Geschlafen hat sie kaum. Grund war aber keine Party. Gute Freunde hatten Streit, sie war die Mediatorin – gelöst, oder einfach durchgestanden war die Situation erst am frühen Morgen. «Kaffee?», fragt Sarah-Maria Bürgin auf dem Weg von der Tür zur Küche. Willkommen in ihrer Welt.
«Abgefuckte Engel, der persönliche Teufel, der uns alle zu potenziellen Mördern macht – diese menschlichen Abgründe interessieren mich und inspirieren meine Songs», erklärt sie später am Tisch ihres Musikzimmers und klopft Asche von der Zigarette. Die Szene und das folgende Gespräch könnten aus Jim Jarmuschs Film «Coffee & Cigarettes» stammen.
Als Publikum blicken russische Dichter und Denker aus vergilbten Schwarz-Weiss-Prints von den Wänden, ein Foto von Nick Cave thront passend über dem Tasten-Turm mit Korg-Keyboard auf zwei Lagen Hammond-Klaviatur. «Ich mag seine gestrandeten Figuren, die auf der Suche nach Licht dauernd über Hindernisse stolpern», so Bürgin.
Kratzen an der Oberfläche
Mit Songs von Caves «Murder Ballads»-Album gab sie auch schon Konzerte. Doch will sie nicht weiter darüber sprechen: «Das ist passé, wie die Schülerband zu Maturazeiten im Toggenburg oder die Geschichte, wie die Scratches sich gefunden haben.»
Scratches, das ist ihre Band: Schlagzeug, Bass, Gitarre und am Keyboard Bürgin mit ihrem Gesang, der sich wohlig-herb in tiefen Lagen wiegt und immer wieder nach oben ausbricht, dass es einen schaudert. «Ich will kratzen, tief und fest, um schützende Oberflächen und Wände zu durchbrechen. Dann trifft man die feinen, sensiblen und bewegten Seiten von Leben wie Menschen.» Bürgins Musikmotiv zeichnet auch den Charakter ihrer Stimme.
Zwei Alben hat sie mit Scratches veröffentlicht und gute Kritiken erhalten. Sie liebt die Musik und mag ihre Mitmusiker. Aber eben: Lieber erzählt Bürgin vom Jetzt. Ihr zweites Solo-Konzert steht bevor.
Am neuen Mini-Festival «Tales From A Sonic Darkness» im Parterre treten alle sieben Künstler ohne Band auf. Selbst Scott Kelly, Frontmann der düster-doomigen Post-Metaller Neurosis, schlägt dort feinere Töne an.
Darum will Bürgin ihre schwere Hammond die Altbautreppe hinunter schleppen, obwohl das Keyboard für die meisten Songs reichen würde. Aber sie will den Kontrast: «In die Orgel kann ich so richtig schön kräftig reingreifen und das wohl eher melancholisch-ruhige Setting des Festivals aufbrechen.»
Aufbrechen ist bezeichnend für Bürgins Schaffen wie Leben. Die Eltern zogen als Entwicklungshelfer durch die Welt: Tschad und Ghana, später dann Bhutan. Die Wechsel waren rückblickend gewagt, aber alles andere als traumatisch: «Ich musste an den neuen Orten zu ganz unterschiedlichen Menschen schnell Kontakt finden – auch ohne Sprache. So lernte ich Blicke zu lesen und Menschen zu spüren.»
Kindheit im Land des Glücks
Am meisten geprägt haben sie die drei Jahre in Bhutan, dem Königreich im Himalaya, das seit 1972 nicht Geld, sondern Glück als Indikator für den Wohlstand der Gesellschaft misst. Dort lebte die Familie bis zu ihrem zehnten Lebensjahr, dem heutigen Alter ihrer Tochter. Bürgin resümiert:
«In unserer Gesellschaft hat man so viel Angst um die Kinder. Dort machte sich niemand wirklich Sorgen, selbst wenn wir wegen alltäglichen Abenteuern wie Erdbeeren sammeln öfter zwei Stunden für den Schulweg brauchten. Und das, obwohl es in den Bergen viele Bären gab und die Flüsse auf sehr wackeligen Hängebrücken überquert werden mussten.»
