Ursula Reichlin ist eine Wasserratte: Über 30 Jahre verbrachte die Luzernerin mit ihrem Mann unterwegs auf dem Rhein, bevor sie 2012 als erste «Kapitänin» in die Basler Personenschiffahrt einstieg. Mittlerweile ist die 50-jährige nautische Leiterin und hat sich in einem Männerberuf durchgesetzt.
«Urban, schau mal, die Metallbestückung löst sich.» Ursula Reichlin tippt beim Vorbeigehen mit ihren Schuhen an eine Schiebetür und macht den Kapitän Urban Grossholz auf den Makel am Schiff aufmerksam. Es ist ihr Job, bei den drei Schiffen Christoph Merian, Lällekönig und Basler Dyybli nach dem Rechten zu schauen.
Seit Beginn dieses Jahres ist die 50-Jährige nautische Leiterin der kleinen Personenschiff-Flotte auf dem Basler Rhein. Sechs Mal wöchentlich werden hier Kursfahrten von Basel nach Rheinfelden und wieder zurück angeboten. Zudem gibt es verschiedene Sonderanlässe, zum Beispiel Musiknächte und kulinarische Fahrten – etwa ein spanisch-mexikanischer Abend einmal monatlich.
Bei jedem Wetter draussen
Auch privat können die Personenschiffe gebucht werden. Die Angebote werden nicht nur von Touristen, sondern vor allem von Leuten aus der Umgebung genutzt: «Die Basler lieben das gediegene Schiffahren auf ihrem heiss geliebten Rhein», sagt Reichlin. Die Hochsaison der Personenschifffahrt ist von Mai bis Oktober, hat also eben erst begonnen.
Das Wetter könnte allerdings besser sein, als wir uns zum Fotoshooting ins Steuerhaus begeben. Es ist regnerisch-trüb. «Das ist vielleicht gar nicht schlecht», meint Reichlin, «das zeigt den Leuten, dass wir auch an solchen Tagen draussen auf dem Wasser sind.» Ausser wenn der Rhein extremes Hochwasser führt, finden die Schifffahrten bei jeder Witterung statt.
Über die Liebe zur Schifffahrt
Reichlin hat sich schon als Jugendliche für ein Leben entschieden, das sich vorwiegend auf dem Fluss abspielt und dabei eine erstaunliche Karriere hingelegt.
Alles nahm seinen Anfang, als sie sich als 17-Jährige in einen Matrosen verliebte. Sie hatte eben eine Servicelehre abgeschlossen, aber dieser Beruf habe ihr «nicht gepasst». So kam die Gelegenheit günstig, mit ihrem Matrosen loszuziehen. «Ich entschied mich kurzerhand für ein Leben, das mich mehr ‹gluschtete› als die Arbeit im Luzerner Hotel, in dem ich die Lehre gemacht hatte. Diese Entscheidung habe ich nie bereut.»
Ihr Freund, der mittlerweile ihr Mann und der Vater ihres Sohnes geworden war, arbeitete sich schnell hoch. 1985 war er bereits Kapitän. Die beiden kauften sich ein Tankschiff und gründeten eine Firma zur Transport-Binnenschifffahrt. Reichlin begann, sich autodidaktisch das Knowhow der Schiffsfahrt anzueignen. 1989 kauften sie und ihr Mann einen zweiten Tanker: Er trug den Namen Opalin, mass 110 Meter in der Länge und elf Meter in der Breite.
«Es war schon ein Opfer, unseren Sohn nur so selten zu sehen.»
«Die Familiengründung war für uns ein Scheideweg», erinnert sich Reichlin, «die Frage drängte sich auf, wie wir die Schifffahrt und die Familie vereinen können.» In den ersten Jahren wuchs ihr Sohn auf dem Rhein auf, teilte das Wasserrattenleben seiner Eltern. Irgendwann stand aber fest: Das Kind musste an Land und zur Schule.
Da sie sich eben erst als Firma etablierten, kam es für sie nicht in Frage, die Schifffahrt ganz aufzugeben. Auch konnten es sich die beiden nicht vorstellen, dass sie als Mutter alleine an Land gehen würde: «Da geht die Ehe einfach in die Brüche, man muss sich nichts vormachen», meint Reichlin.
Sie entschieden sich also, ihren Sohn im Schifferkinderheim unterzubringen. «Es hat ihm dort eigentlich gut gefallen, und in den Ferien nahmen wir ihn so oft es ging mit aufs Schiff.» Allerdings wolle er bis heute nichts mit der Schifffahrt zu tun haben, erzählt Reichlin schmunzelnd. Und dann, etwas nachdenklich: «Es war schon ein Opfer, unseren Sohn nur so selten zu sehen.»
