Die Geschichten der «Surprise»-Verkäufer erscheinen als Buch

Viele Surpriseverkäufer haben eine spannende Lebensgeschichte. Bald sind diese in einem Buch nachzulesen, etwa jene von Fabian Schläfli, der beim Verein Surprise eine zweite Familie gefunden hat. Mit seiner richtigen hatte er weniger Glück. Am Donnerstagabend ist Vernissage.

Fabian Schläfli lässt sich nicht unterkriegen. Der Verein Surprise hilft ihm dabei.

(Bild: Matthias Willi)

Viele Surpriseverkäufer haben eine spannende Lebensgeschichte. Bald sind diese in einem Buch nachzulesen, etwa jene von Fabian Schläfli, der beim Verein Surprise eine zweite Familie gefunden hat. Mit seiner richtigen hatte er weniger Glück.

«Am liebsten würde ich noch viel enger mit Surprise arbeiten. Hier habe ich das Gefühl, meine Behinderung wird nicht ausgenutzt, und ich kann meinem Ziel selbstständig zu werden am nächsten kommen. ‹Surprise› wurde in den acht Jahren, die ich nun dabei bin, meine zweite Familie. Im Strassenchor finde ich zudem Freude und Freunde. Das half mir über meine schlimmste Zeit, als meine Mutter gestorben ist und auch ich mir das Leben nehmen wollte. 

Der Verein Surprise veröffentlicht im September einen Porträtband mit Lebensgeschichten von 20 Verkäuferinnen und Verkäufern aus 18 Jahren Strassenmagazin. Die Buchvernissage findet am 24. September um 18:30 Uhr im Raum 54, Mörsbergerstrasse 54 in Basel statt.

Sie war mein grösster, eigentlich einziger Halt in meiner leiblichen Familie. Mit meinem Vater telefoniere ich nur. Aus Selbstschutz. Er trinkt gerne viel und hat auch gerne Frauen, die viel trinken. Das mag ich nicht. Meine Halbgeschwister sehe ich nie, ihre Kinder leider auch nicht.

Ich wurde früh von der Familie getrennt. Da ich bei der Geburt zu wenig Sauerstoff bekam und mit zwei Jahren eine Hirnhautentzündung hatte, stimmt bei mir im Kopf nicht alles. Ich wuchs in Heimen im Solothurnischen und bei einer Pflegefamilie in Buckten, Baselland auf. Dort hatte ich es eigentlich gut.

Meine Mutter vermisse ich trotzdem. Sie bedeutete mir viel. Als sie an Krebs starb, fühlte ich mich allein, von allen verlassen. Ich hatte einen psychischen Absturz und schluckte alle meine Pillen, Morphium und andere Schmerztabletten. Die hatte ich nach meinen Operationen gesammelt und aufbewahrt. Vor zwei Jahren hatte ich Schien- und Wadenbein gebrochen. Alles in allem musste ich deswegen sechs Mal unters Messer. Erst schmerzten die Platten und Schrauben und als man die entfernte, gab es Komplikationen mit Entzündungen.

«Es ist sehr schön, wenn die Leute bei unseren Konzerten klatschen. Nach Auftritten schlafe ich besser ein, mit einem Lächeln auf den Lippen.»

Aber der Tod schmerzt anders, fast mehr als körperliche Leiden. Ich werde immer sehr traurig, wenn ich nur daran denke. Anfang Jahr starb auch der ‹Surprise›-Verkäufer Wolfgang. Er war mir ein enger Freund. Mit ihm konnte ich immer reden und Wolfgang hat mich auch in den Chor geholt. An seiner Beerdigung haben wir gesungen. Mir kommen noch heute die Tränen, wenn ich daran denke. Nach seinem Tod habe ich mich verkrochen und blieb zwei, drei Wochen zu Hause.

