Der Idealist

Kofi Annan ist als UN-Generalsekretär oft an den egoistischen Interessen einzelner Staaten gescheitert. Warum glaubt er trotzdem an die Zukunft der Weltorganisation?

Schreibt auch mal als Morgan Freeman Autogramme: Kofi Annan (Bild: Keystone/Nic Bothma)

Kofi Annan ist als UN-Generalsekretär oft an den egoistischen Interessen einzelner Staaten gescheitert. Warum glaubt er trotzdem an die Zukunft der Weltorganisation?

Wenn man zehn Jahre Generalsekretär der Vereinten Nationen war, ist die Rückkehr in den Alltag der Normalsterblichen gar nicht so einfach. Kofi Annan hat es ernsthaft versucht. Als seine Amtszeit 2006 endete, mieteten er und seine Frau in der Nähe des Comer Sees ein Haus im Wald. Sie zogen sich für acht Wochen in die Einsamkeit zurück – kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitungen, endlich weg vom Getöse und den Problemen der Welt. Nach zwei Wochen begann Annan sich etwas zu langweilen und schlug vor, im nächsten Dorf eine Zeitung zu kaufen.

Sie waren keine fünf Minuten in dem Zeitschriftenladen, da bereute er es schon. Aus einer Ecke blickten immer wieder ein paar Männer zu ihnen herüber. «Oh nein», flüsterte Annan seiner Frau zu. «Wir sind schon aufgeflogen.» Ein Mann kam mit Stift und Papier auf sie zu. «Morgan Freeman, dürfte ich Sie um ein Autogramm bitten?» Annan knipste sein schönstes Hollywood-Lächeln an, kritzelte den Namen des Schauspielers auf den Zettel und ergriff die Flucht. «Seitdem mahne ich zur Vorsicht, wenn ich irgendwo mit den Worten vorgestellt werde: ‚Diesen Mann muss ich Ihnen nicht groß vorstellen.‘»

Während der 74-Jährige diese Anekdote erzählt, wird einem der größte Unterschied zu seinem Nachfolger bewusst. Annan gab als Generalsekretär von 1997 bis 2006 der Uno ein Gesicht, sein Gesicht, das aus den Fernsehnachrichten auch jenen vertraut ist, die sich nicht groß mit internationaler Politik beschäftigen. Seinen Nachfolger Ban Ki Moon würde auch nach fünf Jahren als UN-Generalsekretär kaum jemand auf der Straße erkennen.

Die Enttäuschung merkt man ihm an

Das letzte Mal in den Nachrichten zu sehen war Annan im August dieses Jahres, als er seinen Posten als UN-Sondergesandter für Syrien aufgab. Die Enttäuschung, dass er die Gewalt nicht stoppen konnte, ist ihm noch anzumerken, als wir uns Wochen später zu einem Gespräch in London treffen. Er betont, dass er keinen anderen Ausweg sah, als das Mandat niederzulegen. Für einen Diplomaten kritisierte er den UN-Sicherheitsrat dabei scharf. «Das Erste, was ich im Sicherheitsrat sagte, war: ‚Diese Aufgabe zu erfüllen, ist beinahe unmöglich. Ich werde es versuchen. Schaffen kann ich es aber nur mit Ihrer geschlossenen Unterstützung.‘» Doch der Sicherheitsrat blieb gespalten. «Die syrische Bevölkerung bezahlt den Preis dafür», sagt Annan knapp.

Die Syrien-Mission könnte man als bisher ungeschriebenes Zusatzkapitel seiner Autobiografie verstehen. Interventions. A Life in War and Peace (Penguin Press) erzählt von Annans fünfzigjähriger Karriere bei den Vereinten Nationen und der zunehmenden Bedeutung der Peacekeeping-Missionen, die stark mit seiner Person verbunden sind – auch wenn die Entscheidungshoheit über humanitäre Interventionen letztlich beim Sicherheitsrat liegt, nicht beim Generalsekretär.

Bis Anfang der Neunziger gab es kaum Blauhelm-Einsätze der Vereinten Nationen: Die meisten Konflikte wurden während des Kalten Kriegs durch die zwei Supermächte entschieden, deren Feindseligkeit dafür sorgte, dass der Sicherheitsrat zu gespalten war, um mehr als eine Handvoll Friedensmissionen zu bewilligen. Zwischen 1987 und 1992 bestand kaum eine UN-Mission aus mehr als hundert Beobachtern. 1994 hingegen gab es bereits 80’000 UN-Soldaten in Kriegsgebieten im Einsatz. Annan übernahm 1993 die Verantwortung für die Blauhelm-Missionen. Sein Buch ist eine faszinierende Schilderung der Herausforderungen in der internationalen Politik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts.

