Mariana Da Cruz spielt mit Schweizer Begleitern brasilianische Musik. Mit dem Album «Disco e Progresso» will sie die Realität ihres Heimatlandes jenseits der Klischees zeigen.
Mariana Da Cruz braucht keine Bühne, um Präsenz zu entfalten. Schon wenn man die Brasilianerin in der Beiz des Berner Kulturzentrums Progr trifft, zieht sie einen in ihren Bann. Klar, da ist der auffällige Afro und die markante Zahnlücke, doch die Äusserlichkeiten rücken in den Hintergrund, sobald sie redet: energisch und ausführlich – und das auf Deutsch, das für sie eine Fremdsprache ist, die sie erst lernte, als sie vor acht Jahren in die Schweiz kam.
Hierhin gebracht hat sie die Musik. Und die Liebe. Nach der Jahrtausendwende kellnerte sie in einem Irish Pub in Lissabon. Im Lokal wurde auch Live-Musik gespielt und weil Mariana Da Cruz schon in Brasilien traditionelle Lieder gesungen hatte, begann sie, diese Stücke auch im Pub aufzuführen. Eines Abends hörte ihr ein sanfter Riese zu, der sich nach dem Auftritt als Ane Hebeisen, Musiker und Journalist aus Bern, vorstellte. «Er schlug vor, wir könnten gemeinsam eine modernere Variante brasilianischer Musik machen», erinnert sich Da Cruz, die schnell zusagte: «Ich wollte nicht nur die bekannten Lieder anderer Leute singen, sondern etwas Eigenes machen.»
Von der Party in die Dunkelheit
Seither sind zehn Jahre vergangen. Mariana ist mit Ane, der in den Neunzigern mit den Swamp Terrorists brachialen Electro-Industrial gespielt hatte, verheiratet und gemeinsam mit weiteren Schweizer Musikern haben sie unter dem Bandnamen Da Cruz vier Alben veröffentlicht. Das jüngste, «Disco e Progresso», erschien Ende April. Es enthält tanzbare Gute-Laune-Musik, die nach Brasil-Funk klingt, doch gibt es auch Stücke wie «Menino Mau» (Böser Junge), die düster wirken, auch wenn man kein Portugiesisch versteht. Konsequenterweise ist die Doppel-CD in eine «Bright»- und eine «Dark»-Side unterteilt.
In der Schweiz kennt man die Band in Worldmusic-Kreisen, auch der eine oder andere Festivalauftritt steht zu Buche, doch der Erfolg im Ausland übertrifft denjenigen daheim. Da Cruz läuft bei der BBC und in amerikanischen College-Radios. In den letzten Wochen reiste die Band durch halb Europa, trat in London, Paris und Helsinki auf, Anfang Juli geht es für drei Auftritte nach Kanada.
Im Konzert stellt die Band die Gegensätze in ihrer Musik bewusst gegeneinander. «Wir beginnen mit der Tanznummer ‹Bola da Discoteca›. Die Leute denken: Ah, toll, Partytime. Dann bringen wir aber die dunkleren Sachen. Ich erkläre den Leuten zwischen den Songs auch kurz, worum es geht, dass ich ihnen auch die finstere Seite von Brasilien zeigen möchte.»
Schluss mit Warten
Die Sängerin will weg von den Klischees Samba, Karneval und Fussball. Sie sieht sich als Vertreterin einer Generation, die nicht mehr auf den lange versprochenen Fortschritt warten will. «Meine Grossmutter ist 103 Jahre alt. Von ihr habe ich immer gehört: Es wird alles besser. So redet sie bis heute.»
Die Proteste rund um die WM sind für Da Cruz nur ein Symptom für grundsätzliche Ungerechtigkeiten. Dabei verlangt sie nicht viel: «Wir wollen bloss eine bessere Grundversorgung – anständige Schulen und vernünftige Spitäler.» Unter Präsident Lula und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff habe es zwar Vorschritte gegeben, etwa finanzielle Zuschüsse für Familien, die ihre Kinder konsequent zur Schule schicken. «Bloss sitzen dann 50 Kinder vor einem Lehrer, wie sollen sie da vernünftig lernen können?»
