Diesen Sommer verbrachte ich eine Nacht mit einer Weissrandfledermaus auf dem Balkon. Dann kam Frau Wyss aus Riehen und nahm sich des Problems an. Meine Begegnung 2016.
Ich treffe Frau Wyss mit einer Schachtel in der Hand. Einer Schachtel für Korksandalen, aber dafür interessiert sich Frau Wyss nicht. Auch nicht für mich, sondern alleine für den Inhalt der Box. Als ich bei ihr klingle, eilt sie aus ihrer Wohnung die Treppe herab, stellt mich noch im Eingang des Riehener Wohnblocks.
«Darf ich mal sehen?», fragt sie, während sie behutsam den Deckel anhebt. «Ist das die Station?», frage ich zurück und zeige auf die halb geöffnete Wohnungstür. Frau Wyss errät meine Intention: «Ja, aber wir können da nicht rein.» Ich blicke sie verdutzt an. «Ich besitze einen Papagei, der Männer hasst. Wenn der Sie sieht, gibts Radau.» Das hätte mir gerade noch gefehlt: Stress mit einem männerhassenden Vogel.
Wir wickeln den Deal im Flur ab: Sie kriegt die Kiste und ich mein Leben zurück.
Gaunergesicht mit lächerlich grossen Ohren
Die Sonne stand hoch, als ich ihn fand. Ein daumengrosser schwarzer Fleck vor der Haustür, der mir frech den Weg versperrte. Er lag ohne jeden Schutz in der Sonne, im Hochsommer, zu einer Tageszeit, wo man jedem schwarzen Ding nur raten kann, in Deckung zu gehen.
Der schwarze Fleck liess sich hochheben und auf die Dokumentationsmappe einer Medienkonferenz schaufeln, deren Inhalt ich vergessen habe. Ich begutachtete den Fund – und schreckte zurück: Das Ding entpuppte sich als grätiges Getier mit einer wolligen Mitte, einem Gaunergesicht, lächerlich grossen Ohren und zwei winzigen, eingegrabenen Augen.
Lucretia Wyss darf eigentlich keine persönliche Beziehung zu ihren Fledermäusen aufbauen, scheitert aber regelmässig an diesem Anspruch. (Bild: Eleni Kougionis)
Das Tier, offensichtlich eine Fledermaus, machte keinen Wank mehr. Anders als Nachbars Kater, der aus dem Gebüsch geschossen kam, als er sah, wer sich da an seiner Beute vergriff. Während ich dem Kater einen Tritt versetzte, als er laut klagend um meine Beine charmierte, rief ich den 24-Stunden-Notfalldienst für gefundene Fledermäuse an.
Die folgende Nacht verbrachte ich wach. «Flädi», wie ich die Fledermaus getauft hatte, sass derweil auf einer alten Wandersocke, die ich über einen Blumentopf gestreift hatte. Ich hoffte, der Bursche würde sich davon machen – oder von seiner Mama abgeholt, wie es hin und wieder vorkommt. Weil Flädi am nächsten Morgen noch immer da sass und auf bessere Zeiten wartete, führte kein Weg an Frau Wyss vorbei.
Fledermäuse haben es schwer bei uns, deshalb freut sich Frau Wyss über jeden Anruf – auch wenn es sie immer schüttelt, sobald jemand sagt, er habe ein «Flädi» gefunden: «Flädi, was für ein unpassender Name.» Bei ihr heissen sie alle Mausi. Das passt besser, findet sie, weil sie ja wirklich wie geflügelte Mäuse ausschauen.
Eigentlich dürfte sie ihnen gar keine Namen geben, noch nicht mal Mausi. «Es gehört zu den eisernen Prinzipen, dass man keine persönliche Beziehung zu den Pflege-Tieren aufbaut», sagt sie. Doch Frau Wyss hält sich nicht so absolut daran. «Das geht doch gar nicht. Mir liegen die Kleinen am Herzen.» Gerade bringt sie einen Grossen Abendsegler über den Winter, der mit einem Riss in der Flughaut am Zoll gefunden wurde. Der wolle oft erst kuscheln, bevor er fresse und auch nach der Fütterung krieche er erstmals in eine Falte in ihrem Faserpelz. «Wie soll man da nicht schwach werden?», fragt sie.
Erfolgreich reingekuschelt: Mausi, ein Grosser Abendsegler mit Flügelriss hat es unter den Arm von Lucretia Wyss geschafft. (Bild: Eleni Kougionis)
Seit zwei Jahren führt die 55-Jährige die Notfallstation in Riehen. Das Material wird ihr vom Trägerverband gestellt, Lohn erhält sie keinen. Das störe sie nicht, sagt sie, sie sei schon immer eine begeisterte Naturschützerin gewesen. Mit einem immer tieferen Verständnis für die Natur. Für das Ökosystem, die grossen Zusammenhänge, die bei den Mikroorganismus anfangen und bei den Fledermäusen nicht aufhören.
Reh schiessen ja, Leber essen nein
Deshalb, erzählt sie, gehe sie auch auf die Jagd. Hätte es genügend Raubtiere würde sie es bleibenlassen, aber so brauche es den regulatorischen Eingriff. Zwei Tiere hat sie bislang geschossen: einen Rehbock, der von einem anderen Jäger angeschossen wurde und einen Fuchs nach einer Treibjagd. Ist das nicht ein schreckliches Gefühl, will ich von ihr wissen. «Ja, es nimmt mich mit», sagt sie. Aber sie denkt sich auch, besser sie isst ihr selbstgeschossenes Bio-Fleisch als solches aus den Schlachtfabriken. Auch wenn ihr das nicht immer leichtfällt: Als Jagdtrophäe durfte sie einmal die Rehleber mit nach Hause nehmen. Ihr Freund bereitete sie zu: «Er hat das gut gemacht, aber ich konnte sie nicht essen.»
Verdrückte 19 Maden von 30, die ihm zugestanden hätten: Mausi bei der Fütterung. (Bild: Eleni Kougionis)
Frau Wyss isst Fleisch, sie besitzt ein Auto. Sie weiss um die kleinen Widersprüche, die man annehmen muss, um ein erfülltes Leben zu führen. «Wissen Sie», sagt sie, «im Grossen und Ganzen bin ich im Reinen mit mir.»
Nachdem ich ihr die kleine Weissrandfledermaus vorbeigebracht habe, dauert es rund einen Monat bis Wyss wieder anruft. Sie werde das Tier nun am Fundort, am Basler Hebelplatz, freilassen. Gemeinsam stehen wir auf dem Platz, versuchen das Tierchen zum Abflug zu motivieren. Mausi will nicht. Er verharrt regungslos in ihrer Hand, fühlt sich dort offenkundig wohl. Frau Wyss streichelt ein paar Mal über den pelzigen Rücken des Tieres. Irgendwann zittert der Bursche am ganzen Körper. «Jetzt wärmt er sich auf», sagt Frau Wyss. Dann hebt er ab und flattert in die Dämmerung. Zurück bleiben wir und ein Gefühl, dass es gut ist, gibt es Leute wie Lucretia Wyss, die im Kühlschrank Mehlwürmer statt Joghurts lagern.
Flädi alias Mausi alias Weissrandfledermaus-Jungtier bei der erfolgreichen Freilassung auf dem Hebelplatz. (Bild: Renato Beck)