Dieser Mann lässt die Toten im Münster-Kreuzgang sprechen

Die Grabtafeln im Münster-Kreuzgang erzählen uralte Basler Geschichten, die kaum einer kennt. Der Philologe Andreas Pronay macht sie in einem Buch wieder zugänglich. Manche sind tragisch, andere verblüffend, und stets sind sie interessant.

Beschäftigt sich seit 60 Jahren mit den Geschichten in den beiden Kreuzgängen: Andreas Pronay.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Die Grabtafeln im Münster-Kreuzgang erzählen uralte Basler Geschichten, die kaum einer kennt. Der Philologe Andreas Pronay macht sie in einem Buch wieder zugänglich. Manche sind tragisch, andere verblüffend, und stets sind sie interessant.

An den Grabtafeln beim Münster schlendern viele vorbei, Touristen wie Einheimische. Was sie zu erzählen haben, fragt sich vielleicht nicht jeder. Manchen mögen die illustren Namen aus der Basler Geschichte aufgefallen sein. Aber sonst?

Rund 120 Grabtafeln sind es im Kreuzgang. Ihre Sprache: Latein. Auf Deutsch übersetzt waren bislang die wenigsten. Bis der Altphilologe und pensionierte Gymnasiallehrer Andreas Pronay sich dieser Aufgabe angenommen hat. «Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgängen des Basler Münsters» heisst sein Buch, das voraussichtlich im November erscheint.

Der grosse Stolperstein für die Forschung seien die vielen Abkürzungen auf den sogenannten Epitaphien gewesen. «Diese zu entschlüsseln, war die schwierigste Aufgabe», sagt Pronay.

Grabstätte bis ins 19. Jahrhundert 

Der 75-Jährige kennt den Kreuzgang wie seine Westentasche. Hier verbrachte er schon als Schüler des damaligen Humanistischen Gymnasiums seine Pausen. Und wer sich im Unterricht nicht artig benahm, wurde zur Strafe hierher geschickt und musste die Grabtafelinschriften übersetzen. Das passierte Andreas Pronay allerdings nicht so oft: «Ich war eher ein braver Schüler», sagt er und schmunzelt.

Als Strafe hätte er die Aufgabe ohnehin kaum empfunden. Inzwischen beschäftigt sich Pronay seit fast 60 Jahren mit dem Kreuzgang aus dem 15. Jahrhundert. «Eigentlich sind es zwei», korrigiert Pronay. «Zwei Kreuzgänge: der kleine und der grosse.»

In Mittelalterfilmen wandeln Mönche oft in langen Reihen in solchen Kreuzgängen. In Basel jedoch dienten diese vor allem als Begräbnisstätte für die städtische Elite. Der Bürgermeister und «Schweizerkönig» Johann Rudolf Wettstein ruht hier, der Mathematiker Jakob I. Bernoulli oder der Reformator Oekolampad. Alles berühmte Persönlichkeiten. Auch Familiennamen wie Merian, Burckhardt, Legrand, Grynäus und Faesch sind gut vertreten.

In den meisten Fällen liegen die Gebeine nicht in der Wand, sondern unter den Grabplatten – viele davon anonym. Wie Pronay vermutet, müssen die Skelette regelrecht gestapelt aufeinander liegen. Die letzten wurden noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts hier beigesetzt. Dann wurde es schlicht zu eng, und man wich auf die Friedhöfe an den Stadträndern aus.

Die Frau im Club der gewürdigten Basler

Über die jeweilige Zeit, aus der die Begrabenen stammen, können die Grabtafeln einiges erzählen, spannende und manchmal auch tragische Geschichten. Manche Tafeln fallen besonders auf, etwa diejenige von Barbara Vogelmann, verstorben 1594. Die einzige Frau mit eigenem Epitaph, sagt Pronay, unter so vielen gewürdigten Herren. Normalerweise hatte sich eine Gattin mit einer Erwähnung auf der Grabtafel ihres Mannes zu begnügen. Doch Barbara Vogelmanns Ehemann, der Botaniker Caspar Bauhin, hat ihr eine eigene Tafel gewidmet. Weil sie tragisch starb, im Alter von 33 Jahren und unter grossen Schmerzen, wie in der Inschrift betont wird.

