Er musste sich überwinden. Die alte Frau stieg den Hügel hoch, einen Schritt nach dem anderen, hielt in jeder Hand einen Kanister voller Wasser. Diego Wettstein schaute ihr nach. Durch die Linse seiner Kamera nahm er sie und jeden ihrer Schritte auf. Er sagte sich: «Das kann ich nicht machen.» Die Frau kämpfte sich weiter den Hang hoch. Er dachte: «Ich muss ihr helfen.» Und blieb mit der Linse auf ihren Bewegungen.
Oben stoppten die irakischen Soldaten einen Lastwagen am letzten Kontrollpunkt stadtauswärts in Mossul, der umkämpften irakischen Stadt. Die Männer mussten seine Kamera und ihn dahinter gesehen haben. Seinetwegen, redete er sich unten ein, hätten sie den Lastwagen zurückgerufen. Und die Frau mitfahren lassen.
Raus aus der Komfortzone
Vor dem Café Zum Teufel, über 3000 Kilometer vom Check-Point in Nordirak entfernt, drückt Diego Wettstein die dritte Zigarette aus, bestellt den zweiten Kaffee, redet weiter vom inneren Konflikt, den er spürt, immer wieder, vom schlechten Gewissen, das sich einstellt, wenn er an Menschen wie die alte Frau zurückdenkt. «Ich muss mich unsichtbar machen», sagt er mit ruhiger Stimme. «Das ist mein Beruf.» Von dem er hofft, dass er Gutes bewirkt – auch unmittelbar.
Diego Wettstein ist freier Kameramann, berichtet für das Schweizer Fernsehen aus dem Irak und Syrien vom Krieg, über Tod und Überleben, über Flüchtlinge, die der Hoffnung nach Europa folgten und in Libyen und auf Lesbos festsitzen. Verglichen mit anderen in seinem Alter, kommt einem der 34-Jährige vor wie ein Mann ohne Mass. Er raucht, trinkt Kaffee, er tut es im Übermass, sagt er selbst, geht zu Orten hin, aus denen andere flüchten, zeigt auf, ordnet ein, schaut hin.
«Es ist nicht wegen des Adrenalins», sagt Diego Wettstein, weil er selber weiss, wie es wirkt, wenn einer freiwillig dorthin zieht, wo Bomben fallen, Scharfschützen lauern, Menschen erschossen werden und Kinder Prothesen tragen. Man glaubt ihm nicht auf Anhieb, dass er das nur tut, weil ihn fremde Kulturen faszinieren. Schaut man sich seine Bilder im Fernsehen an, dann ist er dem Schlimmsten begegnet, was Menschen einander antun können. Und dem Besten, was sie in der Krise hervorbringen.
Kaum hat er sich wieder an das Leben in der Schweiz gewöhnt, wird es ihm zu eng.
Also fragt man nochmals nach, mehrmals an diesem Montagnachmittag. «Ich wollte die eigene Komfortzone verlassen», wird er später sagen. Er habe sich auf extreme Gegensätze einlassen wollen, Geschichten erzählen abseits dessen, was er in der Schweiz kenne.
Schon wenn man Diego Wettstein die Hand gibt, wird klar, dass er sich zurückhalten wird. Über sich und seine Arbeit zu sprechen, liege ihm nicht, sagt er. Er sei ein Beobachter, kein Akteur. Und einer, der die Kontrolle behalten wolle. Sein Gesicht ist faltenfrei, die Züge fein, die Augen dunkel, der Blick undurchdringlich. «Ich komme an Orte, an die man nicht so einfach gelangen kann», sagt er. Zum Beispiel in die Favelas, die Armenviertel in Rio de Janeiro, über die er mehrere Reportagen drehte. Oder eben in Städte, in denen Krieg ist.
Vor drei Jahren war Diego Wettstein erstmals im Nordirak. Er sollte in Libyen über die Wahlen berichten, die ersten nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi. Dann änderte sich die Ausgangslage. Kämpfer des Islamischen Staates (IS) hatten die Stadt Mossul eingenommen. Bagdad verhängte den Ausnahmezustand über die Stadt, die Regierungstruppen zogen sich aus ihr zurück. Der Kameramann hängte sich mit dem Journalisten Pascal Weber den kurdischen Soldatenmilizen Peschmerga an, übersetzt «die dem Tod ins Auge sehen».
