In der Schweiz ein Strassenmusiker, in Venezuela ein Star

Hier ein Strassenmusiker, daheim in Venezuela ein bekannter Jazz-Saxofonist und Schauspieler: Víctor Cuica zieht es immer wieder nach Basel. Der Mann hat eine ungewöhnliche Künstlerkarriere hinter sich – und ist auch beim Bebbi-Jazz ein gern gesehener Gast.

Als er zum ersten Mal in Basels Strassen spielte, wurde er beinahe von einer eifersüchtigen Akkordeonistin verscheucht. 

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Hier ein Strassenmusiker, daheim in Venezuela ein bekannter Jazz-Saxofonist und Schauspieler: Víctor Cuica zieht es immer wieder nach Basel. Der Mann hat eine ungewöhnliche Künstlerkarriere hinter sich – und ist auch beim Bebbi-Jazz ein gern gesehener Gast.

Mit Hawaiihemd und Panamahut steht er beim Coop Pronto. Dabei gibt er den Jazz-Standard «St. Thomas» von Sonny Rollins zum Besten und improvisiert dezent, aber voller Spielfreude. Klimpert eine Münze in den Instrumentenkoffer, erklingt sogleich seine sonore Stimme: Mit einem freundlichen «chévere» – in Teilen Lateinamerikas üblich für «cool» – bedankt sich der Gentleman mit dem Tenorsaxofon.

Momentan ist Víctor Cuica wieder in Basels Fussgängerzonen anzutreffen. Was hier die wenigsten wissen: In seiner Heimat, der venezolanischen Hauptstadt Caracas, wird der 67-Jährige auf der Strasse ständig gegrüsst. Als Jazz-Saxofonist, Filmmusikkomponist und Schauspieler ist Cuica dort ein bekanntes Gesicht.

Dass er seit elf Jahren regelmässig nach Basel kommt und hier jeweils während ein paar Monaten musiziert, hat familiäre Gründe: Seine Tochter und die beiden Enkelkinder wohnen hier. Früher stattete er der Schweiz jährlich einen Besuch ab. In letzter Zeit musste er jedoch kürzertreten: Die wirtschaftliche Situation in Venezuela macht das Reisen zu einer schwierigen Angelegenheit. Zahlreiche internationale Fluggesellschaften haben sich mittlerweile aus dem kriselnden lateinamerikanischen Land zurückgezogen.

Vom Arbeiterviertel in Caracas zur New Yorker Jazz-Szene

Seinen Lebensunterhalt verdient er sich in Caracas weiterhin als Musiker: Regelmässig spielt er dort in einem Restaurant und einem Fünf-Sterne-Hotel wie auch auf Partys und Hochzeiten. Die starke Inflation machte es aber auch für ihn zu einem teuren Unterfangen, ins Ausland zu reisen. «Für den diesjährigen Besuch musste ich eines meiner Saxofone verkaufen», sagt Cuica.

Dem Venezolaner wurde das Künstlerleben keineswegs in die Wiege gelegt: Als Sohn eines Maurers und einer Fabrikarbeiterin und Wäscherin wuchs er in bescheidenen Verhältnissen auf. Erst relativ spät fand er zur Musik. Als 14-Jähriger hielt er zum ersten Mal ein Saxofon in der Hand. Karriere als Musiker machte er in jungen Jahren in den Militär- und Marinekapellen. Dort wurde er allmählich auf den Jazz aufmerksam.

In New York nahm er Unterricht bei Mario Rivera, einem bekannten Vertreter des Latin Jazz. Mit der Zeit konnte Cuica zudem mit anderen Grössen dieses Genres spielen: Tito Puente, Luis Perdomo, Paquito D’Rivera und Arturo Sandoval wurden zu seinen Bandkollegen. Auch den Vibrafonisten Lionel Hampton durfte er schon mit dem Sax begleiten.

Als Häftlinge einen Tunnel unter seinem Haus gruben

Dabei lernte er nicht nur bekannte Köpfe aus der Jazz-Szene kennen: Einmal lief ihm zufälligerweise in Caracas der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar über den Weg. «Ziemlich zerstreut irrte er zu später Stunde durch die Stadt», erinnert sich Cuica. Sogleich sprach er Cortázar an und lobte ihn für seine Erzählung «Der Verfolger». Der Grund dafür ist offensichtlich: Protagonist in diesem Text ist ein exzentrischer Saxofonist.



Einst lernte der Junge aus der Arbeiterfamilie das Musizieren im Armeespiel. Seine Wurzeln hat Víctor Cuica nie vergessen. Trotzdem kann er mit dem Erbe von Hugo Chávez wenig anfangen.

Einst lernte der Junge aus der Arbeiterfamilie das Musizieren im Armeespiel. Seine Wurzeln hat Víctor Cuica nie vergessen. Trotzdem kann er mit dem Erbe von Hugo Chávez wenig anfangen. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Eine besonders merkwürdige Szene erlebte er ebenfalls in seiner Heimatstadt: 1975 rumpelte es plötzlich in seinem Haus. Wie Maulwürfe durchbrachen plötzlich 23 Männer den Boden eines Abstellraums. Die Stadtguerilleros hatten sich vom «Cuartel San Carlos» aus – einem Gefängnis für politische Gefangene – einen unterirdischen Tunnel gegraben und landeten dabei just in Cuicas Haus. Das Ereignis, das gut in eine Gangsterkomödie passen könnte und als «Operación Jesús Márquez Finol» Geschichte schrieb, wurde Cuica zum Verhängnis: Als Komplize verdächtigt, wurde er verhaftet. Nach einem Monat kam er wieder frei.

