Von aussen ist es ein gewöhnliches Mehrfamilienhaus im Hirzbrunnen-Quartier. Doch hinter der Wohnungstür von Nataliya Iqbal erwartet einen eine kleine, heimelige Welt aus Vintage, Landhaus-Stil und Shabby Chic. Der Kater Sputnik schaut vom hohen antiken Holzschrank herab, Katze Sina schläft im Katzenturm. Die grossformatigen Leinwand-Fotos stammen alle von Iqbals Lebenspartner und zeigen traumhafte Urlaubsorte.
Das Wohnzimmer vermittelt Geborgenheit, es wirkt wie eine gemütliche heile Welt. Doch die steht in hartem Kontrast zu dem, was die heute 44-Jährige durchgemacht hat. «Ich bin wirklich durch die Hölle gegangen», sagt sie mit ihrem leichten russischen Akzent und meint damit die Zeit ihrer Krebserkrankung, die 2013 begann.
Damals hatte sie ihre erste Hölle gerade hinter sich. Viele Jahre und sehr viel Kraft hätte es sie gekostet, sich aus einer schwierigen Ehe zu lösen, in der es auch Gewalt gab. Drei Kinder hat sie mit ihrem Ex-Mann, diese kamen gerade in die Pubertät.
«Ich wollte leben»
Kurz nach der Scheidung wollte sich die gelernte Schneiderin selbstständig machen. Ihr neuer Lebensgefährte, «mein Traummann», hatte den Flyer schon produziert. Jetzt sollte das neue Leben beginnen, endlich. Mit einem liebevollen Partner, mit frischer Kraft und Leichtigkeit.
Und dann diese Schmerzen im Unterleib. Diagnose: Eierstockkrebs. «Ich konnte nicht fassen, was die Ärzte sagten», erzählt Iqbal, «es war so unwirklich. ‹Das bin nicht ich!›, habe ich geschrien.» Es folgten Operationen, Bestrahlungen, Chemo. Als ein genetischer Test zeigte, dass sie ein hohes Brustkrebs-Risiko hatte, entschied sie sich, das Gewebe beider Brüste wegoperieren zu lassen.
«Es war so eine schwierige Entscheidung. Aber ich wollte leben.» Dann zeigte eine weitere Untersuchung: Sie hatte bereits Metastasen im Bauch. «Ich war so wütend! Auf das Leben, auf den Krebs, auf meinen Ex-Mann.»
Nataliya Iqbal erzählt, wie sie 1996 aus der Ukraine in die Schweiz kam. Es habe geheissen, in der Ukraine gebe es schöne Frauen, und ihr Ex-Mann habe sich dann sie ausgesucht und um sie geworben. «Wir waren schon ein komisches Paar», sagt sie und lacht. Es hielt sie nicht viel in der Heimat; mit fünf Jahren war sie adoptiert worden. Heute hat sie kaum noch Kontakt zur Familie.
Sie zieht ein Kissen in Herzform zu sich heran und streicht über den Stoff. Oben ist es lila gemustert, unten einfarbig. An einem Tag in dieser persönlichen Hölle in der Uniklinik kam eine Krankenschwester und schenkte ihr das Kissen. «Es hat meine Lieblingsfarbe, aber das konnte die Schwester ja nicht wissen!»
Das Kissen unterstützt den Körper wie die Psyche – eine Krebspatientin braucht beides.
Durch seine Form polstert es Frauen mit Brustkrebs beim Liegen. Aber auch als Symbol hat es Kraft. «‹Du bist nicht alleine›, hat sie zu mir gesagt», erzählt Iqbal. Von da an begleitete das Kissen sie durch die schwierigen Monate und Jahre, durch Schmerzen, Ungewissheit, Traurigkeit. Es stehe für physische und psychische Unterstützung – «als Krebspatientin brauchst du beides».
Iqbal wollte wissen, wer dieses Kissen genäht hatte und erfuhr, dass eine ehemalige Patientin das ehrenamtlich machte. Bald wurde Iqbal gefragt, ob sie diese Aufgabe übernehmen wolle. Und sie wollte. Anderen Frauen den Trost spenden, den auch sie erfahren hatte.
«Das Nähen war wie eine Therapie für mich», erzählt sie, denn nach den Bestrahlungen hatte sie kaum Gespür in ihren Fingerspitzen. Dieses kam nach und nach zurück, auch durch das Nähen, ist sie überzeugt. Anfänglich nähte sie zehn, zwanzig Kissen pro Woche, inzwischen sind es etwa fünf. In den vergangenen zwei Jahren hat sie also schon Hunderte Kissen genäht, gezählt hat sie sie nicht.
«Immer wenn ich neue Kissen bringe, sind die anderen weg. Das macht mich traurig. So viele Frauen erkranken an Brustkrebs, und nicht alle werden wieder gesund.»
Nataliya Iqbal hat den Weg zurück ins Leben geschafft. Sie hat eine 60-Prozent-Anstellung in einem Nähatelier in Basel und näht auf Anfrage auch auf selbstständiger Basis. «Ich habe zum Beispiel dieses Kleid genäht», sagt sie und zeigt auf ihr schwarzes Kleid mit Spitze an Kragen und Ärmel. «Ich wollte etwas Schönes zum Anziehen haben, wenn Sie kommen», sagt Iqbal und lacht.
Tabuisierte Krankheit
Nach all den Kissen, die sie unentgeltlich genäht hat, denkt sie, dass es nun vielleicht an der Zeit wäre, dass jemand anderes übernehme. Unterstützend möchte sie gerne weiter im Hintergrund tätig sein und einweisen, aushelfen. Zudem hat sie weitere Ideen, wie sie Frauen mit Krebs unterstützen möchte. Zum Beispiel als Gesprächspartnerin für Russisch Sprechende.
«In der russischen Kultur ist Krebs ein Tabu», sagt sie, «viele Frauen wollen nicht darüber sprechen. Sie schweigen die Krankheit tot.» Das liege daran, dass die Menschen sich nach aussen stets stark zeigen wollten und keine Schwäche zuliessen.
Das hält Iqbal für einen grossen Fehler. «Die Krankheit ist so tiefgreifend. Die Therapien schwächen dich, ich musste zum Beispiel erstmal wieder lernen zu laufen. Das alles hat nicht nur mit dem Körper zu tun. Es ist wichtig, darüber zu sprechen und es zu verarbeiten!» Deshalb gehe sie selbst regelmässig zur Psychiaterin. Die Krankheit habe Todesängste ausgelöst, die sie heute noch manchmal panikhaft überfielen, erzählt sie.
Nein, für Nataliya Iqbal ist der Krebs kein Tabu. Vor uns sitzt eine starke Frau, die selbst durch die Hölle gegangen ist und dafür Worte findet. Oder sich an ihre Nähmaschine setzt, um einer weiteren Frau eine wortlose Nachricht aus Watte und Stoff zu überbringen: «Du bist nicht alleine.»