«Wenn die Mitgliedstaaten sich einem unlösbaren Problem gegenübersehen und dabei in Zugzwang geraten, landet das Thema letztlich immer bei der Uno», sagt er und erlaubt sich ein ironisches Kichern. Er hat das zu oft erlebt. «Der Sicherheitsrat kümmert sich darum, und die Staaten können sich zurücklehnen. Mandate kriegt man dann. Bloß die entsprechenden Ressourcen zur Umsetzung, die kriegt man nicht. Deshalb gerät man zwangsläufig in Schwierigkeiten und scheitert.»

Ein Scheitern mit Folgen

Die neue Lust auf humanitäre Interventionen ging aber auch schnell wieder zurück, nachdem in Somalia 1993 Rebellen zwei US-Hubschrauber abschossen. Die Amerikaner stiegen aus dem Somalia-Einsatz aus, und die gesamte Mission brach in sich zusammen. Wegen dieser Erfahrungen, schreibt Annan, hätte die Uno ein Jahr später tatenlos zugesehen, wie in Ruanda ein Massaker passierte.

Als es 1999 um das Kosovo ging, verhinderte die Unterstützung Russlands für Serbien ein Mandat für eine Truppenentsendung. Und zum ersten Mal in der Geschichte der Uno stimmte deren Generalsekretär einem Militäreinsatz der Nato zu, ohne dass dieser vom Sicherheitsrat autorisiert worden war. Annan nennt es das «ultimative moralische Dilemma»: Sollte er loyal gegenüber der Uno und dem Völkerrecht oder gegenüber Zivilisten sein, die in Gefahr sind, abgeschlachtet zu werden? Er steht heute noch zu seiner Unterstützung der Nato-Luftschläge, warnte allerdings schon damals, dass die Welt sich auf einem «gefährlichen Pfad zur Anarchie» befinde, solange der Sicherheitsrat nicht wieder zur einzigen Legitimationsquelle werde. Diese Vorhersage sollte sich auf schreckliche Weise bewahrheiten, als der Sicherheitsrat vier Jahre später keine zweite Resolution verabschiedete, um eine Invasion im Irak zu legitimieren und die USA trotzdem angriffen.

Annan hatte immer Zweifel an dem behaupteten Umfang der irakischen Massenvernichtungwaffen. «Die UN-Inspektoren waren eine ganze Weile dort und haben eine Menge Waffen unschädlich gemacht. Man hatte also den Eindruck, dass Saddam vielleicht welche hat, ohne zu wissen, was das für welche sein könnten», erzählt Annan. Warum hätte Saddam aber mit der Uno zusammenarbeiten sollen? «Er hatte gegenüber seinen Nachbarn jahrelang geblufft: ‚Ich habe diese Waffen. Legt euch nicht mit mir an.‘ Deshalb konnte er nicht plötzlich zugeben, dass er gelogen hatte.»

Die grösste Fehlbesetzung

Am meisten bereut Annan die Ernennung eines übereifrigen Waffeninspekteurs, der keinerlei Feingefühl für den Stolz der Iraker aufbrachte. Richard Butler, schreibt Annan, war «ein kolossaler Fehler und eine der größten Fehlbesetzungen, die ich jemals gemacht habe». Warum? «An einem Ort wie Bagdad, wo die Menschen sehr nationalistisch sind, muss man einen Weg finden, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Man kann da nicht hingehen und den starken Mann markieren.»

Noch heute zuckt Annan zusammen, wenn er sich an all das selbstverliebte Auftreten im Vorfeld des Krieges erinnert. Er macht auch keinen Hehl daraus, was er über Georg W. Bushs Motive denkt. «Man hatte schon den Eindruck, dass er versucht, den Job seines Vaters zu Ende zu bringen. Und seine Berater wollten das auch. Sie dachten, sie könnten zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – einen üblen Diktator loswerden und die Waffen gleich mit.» Was ist mit der dritten Fliege, dem Zugang zu den irakischen Ölreserven? Wer das behauptet, wird oft als linker Verschwörungstheoretiker abgetan, aber als ich Annan frage, was er denkt, sagt er ohne zu zögern: «Ja, es war ein Land mit Bodenschätzen in einer Region von enormer globaler Bedeutung. Ich bin mir nicht sicher, ob das gleiche Interesse bestanden hätte, das Land zu retten, wenn der Irak so arm wäre wie Somalia.»

Er habe nie bereut, den Irak-Krieg im Namen der Uno für illegal erklärt zu haben. «Das war meine aufrichtige Überzeugung.» Der Preis, den er dafür bezahlen musste, überraschte aber sogar ihn. «Sowohl die Uno als Organisation als auch ich als Person wurden angegriffen. Die Situation beim Öl-für-Lebensmittel-Programm wurde benutzt, um auf uns einzudreschen.» Die USA behaupteten, bei dem Programm gebe es im großen Stil Korruption. Annan sagt, er sei fest überzeugt, dass diese Anschuldigungen nur vom Bedürfnis motiviert waren, sich an ihm zu rächen, denn als sein Sohn Kojo in die Sache hineingezogen wurde, wurde es richtig unschön. Kojo Annan hatte für eine Schweizer Bank gearbeitet, die 1998 einen Vertrag im Rahmen des Programms erhielt. Im gleichen Jahr verließ Kojo das Unternehmen. Dann wurde aber bekannt, dass die Bank ihn noch fünf Jahre weiter bezahlt hatte, ohne dass sein Vater davon wusste. Annan war beschämt. «Und wütend», fügt er hinzu.