Ein Satz, der ihn ins venezolanische Kino brachte

Kurz nach dieser filmreifen Szene des realen Lebens fand Cuica dann auch tatsächlich zum bewegten Bild. Er war damals als Chorsänger tätig. Während einer Probe kam Regisseur Alfredo Anzola vorbei. Als sich ihm Cuica mit «Ich bin ein Künstler» vorstellte, war dem Filmemacher klar, dass er den richtigen Mann vor sich hatte: Genau dieser Satz stand im Drehbuch. Zudem waren die tiefe Stimme und der Charakter des Sängers genau das, was er sich für die Hauptrolle des Films – ein Dienstbote mit Motorrad – vorgestellt hatte.

Wie so manche Filme mit Víctor Cuica zeichnet sich der Film von 1977 durch einen besonders langen Titel aus: «Se solicita muchacha de buena presencia y motorizado con moto propia». Man könnte diese Anlehnung an ein typisches Verkehrsampel-Inserat etwa so übersetzen: «Gesucht: Junge Frau mit gepflegtem Erscheinungsbild und ein Motorradfahrer mit eigenem Töff».

Es folgten weitere Filme und Telenovelas, die den Musiker in Venezuela zu Bekanntheit verhalfen. Dass er seine Arbeit ausbauen konnte, war auch seiner Ex-Frau zu verdanken. Er war während längerer Zeit mit Solveig Hoogesteijn verheiratet.

Die in Schweden geborene holländische-deutsche Filmregisseurin zog es damals nach Venezuela, wo sie die Erzählung «Das Meer der verlorenen Zeit» des kolumbianischen Nobelpreisträger Gabriel García Márquez verfilmte. Víctor Cuica schrieb dafür die Filmmusik – und lernte dadurch die Regisseurin kennen. Dank ihr konnte er auch in europäischen Streifen mitwirken: Cuica spielte 1981 in Hoogesteijns Film «Deutschland kann manchmal sehr schön sein» erneut die Hauptrolle.

Warum ihn die Handörgeli-Frau beinahe verprügelte

Die letzten Filme und die Ehe mit der Regisseurin liegen schon ein paar Jahre zurück. Nun widmet sich der Venezolaner wieder ausschliesslich der Musik. Dabei hat er längst mit der Basler Szene Kontakte geknüpft: Am diesjährigen Em Bebbi sy Jazz wird er etwa mit der Ritmo Jazz Group auf der Bühne stehen. Seit mehreren Jahren wird er dort als Flötist für Gastauftritte eingeladen.

Nicht nur deswegen hält er sich gerne in Basel auf: Die Sicherheit auf der Strasse und dass aus jedem Brunnen Trinkwasser sprudelt, sind Dinge, die er im Vergleich zur krisengeschüttelten Grossstadt Caracas besonders hervorhebt. Einer seiner Lieblingsorte ist das Gerbergässlein mit der Wandmalerei von Rock-Koryphäen.

Als er vor elf Jahren – noch vor den Regeln für Strassenmusiker – zum ersten Mal in Basel spielte, erlebte er eine Feuertaufe: Als er beim Barfi seelenruhig vor sich hin spielte, drosch plötzlich eine wutentbrannte ältere Frau mit dem Stock auf ihn ein. Es handelte sich um eine Akkordeonistin, die tagein, tagaus immer nur zwei Töne auf ihrem Instrument spielt. Dass ihr plötzlich ein richtiger Musiker die Show stahl, fand sie gar nicht lustig. Cuica nahm die Sache aber mit Humor: Seither grüsst er die Frau jeweils freundlich, wenn er ihr begegnet. Mittlerweile hat sich auch die «Scheinmusikerin» mit der Konkurrenz abgefunden.

Enttäuscht von Hugo Chávez

Was die wirtschaftliche und politische Situation in Venezuela anbelangt, sieht er schwarz: «Um die Versorgung sieht es schlecht aus – und die Regierung beschuldigt die Opposition dafür», sagt Cuica. Vom Erbe des 2013 verstorbenen Staatspräsidenten Hugo Chávez, der «Bolivarischen Revolution», ist er alles andere als begeistert. Dabei war der in einem Arbeiterviertel aufgewachsene Cuica früher dezidiert links und unterstützte anfänglich den Chavismus. Mittlerweile ist er aber ernüchtert über die Korruption und erzählt von langen Schlangen vor leeren Regalen in den Läden. Gemüse sei noch erhältlich, doch Fleisch, Reis, Milch, Zahnbürsten und Seife seien zur Mangelware geworden.

«Viele Freunde sagen mir, dass ich doch lieber in der Schweiz bleiben soll», sagt der Musiker. Dennoch sehe er seinen Platz eher in Caracas – auch wenn er Basel nach jeder Rückreise vermisse. In den Social Media äussert er sich pointiert zur politischen Situation und macht aus seiner Kritik an der Regierung von Nicolás Maduro keinen Hehl. Probleme hat ihm das bisher nie eingebracht. «Das liegt vielleicht daran, dass ich auch in der Regierung viele Fans habe», sagt er augenzwinkernd.

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Ritmo Jazz Group mit Víctor Cuica: 19. August, 22.30 Uhr, Andreasplatz, Basel.

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