Trotzdem kehrte die Familie wegen der Schulbildung der Kinder zurück in die Schweiz und zog nicht weiter nach Indien, was damals zur Diskussion stand. «Dort wäre ich wohl Tempeltänzerin geworden», sagt die 45-Jährige lachend. Die Tempel und die dort zelebrierten Feste faszinierten Bürgin in Bhutan besonders. «Dort drehte sich vieles um Fruchtbarkeit und Sexualität, allerdings viel offener, unverkrampfter und nicht so sexistisch und kommerziell aufgeladen wie in unserer Kultur.»
Damit schimpft sie nicht nur auf Gesellschaft, Werbung und Mainstream-Musikvideos. Weil sie es satt hatte, als junge Schauspielerin nackt auf die Bühne geschickt zu werden, beendete sie ihre viel versprechende Karriere. Für ihre Rolle als Elektra mit Glatze in Hamburg wurde sie Ende der 90er-Jahre von zwei Magazinen gar zur Schauspielerin des Jahres gekürt. «Angefangen hatte ich dort ja als Schaf in einem Weihnachtsspiel», erinnert sie sich und lacht.
Geplant war es anders. Nach der Schauspielschule in Zürich zog sie nach Hamburg, um dort Regie zu studieren. Doch ein Engagement als Schauspielerin lockte sie weiter nach Göttingen. Dort hingen bei den Premieren Theatergrössen wie Frank Castorf, Stefan Pucher und Lukas Langhoff rum – doch zu weiteren Engagements kam es nicht. Bürgin hatte wegen der nächsten barbusigen Rolle bereits gekündigt und beschlossen, endlich selbst Regie zu führen, «um Frauen bekleidet zu inszenieren».
«Die Welt ist hart, und das ist wohl auch richtig so.»
Sie kehrte nach Hamburg zurück. Die Stadt, die sie wegen «dem rau-herben Humor der Menschen, dem Meer und dem Scheisswetter» als ihre Heimat empfindet. Der Umzug nach Basel 2002 war eine Entscheidung für die Liebe zu einem Österreicher. Hier gründete sie die freie Theatertruppe «formation poe:son» und entwickelte und inszenierte eigene Stücke. «Das lief sieben Jahre sehr gut, bis ich kein Geld mehr bekam.»
Den Grund für das Ausbleiben der Unterstützung nennt sie unverblümt und trocken: «Nach meinem grössten Erfolg mit ‹Smokefish› floppte darauf das ‹Matrosen Requiem› für 14 Leute. Ich wollte wohl zu viel und habs verschissen. Die Welt ist hart, und das ist wohl auch richtig so. Vielleicht ist jetzt auch nicht die Zeit für meine Art von Theater.»
Auflösung in Moll
Ihr Geld verdient Bürgin seit ein paar Jahren mit Deutschunterricht für Migranten. Für künstlerische Projekte und Abende jenseits der Musik hat sie ennet der Grenze ein altes Haus gemietet. Auch dort nimmt sie eine neue Rolle ein und lädt seit einem Jahr Gäste in ihren Salon Hegenheim: «Eine kleine Plattform der poetischen Reflexion und der langen Nächte ganz im Geiste der französischen Salonkultur.»
So schöngeistig oder abgehoben das klingt, so simpel mag es Bürgin bei ihren eigenen Songs: «Da schreibe ich seit den Anfängen in a- und e-Moll.» In der Band wird sie von den Jazz-geschulten Mitmusikern deswegen liebevoll aufgezogen. «Aber solo fühle ich mich so authentisch wie noch nie. Ich löse mich in der eigenen Musik auf und fühle mich dem Publikum noch näher verbunden als im Theater.» Als hätte sie die eigenen Wände durchgekratzt.
Tales Form A Sonic Darkness: Parterre Basel, Donnerstag, 25. Januar, 18.30 Uhr