Eine seltene Krankheit stoppte Alessandro Schiattarellas Karriere auf den grossen Ballettbühnen. Seither sucht er den Ausdruck in der Einschränkung. Auch bei seinem neuen Stück «Strano», das am 14. März im «Roxy» Birsfelden Premiere feiert.
Das Dilemma seines Lebens begann mit 15 Jahren. Im Übergangsalter, wo neue Stärke gepaart mit unbändigem Tatendrang andere Teenager zu törichten Aktionen treibt, erfuhr Alessandro Schiattarella, dass seine Arme und Hände von nun an immer schwächer würden, schlimmstenfalls bis zur kompletten Lähmung.
Hirayama ist der Name der Nervenkrankheit, unter der Schiattarella leidet, benannt nach dem japanischen Arzt, der sie entdeckte. In dem fernöstlichen Staat gibt etwas mehr als 300 Männer, die daran leiden. In Europa ist die seltene Krankheit kaum bekannt.
Eine Hiobsbotschaft für den jungen Mann, der von einer Ballettkarriere träumte. Das Schlimmste an der Diagnose: Je mehr er sich bewegt, desto schneller schwinden Muskeln und Nerven. Schiattarella wollte das anfangs nicht glauben und trainierte zum Trotz: «Tanz ist mein Leben. Eine Alternative dazu gibt es nicht.» Die ersten Lähmungserscheinungen in der Hand kamen schnell.
Notstopp bringt Erleichterung
Er verzweifelte, sein Umfeld zweifelte an der Diagnose. Die Familie und ein Arzt rieten ihm deshalb zu einer Operation am linken Arm. Schiattarella liess sich auf die Hoffnung ein: «In der Situation versuchst du alles.» Der Eingriff verschlimmerte seinen Zustand. «Mein Arm war entstellt, das Vertrauen in die Medizin und meine Nächsten erschüttert.»
Wohl oder übel musste er die Krankheit akzeptieren – wobei es mehr ein Arrangieren mit ihr war. «Ich fand immer eine Lösung, sie zu kaschieren und zu kompensieren.» Optisch war das mit langärmeligen Shirts einfach gelöst. Technisch musste er kreativ tricksen. «Einmal mussten wir als Harlekine stets mit geschlossenen Händen tanzen. Da fixierte ich meine Finger einfach mit einem Gummiband.»
Alessandro Schiattarella hat die grossen Häuser hinter sich gelassen und arbeitet in der freien Szene. Derzeit probt und choreografiert er im «Roxy» in Birsfelden. (Bild: Eleni Kougionis)
Damals tanzte er nach einem Zwischenstopp an der Mailänder Scala bereits für das renommierte Béjart Ballet in Lausanne. In den sechs Jahren dort entwickelte sich der Traumberuf immer mehr zum Albtraum. «Dauernd überlegte ich, wie ich meine Arme, die dünner und dünner wurden, verstecken konnte. Ständig hatte ich Angst: Sieht es das Publikum? Ist das nächste Kostüm kurzärmelig? – Alles drehte sich nur noch um die Arme und meine Hände.»
Eine selbstzerstörerische Phase, psychisch wie physisch, bis nichts mehr ging. «Erst konnte ich meinen Zeigefinger nicht mehr bewegen, dann den nächsten – es war frustrierend. Was konnte ich tun? Stretchen? Dann ging noch mehr Energie verloren.» Schiattarella machte einen Stopp. «Das Ruhen war schwierig, da ich mich über Bewegung definiere. Doch als nach drei Monaten das Gefühl in die Finger zurückkehrte, war das ein schöner Moment.»
Verlangt wird der Standard, nicht das Spezielle
Schiattarella tanzte weiter. Erst als Freelancer, dann bei Kompanien in Rotterdam, in Bern und Genf. 2012, auf dem Weg zu einer Audition in Amsterdam blieb er am EuroAirport Basel hängen, weil der Flug ausfiel. Da er Tänzer am Ballett Basel kannte, konnte er spontan vortanzen und bekam von Direktor Richard Wherlock ein Angebot. «Dabei wusste ich nie, ob ich von meiner Krankheit erzählen sollte. Schliesslich brauchte ich den Job.»
