«Bosnien bleibt immer Teil meiner Identität»

Selma Merdan kam als Zehnjährige nach Basel. Ihre Familie musste zurück, sie hat hier Karriere gemacht.

Am meisten vermisst sie ihre Familie: Selma Merdan.

(Bild: ALEXANDER PREOBRAJENSKI)

Selma Merdan kam als Zehnjährige nach Basel. Ihre Familie musste zurück, sie hat hier Karriere gemacht.

Basel ist in winterliche Dunkelheit gehüllt, als Selma Merdan (32) um 20 Uhr im Bahnhof SBB aus dem Zug steigt. Nach einem langen und intensiven Tag kehrt sie aus Bern zurück, mit schnellen Schritten geht sie über den Centralbahnplatz. Das Tempo aus dem Arbeitsalltag hat sie in den Feierabend mitgenommen. Sie arbeitet als Stabschefin des CEOs und des Verwaltungsrates bei der Schweizerischen Bankiervereinigung «SwissBanking». 

Auch im September 1993, als Selma Merdan zum ersten Mal in die Schweiz kam, stieg sie aus einem Zug aus, in Chiasso. Zuerst flüchtete die fünfköpfige Familie von Bosnien-Herzegowina nach Kroatien. Doch dort wurde die Bedrohung für den muslimischen Vater zu gross. Die Flucht ging weiter.

Die Familie wurde 1999 zurückgeschafft

Selma Merdan war damals zehn Jahre alt. «Wir hatten keine Zieldestination», beschreibt sie die Flucht der Familie. In der Schweiz kannten sie niemanden: «Für meine Eltern war es nie eine Option auszuwandern. Sie hatten ja einen guten Job.» Sie erklärt die Fakten, spricht sachlich auf Baseldeutsch. In Chiasso wurden sie von der Polizei ins Aufnahmezentrum gebracht, später kamen sie ins Durchgangszentrum in Basel. Dort verbrachte die Familie einige Tage, bevor sie ins Flüchtlingszentrum in Hölstein transferiert wurde. Schliesslich lebten sie in Basel.

Sechs Jahre später, im Jahr 1999 wurde die Familie zurückgeschafft. Selma Merdan blieb, eine Basler Pflegefamilie nahm sie auf. «Es war die Entscheidung meiner Eltern», sagt sie. «Ich hätte diesen Entscheid nicht fällen wollen. Nicht fällen können.»

Für die Eltern sei es wichtig gewesen, dass ihre Tochter eine gute Ausbildung erhält und eine Perspektive für die Zukunft hat. In der instabilen politischen Situation in Bosnien sahen die Eltern diese Möglichkeit nicht. «Heute ist die Schweiz meine zweite Heimat. Ich bin Basler Bürgerin und hier zuhause», sagt Selma Merdan.

Alle paar Monate reist sie für ein verlängertes Wochenende nach Bosnien. Zu ihren Eltern, zu ihren Schwestern. In ihrem Heimatort war es im Krieg zu ethnischen Säuberungen gekommen, die Bosniaken wurden vertrieben. Die Familie liess sich daher nach ihrer Rückreise aus der Schweiz in Mostar nieder, im mehrheitlich bosniakischen Teil der Stadt.

«Bosnien-Herzegowina ist blockiert», sagt Selma Merdan, lehnt sich nach vorne und holt Luft: «Das Dayton-Abkommen hat den Krieg beendet, aber auch nicht mehr.» Die Verbundenheit mit ihrer ersten Heimat spürt man, ihre Gesten werden schneller, sie reisst die Augen auf, wirft ihre braunen Haare in den Nacken und beklagt den Ethnonationalismus, der das Land lähme. «In Bosnien-Herzegowina leben drei offizielle Ethnien: Bosniaken, Serben und Kroaten. Und die sogenannten ‹anderen›, die sich keiner dieser Ethnien zugehörig fühlen und sich schlicht als Bosnier und Herzegowiner fühlen.»

Man wähle weiterhin ethnonationalistische Parteien, im Glauben, die anderen Ethnien würden ebenfalls ethnonationalistisch wählen und könnten somit erstarken. «Mit den Grenzen, die durch das Dayton-Abkommen gezogen wurden, hat man die ethnischen Säuberungen legalisiert.»

Wissenschaftliche Auseinandersetzung als Vergangenheitsbewältigung

Bereits mit 18 Jahren, als sie im Gymnasium Leonhard ihre Maturaarbeit schrieb, befasste sie sich mit den politischen Verhältnissen in Bosnien. Ausführlich setzte sie sich in ihrer Bachelorarbeit mit dem Dayton-Abkommen auseinander. In ihrer Masterarbeit an der Universität St. Gallen untersuchte sie schliesslich die geschichtlichen Ursachen für den Nationalismus und reiste dafür nach Bosnien für eigene Feldforschungen.

