Mit 64 auf der Strasse: «Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren könnte»

27 Jahre lebte Carlo Canonica in einer Wohnung im Basler Quartier St. Johann. Dann bekam er die Kündigung. Heute ist er obdachlos. 

Carlo Canonica verlor nach fast drei Jahrzehnten seine Wohnung an der Sommergasse und lebt seither auf der Strasse.

Beinahe wäre er kollabiert. Die Nachricht traf Carlo Canonica wie eine Wucht, schnürte seine Kehle zu. Noch immer ringt der 64-Jährige um Worte, wenn er an den 19. September 2016 zurückdenkt.

21.15 Uhr war es, als der Hausbesitzer an seiner Tür klingelte. Canonica dachte, er werde über den Einbau der seit Langem versprochenen neuen Küche informiert. Stattdessen überreichte der Hausbesitzer ihm die Kündigung. Grund: Totalsanierung und Eigenbedarf.

Von diesem Augenblick an war Canonica verloren. «Ich war völlig fertig und spürte den Boden unter meinen Füssen nicht mehr», sagt er.

Fast drei Jahrzehnte lebte Canonica in einer 29 Quadratmeter grossen Einzimmerwohnung an der idyllischen Sommergasse im oberen St. Johann. Auch wenn die Wohnung in einem Mehrfamilienhaus mit 20 Parteien in einem verlotterten Zustand war: Sie gab ihm Halt, sie war 27 Jahre lang sein Ein und Alles.

«Die Miete von 695 Franken hab ich immer bezahlt. Lärm hab ich auch nicht gemacht – ich habe sogar mit den Kopfhörern Fernsehen geschaut, um niemanden zu stören.»

386 Personen müssen Schwarzen Peter als Postadresse angeben

Canonica, der seit den 1990er-Jahren an psychischer Überlastung leidet und deshalb zu 100 Prozent arbeitsunfähig ist, zog die Kündigung an alle möglichen Instanzen weiter. Letzten Sommer waren die Rechtsmittel aber ausgeschöpft, für Canonica gab es kein Entkommen mehr: Das Zivilgericht stützte die Kündigung des Hausbesitzers, für Canonicas Wohnung wurde die Zwangsräumung angeordnet.

Am 25. Juli 2017, punkt 9 Uhr, stand er mit einer Reisetasche auf der Strasse, sein Hab und Gut wurde unter Polizeischutz abtransportiert und ist seither eingeschlossen. Seit jenem Dienstagmorgen ist er obdachlos. «Um die Sommergasse mache ich heute einen grossen Bogen, die Erinnerungen daran sind zu schmerzhaft», sagt Canonica.

«Ich will mich nicht fallen lassen. Ich wusste, wenn ich in die Hosen mache, dann ist fertig und ich werde zum Penner.»

Diese Situation kennen inzwischen zahlreiche Menschen in Basel. Per 31. Dezember 2017 nutzten 386 Personen ohne festen Wohnsitz eine Meldeadresse beim Schwarzen Peter. Vor sieben Jahren waren es noch 100. Für sozial Schwache wird es in Basel immer schwieriger, eine Wohnung zu finden, wie nun auch Canonica erfahren muss. «Ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passieren könnte.»

Unterschlupf in Hotels

Die erste Nacht verbrachte Canonica im Schlafsack im Eingangsbereich eines Hochhauses («ich habe kein Auge zugetan»), die zweite in der Notschlafstelle. Insgesamt 104 Nächte schlief er draussen im Vorgarten eines Restaurants in der Nähe der Hegenheimerstrasse. «Der Restaurantbesitzer gab mir glücklicherweise zwei Kissen und drei Wolldecken, irgendwann wurde es aber eiskalt.»

Canonica, der früher unter anderem ein Antiquitätengeschäft betrieb, erzählt ohne Wut von seinem Schicksal. Er ist ein Mann, der trotz seiner Lebenssituation viel lacht – und dem es wichtig ist, Würde zu bewahren. «Ich will mich nicht fallen lassen. Ich wusste, wenn ich das erste Mal in die Hosen mache, dann ist fertig und ich werde zum Penner.»

Seit November lebe er deshalb in Hotels, mal hier, mal dort. Die Hotelzimmer zum Preis von rund 60 Franken pro Nacht finanziert er sich von seiner Invalidenrente und den Ergänzungsleistungen, die zusammen rund 2200 Franken im Monat ausmachen. «Ich zittere aber jedesmal – gerade bei FCB-Spielen in der Champions League –, ob ich ein Zimmer im Hotel erhalte.»

Kein Ende in Sicht

50 Wohnungen habe er schon angeschaut, erfolglos. «Ich bin leider alles andere als zuversichtlich, dass ich noch eine finden werde. Die wollen mich nicht – ich wirke wohl zu wenig glaubwürdig.» Wegen der langen Haare? Canonica schüttelt den Kopf. «Ich glaube nicht.» Und wenn auch. Er wolle sein Aussehen nicht verändern. «Lange Haare sind natürlich. Ich will Gott auch nicht ins Handwerk pfuschen», sagt er lachend.

Seine momentane Lebenssituation koste ihn «zu viel Kraft» und sei «seelisch enorm belastend». Zumal er auch keine Lösung sehe. Dabei habe er nur einen einzigen Wunsch: eine Wohnung zu finden, in der er wieder selber kochen könne. «Dörrbohnen mit Speck – und Käsewähe mit Endiviensalat will ich wieder mal machen.» Canonica strahlt bei dieser Aussage, verabschiedet sich und geht Richtung Elsässerstrasse. Post abholen beim Schwarzen Peter.

https://tageswoche.ch/stadtleben/leser-wollen-carlo-canonica-zu-einem-dach-ueber-dem-kopf-verhelfen/

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