Mariana Da Cruz weiss, wovon sie spricht. Mit 17 hatte sich die sechste Tochter eines Kochs und einer Baumwollpflückerin, die in einem Vorort von São Paulo aufwuchs, selber zur Lehrerin ausbilden lassen und ein paar Jahre auf ihrem Beruf gearbeitet. Doch sie sah darin keine Perspektive – weder für sich noch für ihre Schüler. Darum verliess sie das Land, nachdem sie ein Musikstudium abgeschlossen hatte. Eigentlich wollte sie Englisch lernen, doch die USA liessen sie nicht einreisen. Also ging sie nach Lissabon, «dort sprechen die Menschen fast die gleiche Sprache wie ich.»
Ein Schritt nach vorn
Heimweh hat sie selten. Zwar verspüre sie bis heute gelegentlich «saudade», diese eigentümliche Schwermut, die sich überall dort in den Herzen der Menschen einnistet, wo die Portugiesen waren. Die Musikerin betont aber: «Ich bin hier, ich bin frei – das ist mein Weg.» Landsleuten, die dauernd jammern, wie schön es doch daheim war, sagt sie: «Du musst deine Existenz hier organisieren und jetzt leben. Nicht träumen, wie toll es angeblich früher in Brasilien war.»
Diese Verklärung sei ein Problem vieler Brasilianer – auch in der Heimat. «Wir waren 50 Jahre lang betäubt und fanden, alles laufe gut. Jetzt müssen wir wirklich einen Schritt nach vorne machen, ob es den Leuten gefällt oder nicht.» Darum heisst das Album «Disco e Progresso». Im brasilianischen Landeswappen steht bekanntlich «Ordem e Progresso» (Ordnung und Fortschritt), aber darüber lacht Da Cruz nur: «Wir haben ja keine richtige Ordnung. Darum Disco: Bewegung und Fortschritt. Und es muss jetzt sein, wir können nicht mehr warten. Ich habe keine Zeit mehr.»
«In Braslien schaut jeder nur für sich: Meine Strasse ist sauber. Die Strasse um die Ecke? Egal, ist ja nicht meine.»
Mariana Da Cruz erwähnt auch den noch immer grassierenden Rassismus: In ihrem Kurs an der Uni waren gerade mal fünf von hundert Studenten dunkelhäutig. Sie könne diese Schwierigkeiten nur andeuten, viel besser formuliere das der Schriftsteller Luiz Ruffato, mit dem sie sich unlängst über die Abgründe ihrer Heimat unterhalten hat. «Ich bin sehr einig mit ihm, was seine Ansichten zu den dunklen Seiten in Brasilien betrifft.» Wer wissen will, wie sich das liest: Ruffato schreibt derzeit eine Kolumne in der NZZ.
Keine Trikots in São Paolo
Ein Problem der Brasilianer kann auch Da Cruz klar benennen. Es mangle an Gemeinsinn: «Jeder schaut nur für sich: Meine Strasse ist sauber, ich habe einen schönen Baum gepflanzt – jetzt ist gut. Die Strasse um die Ecke? Egal, ist ja nicht meine. Wir sind ein bisschen wie Kinder.»
So langsam aber werden die Kinder erwachsen und fallen nicht mehr auf Ablenkung herein. Noch nicht mal, wenn die in Form der WM im eigenen Land präsentiert wird. Die Musikerin war vor einigen Wochen in Brasilien, um das neue Album zu promoten und staunte: «Man sieht niemanden mit Trikots auf der Strasse, dabei ging das früher schon Monate vor einer WM losging. In den Läden von São Paulo verkaufen sie keine Fussball-Leibchen. Die Leute sind wütend, weil sie wissen: Mit ihrem Geld wird eine Party für die High Society veranstaltet.»
Im Winter will die Sängerin mit ihrer Band auf Brasilien-Tournee. Kann das gut gehen: brasilianische Musik in Brasilien, gespielt von hüftlahmen Schweizern? Mariana Da Cruz schüttelt lachend ihre Locken: «Hör auf mit diesen Vorurteilen. Meine Jungs können sehr gut brasilianische Rhythmen spielen. Im brasilianischen Radio fanden sie: super produziert. Dieses Klischee vom steifen Schweizer kannst du wegwerfen.»
Wie recht sie hat, hören Sie hier unten.