Die Bedingungen der Binnenschifffahrt wurden härter
Doch Reichlin und ihr Mann entschieden sich für ein Leben auf dem Fluss, auch sie machte das Patent und wurde Kapitänin. Dabei musste sie nicht den Weg über die Matrosenlehre gehen, sondern hatte die Möglichkeit, über einige Jahre hinweg in einem Dienstbuch alle Fahrten zu dokumentieren.
Es lief gut in der Firma, auch mit der Familie schien es zu funktionieren. Doch es gab andere Gründe, die das Paar schliesslich an Land holten. Die Binnenfahrt sei ein ziemlich hartes Pflaster geworden, erklärt Reichlin, die Regeln wurden immer restriktiver: «Als kleiner Schweizer Betrieb wurde es schwer, mitzuhalten. Auch, weil die Frachterlöse immer kleiner wurden.»
«Mir fiel es schwer, angestellt zu sein, mir Dinge von einem Vorgesetzten sagen zu lassen.»
2012 löste das Ehepaar die Firma auf, verkaufte den Tanker nach Afrika, und kam, erstmals seit über 30 Jahren, für längere Zeit an Land. Dies sei eine grosse Umstellung gewesen. Mittlerweile haben sich die Ehepartner allerdings auch als Landratten etabliert.
Ihr Mann Rolf Reichlin ist technischer Direktor bei einer Schifffahrtsfirma, und Ursula Reichlin kam bei der Basler Personenschifffahrt unter, anfangs als Schiffsführerin, mittlerweile als nautische Leiterin. «Anfangs fiel es mir schwer, angestellt zu sein, mir Dinge von einem Vorgesetzten sagen zu lassen», meint Reichlin, «über Jahrzehnte hinweg waren wir die Chefs».
«Frau Kapitän» ist nichts Exotisches mehr
Reichlin werde von ihrem neuen Arbeitsgeber geschätzt: «Da ich von der Grossschifffahrt komme, konnte ich wertvolle Erfahrungen ins Team mit einbringen.» Ihr Job als nautische Leiterin sei «eine tolle Mischung aus Büroarbeit, Organisation und Schifffahren». Im überschaubaren, nautischen Team mit vier Kapitänen und fünf Matrosen komme zudem jeder einzelne nicht um Putz- und Aufräumarbeiten herum, auch sie selbst nicht: «Bei den Personenschifffahrten reissen die Matrosen zudem selbst die Tickets.»
Im Team ist sie die einzige Frau. Trotzdem fühle sie sich als «Frau Kapitän» nicht mehr exotisch. Dabei gilt sie als Vorreiterin des Einzugs der Frauen in den Kapitänsberuf: «Als ich 1995 im Basler Hafen mein Patent machte, war ich schweizweit die allererste Frau! Die waren total überfordert mit dem Titel, den sie mir geben sollten, da Kapitänin als unschöne Derivation empfunden wurde. Man einigte sich dann offiziell auf Schiffsführerin.»
«Macht ein Passagier einen Spruch wegen meines Geschlechts, kontere ich mit der Frage, ob der Herr mir dann beim Parkieren helfen könne.»
Mittlerweile wurde dieses starre Geschlechterbild aufgeweicht. Viele Frauen würden, ähnlich wie Reichlin, über ihre Ehemänner in die nautische Arbeit «reinrutschen». Laut Reichlin habe dieser Wandel auch mit der Veränderung der Berufstätigkeiten zu tun. «Der Kapitänsberuf wird mit Bildern von schweisstreibender Schwerstarbeit verbunden. Dies entspricht jedoch nicht mehr der Realität.» Vieles sei heute mechanisiert, und einen Knopf drücken könne man sogar mit dem kleinen Finger, sagt sie scherzhaft.
Doch noch immer begegnet Reichlin Menschen, die gerne ein männliches Kapitänsklischee bedienen würden: «Vor den Schifffahrten begrüsst das nautische Team die Passagiere jeweils an Deck. Manchmal bemerke ich dann schon eine gewisse Ungläubigkeit, weil ich eine Frau bin.»
Doch in der realen Berufswelt fühlte sich Reichlin noch nie benachteiligt, im Gegenteil. «Es gibt einen enormen Mangel an nautischem Personal, viele sind einfach nur froh über qualifizierte Fachkräfte, ohne das Geschlecht zu beachten.» Deshalb kann sie die Kommentare mancher Passagiere mit Humor nehmen. «Ich kontere meistens mit einem Spruch, frage zum Beispiel, ob der Herr mir dann beim parkieren helfen könne.»