Doch diesmal habe ich mich selbst aus dem Tief geholt, wollte wieder unter Menschen und ging zu den Chorproben. Singen reisst mich aus dem Loch. Ich mag Musik, am liebsten volkstümliche. Die Kastelruther Spatzen gefallen mir am besten. Ich habe sie in der St. Jakobshalle in Basel sogar live gesehen. Das war ein Erlebnis!

So viele Tausend Leute haben wir natürlich nie, wenn wir mit dem Chor auftreten. Aber es ist sehr schön, wenn die Leute bei unseren Konzerten klatschen. Nach Auftritten schlafe ich besser ein, mit einem Lächeln auf den Lippen.

Seit drei Jahren habe ich eine eigene Wohnung. Damit ich den Haushalt führen kann, habe ich zwei Jahre lang einen Kurs besucht. Da lernten wir, wie man ein Budget verwaltet oder was man bei der Hygiene beachten muss. Einmal in der Woche kommt jemand kontrollieren, ob alles okay ist. Ist es meistens. Darauf bin ich sehr stolz.

«Bei der IV sagen sie mir immer: Du bekommst doch dein Geld und musst dir keine Arbeit suchen. Das bringt sowieso nichts. Aber ich kämpfe für meine Unabhängigkeit.»

Ich habe viel erreicht, lebe sehr selbstständig und arbeite siebzig Prozent in einer geschützten Werkstatt. Arbeiten macht mir Spass und ich habe schon Verschiedenes gemacht: elektrische Stecker zusammengeschraubt oder Sachen vakumiert. Gerade habe ich im Service eines Restaurants angefangen. Es ist toll, wieder etwas Neues zu lernen.

Leider verdiene ich dort nicht viel. Es ist ein betreuter Arbeitsplatz. So koste ich vor allem. Ich würde gerne eine Anstellung im ersten Arbeitsmarkt finden. Aber wegen der Hirnhautentzündung ist alles, was ich lerne, sofort wieder weg. Ich kann nicht gut lesen oder schreiben und habe auch Mühe mit Rechnen.

Bei der IV sagen sie mir immer: Du bekommst doch dein Geld und musst dir keine Arbeit suchen. Das bringt sowieso nichts. Aber ich kämpfe für meine Unabhängigkeit. Mein Vertrauen in die Institutionen habe ich schon lange verloren. Am schlimmsten war ein Vormund, der mein Geld unterschlug. Er wurde von einem Gericht verurteilt, aber davon habe ich ja nichts. Mir wurde wegen nicht bezahlter Rechnungen fast der Strom abgestellt. Mein jetziger Vormund ist gut. Trotzdem frage ich mich immer: Läuft alles richtig? Ich würde lieber alles selber machen.

«Seit wir am Bahnhof drinnen das Heft nicht mehr laut rufend anpreisen können, verkaufe ich gefühlt nur noch die Hälfte.»

Der Heftverkauf ist für mich die Arbeit, die wie eine normale Beschäftigung ist. Ich bin selbstständig, ohne Aufsicht und verdiene Geld. Es wäre toll, wenn ich davon leben könnte und die Surprise-Leute mich auch neben der Arbeit betreuen würden. Ihnen vertraue ich, auch wenn es immer wieder Schwierigkeiten gibt.

So wurde mein Verkaufstandort vor dem Bahnhof SBB, wo ich über die Jahre eine Stammkundschaft aufgebaut habe, neu verteilt. Weil ich neben ‹Surprise› noch die siebzig Prozent Anstellung habe, darf ich dort nur noch zu bestimmten Zeiten verkaufen. Sonst steht ein anderer dort. Damit bin ich nicht einverstanden. Das geht mir nicht in den Kopf.

Dabei ist es am Bahnhof auch so schon schwieriger geworden. Seit wir drinnen das Heft nicht mehr laut rufend anpreisen können, verkaufe ich gefühlt nur noch die Hälfte. Und wenn noch Werbeaktionen in der Halle sind, haben die Leute nur Augen für die Gratismuster. Dann kannst du gleich zusammenpacken.»

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