In seinem Lebenslauf stand nichts davon. Seine Erfahrung aus damals zehn Jahren als Profitänzer hatte ihn gelehrt: «So lange die Choreografen nichts wussten, war alles okay. Wenn ich sie später aufklärte, wurde ich immer mehr zur Seite geschoben.» Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Nach zwei Jahren war in Basel jedenfalls Schluss. «In klassischen Tanzkompanien arbeitet man immer auf der Basis der Standards, nicht mit dem Speziellen», so Schiattarella. Er zieht den Vergleich von Intendanten mit Malern. «Ich bin keine weisse Leinwand, die vom Künstler nach seinem Gusto bemalt werden kann.» Ein Teil ist bei ihm schon gezeichnet.
«Betrachtet man die persönliche Abweichung vom Standard nicht als Einschränkung, kann man mit Kreativität Bereiche ausloten, die anderen verwehrt sind.»
Doch muss das den Ausdruck des Tanzes nicht einschränken. Im Gegenteil. «Ein wunderschönes Stück von Claire Cunningham, die wegen ihrer brüchigen Knochen mit Stöcken tanzt, öffnete mir die Augen», sagt Schiattarella. «Betrachtet man die persönliche Abweichung vom Standard nicht als Einschränkung, kann man mit Kreativität Bereiche ausloten, die anderen verwehrt sind.»
Bereits vor dem Engagement am Theater Basel hatte er sein erstes Solo-Stück «Altrove» geschrieben, das noch heute gebucht wird. Kommenden April tanzt er es in Dänemark. «Die Krankheit ist da schon Thema, doch noch versteckt unter viel Technik.» Sein nächstes Stück «Tell me where it is» war bereits konfrontativer – für ihn wie das Publikum. Schiattarella tanzt anfangs nackt, am Ende sind nur noch seine Arme entblösst, womit der Fokus klar gesetzt ist.
Der 35-Jährige sieht in diesem für manche verstörenden Akt eine Versöhnung mit seinem Körper. «Ich muss mich heute nicht mehr verstecken und habe einen spielerisch kreativen Weg im Tanz gefunden, wo ich mich nicht mehr selbstzerstörerisch überstrapaziere.» In Basel ist er in der freien Szene mittlerweile ein gefragter Mann, auch als Choreograf. «Ich glaube, ich bin auch besser geworden, da ich heute befreit und mit viel Spass an der Arbeit tanze. Die Krankheit hat mich kreativer gemacht.»
Drin oder draussen?
In der «feindlichen Umgebung» einer regulären Tanzkompanie wird er nie mehr arbeiten. Basel bleibt aber sein Wohnsitz, da er den offenen Geist in der Stadt mag und per Direktflug schnell bei seiner Familie in Neapel ist. Als Nächstes will er nun endlich richtig Deutsch lernen: «Eine gute Herausforderung, um mich weiterzuentwickeln.»
Das aktuellere Projekt ist nun aber sein erstes Stück, das er für eine Gruppe von sechs Tänzern choreografiert und inszeniert. «Strano» handelt vom Leben mit Einschränkungen und dem Streben nach dem Standard als Ideal. Es geht um Inklusion und Exklusion – also darum, welche Talente jeder unabhängig von seinen Voraussetzungen in die Gesellschaft einbringen kann und wo der Standard als Selektion für Ausschluss dient.
Wer ist drin, wer draussen? In «Strano» setzt sich Alessandro Schiattarella mit gesellschaftlichen Ausschlussmechanismen auseinander. Auch bei den Proben stossen die Tanzenden immer wieder an Grenzen. (Bild: Eleni Kougionis)
Das Stück ist so politisch wie persönlich. Fast alle Tanzenden haben eine spezielle Lebensgeschichte, die nicht immer so augenscheinlich ist wie bei einem Tänzer im Rollstuhl. Schiattarella: «Bei den Proben stossen wir nicht nur körperlich ans Limit. Da ist es nicht immer einfach, als selbstbewusster Leader voranzugehen. Schliesslich kämpfe auch ich immer wieder mit meinem Leben.»
Doch hat der Tänzer heute seinen Weg gefunden, einen, auf dem der Kampf ihn nicht selbst zerstört. Exponiert er sich nun mehr, um der Gesellschaft eine Normalität abseits des Standards zu zeigen oder als Vorbild für andere Menschen mit Einschränkungen, zu sich zu stehen und seine Talente auszuspielen? «Ich hoffe alle zu erreichen und mit dem Stück etwas anzustossen.»
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«Strano», 14.–19. März, Theater Roxy, Birsfelden.