechern und in deren Gefolge die medialen Verbreiter der Regierungsnachrichten im Westen immer dann herumwinken, wenn entweder kein Geschäft mit zu Kritisierenden in Aussicht steht oder wenn man Druckmittel braucht, um Kompromisse in Handelsverträgen, in Geschäftsabschlüssen und deren Finanzierung oder bei der Besitzverhältnisgestaltung in Joint Venture-Geschäften (China, Russland) zu erreichen.

Kuschen statt Courage zeigen

Courage? Das ist offensichtlich ein Fremdwort für die westliche Aussenpolitik. Sie kuschen alle. Nicht bloss vor Saudi-Arabien oder Katar. Das auch. Aber sie kuschen vor allem vor der einheimischen Rüstungsindustrie. Dort, wo Politikerinnen und Politiker, aber auch die «freien Medien» wirklich nur ein wenig Zivilcourage brauchen würden, weit weniger, als das Mädchen namens Malala Yousafzai, bevor es für seine Courage angeschossen und lebensgefährlich verletzt wurde, alltäglich zu Gunsten seines Schulbesuchs aufwenden musste. Weit weniger Courage-Aufwand, weil er nicht lebensbedrohende Konsequenzen einschliessen würde.

Aber nein: «Man»!, die Politik, die angeblich von «Menschenrechten», von «Völkerrecht» und von «Demokratie» erfüllte westliche Weltpolitik kuscht. Und das medial Begleitinstrumentarium, angeblich «frei» in seiner Berichterstattung, kuscht mit. (Och, man weiss es natürlich. Und man wendet sich indigniert ab. Lässt «die Politik», dieses wüste Ding, vor sich hinrotten. Und zappt und surft weiter und tut so, als sei man selber unbeteiligt. Ist man das?)

Man hat hier und dort lesen oder hören können, dass das Friedensnobelpreiskomitee auch erwogen habe, für 2014 keinen Friedensnobelpreis auszusprechen. Dass das Komitee Malala Yousafzai aus Pakistan und Kailash Satyarthi aus Indien den Friedenspreis verleiht, kann auch als Hinweis verstanden werden, wie Friedensbemühungen gestaltet werden können.

Unter anderem mit Zivilcourage. 

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