Das kann man wörtlich nehmen: Tausende Menschen sind seitdem gestorben, Hunderttausende vor dem IS geflüchtet, viele ins nahgelegene Sinjar-Gebirge, oder sie blieben in der Stadt gefangen. «Es ist einfach unheimlich, was die Menschen dort erleben», sagt Diego Wettstein, zündet sich eine weitere Zigarette an, bestellt noch einen Kaffee. Und erzählt.
Unerträgliches ertragen
Wenige Monate nach seinem ersten Einsatz folgten Diego Wettstein und der Journalist den Peschmerga-Kämpfern ins Sinjar-Gebirge. Sie überquerten Grasfelder und Erdflächen, gingen vorbei an Kleiderfetzen und menschlichen Knochen. Es stank bestialisch. Auf einigen Quadratmetern hatten IS-Kämpfer Kinder zusammengetrieben. Überall lagen jetzt ihre kleinen Kleider, die Erde war blutgetränkt – auch ein halbes Jahr nach dem Verbrechen. «Es war unerträglich», sagt Diego Wettstein und bleibt auch jetzt gelassen.
In solchen Momenten schaffe die Linse, durch die er blickt, einen Filter. Auf der Fahrt zurück sprach niemand. Nicht so wie sonst, wenn die Männer sich im Auto langsam entspannen, reden oder sich selten übereinander lustig machen – und in denen gelacht wird. Diesmal lachte keiner.
Für diese Reportage «Rückeroberung des Sinjar-Gebirges» wurde Diego Wettstein für den renommierten Deutschen Kamerapreis 2016 nominiert. «Er hat mich motiviert dranzubleiben», sagt er trocken, aber man merkt den Stolz.
Wettstein glaubt nicht, dass seine Bilder das sind, was die Leute vor dem Fernseher sehen wollen. Trotzdem macht er weiter. Inzwischen sind es über zwölf Einsätze in Mossul, Aleppo und anderen Orten geworden, vor sechs Woche der letzte. Im Juni hat die irakische Armee Mossul zurückerobert. «Wenn ich die Kamera aufstelle, versammeln sich immer zwanzig Leute um uns und wollen erzählen.» Seine Arbeit sei auch ein Signal, dass sich noch jemand für sie interessiere.
Zwischen Angst und Freude
Oben ziehen erste graue Wolken auf. «Es ist schön, dass die Menschen nicht aufgeben», sagt Diego Wettstein über jene, die im Krieg überleben. Seit Jahren, jeden Tag. Nicht nur sie leiden, sondern auch die Infrastruktur. Die Städte sind flachgewalzt. «Die Leute haben kein Werkzeug, um das wieder aufzubauen», sagt der Kameramann. Also improvisieren sie.
So traf Diego Wettstein im umkämpften Westteil von Mossul zwischen Trümmern und Soldaten einen Vater mit seinem Sohn, die pinkes Eis auf grünen Hörnchen verkauften. In Syrien entdeckte er zwischen Homs und Aleppo ein improvisiertes Café, im Schlepptau Männer des Medienministeriums. «Dort stand eine wunderschöne Kaffeemaschine», sagt einer, der es wissen muss. Sie wurde mit einem Generator betrieben. «Der Espresso war richtig gut.»
Man fragt ihn, ob er manchmal Angst habe. «Immer in der Nähe der Frontlinie», sagt er. Auch er rennt um sein Leben, wenn in 50 Metern Entfernung eine Bombe einschlägt. Ohne den lokalen Produzenten käme er nicht weit, der ihn und den Schweizer Korrespondenten begleitet und den sie bezahlen, der die Sprache spricht, Kultur und Menschen kennt, Papiere besorgt.