Ein anderer Grabstein ist aussergewöhnlich mutig. Über Tote soll man nur Gutes reden, heisst es. Und so stehen auf Inschriften in der Regel lobende Formeln. Johann Georg Schweighauser bricht damit und verewigt stattdessen sein Scheitern. Der mit seinem Epitaph beauftragte Steinmetz sollte für Schweighauser einmeisseln, dass ihn das Schicksal von den öffentlichen Ämtern ausgeschlossen habe. Zwar war er im Grossen Rat und am Appellationsgericht, doch offenbar wurden ihm weitere gewünschte Karriereschritte verwehrt. «Er lebte trotzdem wie es einem ehrenhaften Mann geziemt», steht auf dem Stein. Schweighauser wusste, wie man sich bescheiden gibt.



Was hat es mit der rätselhaften Spirale bei der Grabtafel des Mathematikers Jakob I. Bernoulli auf sich? Andreas Pronay macht nun diese und andere Inschriften der Kreuzgänge zugänglich.

Was hat es mit der rätselhaften Spirale bei der Grabtafel des Mathematikers Jakob I. Bernoulli auf sich? Andreas Pronay macht nun diese und andere Inschriften der Kreuzgänge zugänglich. (Bild: Alexander Preobrajenski)

«Emanuel Zaeslinus», «Melchioris Hornlocheri», «Onophrion Merian» und anderes mag heute komisch klingen. Doch wie Pronay bestätigt, war das Latein der Grabstifter ausgezeichnet. Auch gelehrte Griechisch- und Hebräisch-Zitate kommen vor. Fehler haben sich da und dort trotzdem eingeschlichen. Zum Beispiel hat ein Steinmetz die Zahl III falsch geschrieben, daraus ein «M» für «Mille» (Tausend) gemacht, womit er auf ein Todesdatum im Jahr 2700 gekommen ist.

Auch vermeintlich simple Kratzer können manchmal Geschichten erzählen. Ein Grabrelief mit einer Kreuzigungsszene fiel etwa nach der Reformation den Axthieben des Bildersturms zum Opfer.

Ein Faible für alte Sprachen hatte Pronay schon als Schüler. «Ich habe immer liebend gerne Texte entschlüsselt», erinnert er sich. Dabei musste er als 15-Jähriger im Schnellzugtempo gleich mehrere Sprachen lernen.

Aufgewachsen ist Pronay in Budafok, einem Vorort von Budapest. Der Ungarn-Aufstand, der sich am 23. Oktober zum 60. Mal jährt, ist auch für Pronay ein einschneidendes Datum. Seine Familie emigrierte während des Aufstands in die Schweiz. Da sein Bruder an der Revolte gegen die kommunistische Regierungspartei teilgenommen hatte, sorgten sich die Eltern um das Schicksal der Familie.

Spannende alte Sprachen

Neuankömmling Andreas Pronay sprach damals noch kein Wort Deutsch. Er lernte es innerhalb von wenigen Jahren, während er am Gymnasium gleichzeitig mehrere Jahre Rückstand in den Fächern Latein und Griechisch aufholen musste.

Gerne spricht er nicht über jene Zeit. Er kann sich aber erinnern, dass es eine Umstellung war: «Man fühlte sich schon ein bisschen im Glaskasten», sagt Pronay. Die Ungarn seien damals noch als etwas Exotisches angeschaut worden: «Zuerst betrachtete man sie als Freiheitskämpfer, dann machte sich doch die Ernüchterung breit, dass sie als Menschen auch ihre Makel hatten», erinnert er sich.

Nach der Matura verfolgte Pronay sein Interesse an alten Sprachen weiter: Er studierte Klassische Philologie und Philosophie an der Uni Basel. Nach einem Doktorat über Aristoteles arbeitete er während rund 35 Jahren als Lehrer, die meiste Zeit davon im Gymnasium Bäumlihof. Daneben veröffentlichte er immer wieder wissenschaftliche Arbeiten.

Mit Sorge beobachtet er nun den Abstieg des Lateins an den Schulen. «Das ist eine Verflachung der Bildung», findet er. Wichtige Grundlagen zum Verständnis von Kultur und Wissenschaft gingen so verloren.

Nach der Pensionierung widmete er sich wieder ganz der Forschung. Mit seinem Buch zu den Grabtafeln ist Pronays Arbeit noch nicht abgeschlossen. Ein zweiter Band zu den Inschriften im Münster und der Krypta ist bereits in Planung.

_
Andreas Pronay, «Die lateinischen Grabinschriften in den Kreuzgängen des Basler Münsters», Schwabe-Verlag. Voraussichtlich ab November 2016 erhältlich.

Nächster Artikel