Der Härtetest

Die Situation brachte die Vater-Sohn-Beziehung beinah zum Zerbrechen. Annan wirkt angespannt, als er davon erzählt: «Ein Freund sagte zu mir: ‚Es ist hart für dich, aber es tut mir auch für deinen Sohn leid. Er gerät nicht für was in Verdacht, das er getan hat, sondern wegen seines Vaters – das ist schwer für einen jungen Menschen.‘ Ich habe geantwortet: ‚Es gibt aber Dinge, die macht man einfach nicht.‘» Warum hatte Kojo ihm nicht von den Zahlungen erzählt? «Vielleicht erzählt man seinem Vater einfach nicht alles. Ich weiß es nicht. Wir reden von einem Jungen, der damals 22, 23 war. Mittlerweile ist zwischen uns aber wieder alles okay.»

Annan widerstand dem gewaltigen Druck aus Washington, zurückzutreten. «Mag sein, dass ich mal an Rücktritt gedacht habe. Aber da ich das Gefühl hatte, dass es sich um eine Hexenjagd handelt, wollte ich nicht aufgeben und ihnen das Gefühl geben, sie hätten gewonnen.» So hässlich der Angriff auf Annan war, im Grunde war er nur ein Teil des grundsätzlichen Konflikts zwischen nationalen Eigeninteressen und dem erhabenen Ideal des internationalen Rechts, das die Uno verkörpert. «Wir haben in den vergangenen Jahren Fortschritte gemacht, aber es stimmt: Oft siegt das nationale Interesse immer noch über das Allgemeinwohl», sagt Annan.

Er lebt heute mit seiner zweiten Frau, einer Schwedin, in Genf. Aus seiner ersten Ehe mit einer Nigerianerin stammen sein Sohn Kojo und seine Tochter Ama. Annan selbst wurde 1938 in einen mächtigen ghanaischen Stamm hineingeboren. Er genoss eine privilegierte Kindheit. Während er aufwuchs, erlangte sein Land die Unabhängigkeit von Großbritannien. Er erhielt ein Stipendium, um in den USA zu studieren und dachte, er würde zurückkehren, um seinem Land zu dienen. Aber ein Job bei der Weltgesundheitsorganisation in Genf machte ihn mit einem «spannenden internationalen Umfeld» vertraut. «Ich begann, mir klar zu werden, dass Gemeinschaft für mich etwas anderes bedeuten würde als für die Generation meines Vaters», schreibt er.

Die richtige Ansprache

Wie gelingt es jemandem mit so wenig Sinn für seine nationale Zugehörigkeit, bei Leuten Gehör zu finden, denen sie alles bedeutet? Ich habe mich oft gefragt, was Annan zu Staatsführern – oft brutalen Tyrannen – sagt, um ihr Vertrauen zu gewinnen und sie zu bewegen, Frieden zu schließen. Sein Buch ist voller Erinnerungen an Marathon-Telefonate mit Konfliktparteien. Eigentlich sei es einfach, sagt er. Man müsse verstehen, was die Menschen antreibt, an ihren Stolz und ihre Eitelkeit appellieren und ihnen einen Weg anbieten, der ihnen ermöglicht, das Gesicht zu wahren.

«Würde ist sehr wichtig. Ich sage zu meinem Gegenüber: ‚Wenn Sie wirklich ein Führer sind und die Interessen ihres Volkes Ihnen am Herzen liegen, dann müssen Sie beweisen, dass Sie Mut haben. Wenn Sie wirklich ein starker Mann sind, dann müssen Sie auf die Schwächsten in Ihrer Gesellschaft achten.‘ Diese Leute müssen spüren, dass es einem auch um ihre Interessen geht. Das sind Menschen mit sehr großen Egos und einem Sinn für Vermächtnisse, also fragt man sie: ‚Welches Vermächtnis wollen Sie hinterlassen?‘»

Denkt Annan selbst darüber nach, wie seine Arbeit vor den Augen der Welt beurteilt wird? Als ich ihn nach dem größten Missverständnis frage, das über ihn kursiert, verfällt er in ein langes, nachdenkliches Schweigen. «Dass ich zu weich sei», sagt er schließlich. «Weil die Leute denken, ich sei keiner, der auf den Tisch haut, denken sie, ich sei nicht bestimmt genug. Aber das macht mir nichts aus. Du musst dich nicht streiten, um dein Ziel zu erreichen und die Gegenseite dazu zu bringen, ihre Meinung zu ändern. Das ist wirklich nicht notwendig.»

Copyright: Guardian News & Media Ltd 2012; Übersetzung: Zilla Hofman


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