Eltern können vieles sein: geliebte Bezugspersonen, indifferente Nebenfiguren, gefürchtete Sitznachbarn an alljährlichen Festtagstafeln. Präsent sind sie in der einen oder anderen Form meistens, ob bewusst oder unbewusst: Familie ist schwierig zu vermeiden. Das ist bei Ilknur Bahadir nicht anders. Die Schauspielerin und Künstlerin ist früh aus ihrem Elternhaus ausgezogen, der Kontakt ist längst abgebrochen. Das Prinzip Familie ist bei ihr dennoch allgegenwärtig.
«Mein ganzes Leben lang habe ich Familienkonstellationen beobachtet.» Bahadir sitzt in der Bar des «Grand Hotel Les Trois Rois» und rührt in einem Milchkaffee. Sie ist eine zierliche Frau mit festem Blick, das ganze Gespräch über sehr konzentriert. Schauspielerin, eindeutig. Und doch schwingt mehr als bloss professionelles Auftreten mit: Ilknur Bahadir weiss, wonach sie sucht. Bereits in der Schulzeit habe sie ihre Freunde über deren Familien ausgefragt, begierig nach ihren Geschichten: Was trug deine Mama, was habt ihr gegessen, wo seid ihr Sonntagnachmittag hin? Mit den Antworten fütterte sie ihre Fantasie, im Kinderzimmer spann sie die Geschichten weiter, in einem kleinen Notizbuch unter den Englisch-Hausaufgaben versteckt.
Es soll ein Casting geben, in dem Bahadir nach Eltern sucht. Ganz ernsthaft.
In den Geschichten ging es um sie und ihr Leben, wenn sie erst einmal aus dem lieblosen Elternhaus weg wäre: Als Tänzerin mit einem Freund, der sie nach der Premiere mit Rosen in der Garderobe überrascht, als Schauspielerin auf den grossen Bühnen der Welt. Bahadir lächelt. Sie hat kein Problem mit Exposition. Familie ist das Thema, mit dem sie sich ein Leben lang beschäftigt hat, es begleitete sie weg von den Eltern, nach Frankfurt, Berlin, nach München an die Otto Falckenberg Schule, wo sie eine Ausbildung zur Schauspielerin absolvierte. 1998 zog sie in die Schweiz mit ihrem Partner, danach wieder nach Berlin und jetzt wieder nach Basel.
Stets war das Thema da, und nun konkretisiert es sich zum Kunstprojekt. Die Ausgangslage steht mittlerweile fest: Es soll ein Casting geben, in dem Bahadir nach Eltern sucht. Ganz ernsthaft, als Kunstprojekt, aber auch als persönliche Erfahrung. Eine klare Grenze zieht Bahadir nicht. Geht ihr das nicht zu nahe? Sie schüttelt den Kopf. «Es ist die logische Fortführung dessen, was mich seit jeher beschäftigt», meint sie resolut. Man wartet auf eine mitklingende Verletzlichkeit, Betrübnis, irgendwas, das Trauma schreit, zumindest ein bisschen. Nichts davon tritt ein, die Grenzen mögen fliessend sein, ihrer eigenen Position ist sich die Künstlerin aber eindeutig bewusst.
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Ihre Biografie ist Ausgangspunkt des Projekts, nicht mehr und nicht weniger. Mit Therapie habe das nichts zu tun, es gehe ihr um die Bewerber und Bewerberinnen, sie kennenzulernen und herauszufinden, wie andere Menschen Familienverhältnisse reflektieren. Wozu sind sie bereit? Was suchen sie in dieser Verbindung? Bahadir freut sich auf die Teilnehmer, will jeden besuchen und ein Archiv anlegen, ein Familienalbum mit Tonaufnahmen, Videosequenzen und E-Mail-Ausdrucken fürs Publikum. Vielleicht caste sie in einem zweiten Schritt noch Geschwister dazu, meint sie, schliesslich habe sie diese als Kind auch immer besetzt.
Immer dem Bauchgefühl nach
Den Aufruf gestaltet sie möglichst simpel: Bahadir sucht über Inserate und eine Website eine Mutter und einen Vater, jeglichen Alters und Gesinnung. Bewerben können sich Paare, aber auch explizit Einzelpersonen, da macht Bahadir keinen Unterschied. In einem nächsten Schritt will die Künstlerin die Bewerber und Bewerberinnen besuchen und kennenlernen, bevor sie sich schliesslich für zwei entscheidet. Und worauf kommt es ihr bei dieser Entscheidung an? Bahadir lacht. «Ist ein Bauchgefühl. Die Kombination muss stimmen.» Angst vor fehlenden «Kandidaten» hat sie keine.
Diese selbstverständliche Beharrlichkeit ist ebenso Teil ihrer Vergangenheit wie das Fehlen eines liebevollen Elternhauses: Kurz nach ihrem Auszug bewarb sich Bahadir an Schauspielschulen in ganz Deutschland. Sie kassierte etliche Absagen, immer wieder musste sie neu vorsprechen. Sie war deswegen weder resigniert noch desillusioniert: Sie bewarb sich einfach weiter. «Ich wusste, dass es irgendwann klappen würde.» Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Am Ende wurde sie – ein junges Mädchen aus Bayern ohne Schauspielerfahrung – an einer der renommiertesten Schauspielschulen Deutschlands angenommen. Jetzt fehlen nur noch die passenden Eltern.