Im Gegensatz zu Syrien, wo Leute der Regierung sie begleiten, haben sie im Nordirak immer denselben Mann, ihm vertrauen sie, dort kämpfen Armee und die Peschmerga gemeinsam gegen den IS. «Wir haben Berichte aus Syrien auch schon nicht gesendet, wenn wir das Gefühl hatten, für eine Sache eingespannt worden zu sein», sagt Diego Wettstein. Vor einem Einsatz sprechen sich die drei Männer immer ab. Diego Wettstein verlässt sich ebenfalls auf sein Gefühl, beobachtet das Verhalten der Leute um sich. «Wenn nur einer von uns ein schlechtes Gefühl hat, brechen wir ab», sagt er.
Einmal schlug jemand ein Mittagessen in einem Restaurant im Osten von Mossul vor. Diego Wettstein fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, ging aber mit. Vier Tage später sollte er für ein Interview wieder an diesen Ort zurück. Dann klingelte das Telefon: Ein Selbstmordattentäter hatte sich drinnen in die Luft gesprengt. «Ich weiss nicht, ob sie gezielt Westler treffen wollten», sagt Diego Wettstein. Und wechselt das Thema.
Das normale Leben
Wenn er nach zehn Drehtagen und drei Wochen im Nahen Osten nach Basel zurückkehrt, will er bloss in sein Bett fallen, Filme wie «2046» von Wong Kar-Wai schauen, dessen Bildsprache er mag, seine Freunde sehen, Spaghetti mit Tomatensauce essen, unaufgeregt und normal leben. Und seine Mutter im Café Zum Teufel treffen.
Er, der in den Krieg zieht, ist bis jetzt unverletzt geblieben. Es könnte auch anders sein. Vor wenigen Wochen erst starben drei Journalisten, darunter eine Schweizer Kriegsreporterin, bei einem Angriff in Mossul.
Hat man ihm nie vorgeworfen, ein Egoist zu sein? «Ja, einmal», sagt er und will dazu nicht mehr sagen. Ausser: «Es ist zwiespältig, aber meinen Job braucht es.» Nicht alle können oder wollen es verstehen. Seine Mutter allerdings unterstützt ihn, spricht sechs Sprachen und lernt jetzt die siebte: Arabisch. Irgendwann will sie ihn nach Beirut begleiten. Wann er wieder fliegen wird, ist noch offen.
«Es gibt Menschen, die werde ich nie aus dem Gedächtnis bringen.»
Die Wolken haben sich verdunkelt, erste Regentropfen fallen, wir wechseln ins Innere, Diego Wettstein redet weiter. Im Moment dreht er für eine Sommerserie in der Schweiz und reist demnächst nach Kasachstan. «Etwas Überschaubares», sagt er. Und das ist auch gut so. Er braucht die Distanz, das andere Leben für gewisse Zeit, ein Zyniker will er nicht werden.
Im Nahen Osten gewöhne er sich an immer Schlimmeres. «Es gibt Menschen, die werde ich nie aus dem Gedächtnis bringen», sagt er. Zum Beispiel der alte Mann am Stock in Lesbos, als Diego Wettstein im Auto an den vielen Flüchtlingen vorbeifuhr, vor ihnen noch 60 Kilometer bis zum Ziel. Mitnehmen durfte er niemanden, die Regierung hatte es verboten – der illegalen Geschäfte wegen. Oder die Augen der auf kleinem Raum eingepferchten Männer, in die er blickte, als er ein Ausschaffungsgefängnis in Libyen besuchte. Und dann ist da noch die alte Frau, die Wasser den Hang hochtrug.
Vor 14 Jahren schloss Diego Wettstein die Filmschule in Lugano ab. Heute ist er rund fünf Monate pro Jahr im Ausland unterwegs. Der Beruf, den er gerne macht, hat ihn verändert. «Es ist auch einsam», sagt er und fügt hinzu, dass er nicht besonders gerne aus dem Koffer lebe, und dann, einmal daheim, es nicht erwarten kann, sie wieder zu packen.
Inzwischen ist er auch privat ein Beobachter geworden. «Manchmal zieht auch etwas an mir vorbei: Ich sehe es zwar, nehme aber nicht aktiv teil», sagt er. Kaum hat er sich wieder an das Leben in der Schweiz gewöhnt, wird es ihm zu eng. Und hört er Politiker und Menschen auf der Strasse über Flüchtlinge debattieren, erinnert er sich an deren Gesichter. Dann will er zurück.