Ihre Schlussfolgerung: «Die Machtverhältnisse aus dem Krieg wurden zementiert, die ethnischen Gräben tiefer.» Die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihrer ersten Heimat war für sie auch eine Art von Vergangenheitsbewältigung. Beendet sei diese Bewältigung nie, die erste Heimat, Bosnien, bleibe immer ein Teil ihrer Lebensgeschichte, ihrer Identität. «Jeder Flüchtling muss in seiner neuen Heimat früher oder später diesen Spagat machen.»

Wenn bei einem Tor eines serbischen Bosniers für das Fussballnationalteam alle jubeln, schlägt Selma Merdans Herz höher.

Sie leidet mit Bosnien. Es sei frustrierend, dass das Land und seine Bewohner auch 20 Jahre nach dem Dayton-Abkommen so wenig Perspektiven hätten. Wenn die bosnisch-herzegowinische Fussballnationalmannschaft spiele, habe sie Hoffnung. «Wenn alle aufstehen und jubeln, weil Milan Đurić, ein bosnischer Serbe, ein Tor schiesst, und das ganze Stadion seinen Namen skandiert, schlägt mein Herz höher.» Hier liegt für sie die Zukunft, ein Land, das die ethnischen und nationalistischen Abgrenzungen hinter sich lässt und sich als Einheit — als Staatsnation — definiert.

An diesem Abend findet Bosnien nicht zur Einheit, genauso wenig wie Selma Merdan. Getrennt von ihrer Familie lebt sie in der Schweiz. Was ihr in dieser zweiten Heimat vor allem fehlt, seien ihre Eltern, ihre Schwestern, ihre Familie.

_
Vor 20 Jahren beendete eine Reihe von Unterschriften den Bosnienkrieg. Das Töten hat damals aufgehört, aber wie weit ist der Frieden gekommen? Die TagesWoche wollte es genau wissen, unser Korrespondent Krsto Lazarević ist eine Woche durchs Land gezogen und hat Menschen befragt. Entstanden ist eine Porträtserie, deren Einzelgeschichten Sie nachfolgend aufgelistet finden.

Wer sich ein Bild vom Land machen will, dem empfehlen wir den Bildstoff – aber auch die Erklärung des politischen Systems, schliesslich gilt es als das komplizierteste der Welt.

Getrennte Schulen und ihre Wirkung: Grundschullehrerin Nela Rajić erzählt.

Die Islamisten kommen zum Kaffee: Was die Teilung des Landes zur Folge hat, erzählt Blagoje Vidović.

Auch Flutopfer brauchen das richtige Parteibuch: Jasminka Arifagić über den Klientelismus im Land und seine leidigen Folgen.

Der Frieden diskriminiert diejenigen, die keinen Krieg führten: Das Dayton-Abkommen hat Minderheiten im Land nicht berücksichtigt. Welche Folgen das hat, erzählt Boris Kozemjakin, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Sarajevo.

Jugend braucht Perspektiven statt Vorurteile: Milan Todorović gehört der Nachkriegsgeneration an. Als Serbe unter Bosniaken aufgewachsen, engagiert er sich mit einer selbst gegründeten Organisation für die Jugend.

Damals Flüchtling, heute erfolgreiche Unternehmerin: Interview mit Enisa Bekto, die ins Land zurückgekehrt ist und sagt: «Frauen sind besser qualifiziert».

«Tod dem Nationalismus»: Die Proteste gegen Privatisierung in Tuzla 2014 waren nicht nationalistisch motiviert, sagt Journalist Kušljugić im Interview.

Bosnien bleibt immer Teil meiner Identität: Selma Merdan ist vom Krieg geflüchtet und hat in Basel eine neue Heimat gefunden.

Zudem erklärt Autor Norbert Mappes-Niediek, wie das Friedensabkommen genau zustandegekommen ist und welche Fehler begangen wurden:

Wie die Amerikaner sich vor 20 Jahren in Bosnien durchsetzten – und sich dabei verschätzten

Im Interview hat Mappes-Niediek zudem mit dem deutschen Diplomaten Wolfgang Ischinger – Leiter der deutschen Delegation in Dayton – über die Fehler von damals und Parallelen zum Syrienkrieg gesprochen:

«Bis heute ist aus dem Waffenstillstand kein wirklicher Friede geworden»

Den gesamten Schwerpunkt in der Übersicht finden Sie in unserem Dossier zum Thema.

Nächster Artikel