Das Offensichtliche vorweg: Silvio Grimm sitzt im Rollstuhl. Grund dafür ist die angeborene Gelenksteife Arthrogryposis multiplex congenita. Der klingende Name könnte auch für eine krude Black-Metal-Band stehen. Wie der Schriftzug im Stil der Szene fein verästelt aussehen müsste – solch schwarzhumorige Gedanken kann man mit Grimm bestens wälzen.
«Als Jugendlicher hat es mich genervt, angestarrt zu werden. Irgendwann fand ich dann: So, nun erst recht. Hier bin ich, guckt nur, take your picture.» Seither rollt der heute 32-Jährige seinen Weg. Und der führt immer tiefer in die Kunst – auch wenn Grimm den Begriff Künstler als anmassendes Schimpfwort taxiert, das zugleich viel und nichts bedeutet.
Doch klebt es an ihm fast von Amtes wegen. Schliesslich wurde Grimm 2012 vom Kunstkredit der Stadt Basel für Kunst im öffentlichen Raum ausgezeichnet. Sein Projekt mit Killian Dellers hiess «Les âmes de la gare» und bespielte den Badischen Bahnhof mit Projektionen, Musik, Film und Freaks auf Stelzen.
Seit vier Jahren hat eigentlich alles, was Grimm macht, mit Kunst zu tun. Damals setzte er nach zehn Jahren einen Schlusspunkt hinter seinen Job als Polygraf. «Ein aussterbendes Metier», kommentiert Grimm trocken. Für ihn, der entsprechende Rahmenbedingungen braucht, war da kein Platz mehr. «Dank der IV-Rente kann ich nun meine Leidenschaften leben. Für einmal eine glückliche Fügung, um die andere Kreative froh wären.»
Kreativer Links-, genussvoller Rechtshänder
Zeichnen liegt Grimm schon seit der Kindheit. Den Stift hält er mit dem steifen Arm und erklärt: «Zeichnen, Malen, Schreiben ist links; Essen, Saufen, Rauchen rechts.» Zeitweise versuchte er sich auch in abstrakter Malerei. Sein Herzding sind aber Comics. Seine Werke zeigt er bei Ausstellungen oder Szenefestivals. Die meisten kennen seine Illustrationen jedoch von den Flyern und Plakaten für Rock-Konzerte im «Hirscheneck», dem «K113» oder in der «Kaschemme».
«Ich nehme mir meinen Platz. Anders geht es nicht.»
In vielen Basler Clubs trifft man Grimm auch im Ausgang an, meist direkt vor der Bühne. Steht man im Weg, fährt er einem auch mal in die Wade oder trifft beim Rollstuhl-Pogo ein Schienbein. Sein ruppig-störrisches Auftreten will er nicht allein auf den Alkohol schieben: «Ich nehme mir meinen Platz. Anders geht es nicht.»
Dabei ist Grimm weder ein besonders mürrischer Zeitgenosse, noch ist ihm das Publikum feindlich gesinnt. Im Gegenteil: «Ich hatte bisher nur positive Erfahrungen in der Musikszene.»
Im «K113», im «Les Gareçons» oder der «8Bar» haben sie für den Stammgast sogar Rampen gebaut und im «Hirscheneck» findet er immer vier Leute, die ihn für die Konzerte in den Keller tragen: «Spricht man mit den Leuten, sind sie sehr hilfsbereit.»
Zudem freut ihn, dass er im Nachtleben Basels heute mehr Menschen mit Behinderungen sieht. «Das Selbstverständnis der Behinderten hat sich dank besserer Beratung und Behandlung geändert. Früher wurden wir in teure Heimzimmer weit ab vom Schuss versorgt. Wenn man das Leben nur von Ausflügen mit zehn anderen Rollstuhlfahrern kennt, für die ein ganzes Restaurant leer geräumt werden muss, kommt man nie in der Realität an.»
Anarchische Lust und Narrenfreiheit
Dank Spitex und Assistenz wohnt Grimm seit acht Jahren allein. Da er das Assistenzbudget selbst verwaltet, kann er als Arbeitgeber entscheiden, wer ihm hilft: «Das zwingt mich, eine Abrechnung mit Jahresabschluss zu machen, dafür kann ich so auch mal Freunde für Hilfeleistungen entschädigen.»
Dass er trotzdem gerne aneckt, sich etwa als Erster im Raum eine Zigi ansteckt, ist wohl anarchische Lust gepaart mit Narrenfreiheit. Darauf muss Grimm grinsen: «Ich halte nicht viel von Political Correctness. Eventuell mache ich mir ja einen Spass daraus zu provozieren, das führte schon zu vielen skurrilen Geschichten.»
«Meine Präsenz ist politisch genug und bewirkt mehr als Gesetze.»
Abstrus sind auch die Trash-Filme von Tim Schonra. Grimm mimte schon in sieben Filmen diverse Rollen – vom Pfarrer über Elvis bis zu einem General. Mitglieder der Filmcrew spielen mit Grimm auch in der Klangklinik. In diesem «improvisierenden Wüstenorchester» begann er vor über zehn Jahren Musik zu machen, damals noch als Schlagzeuger. «Moe Tucker von Velvet Underground öffnete mir die Augen. In einem Clip zu ‹Sister Ray› spielt sie die Snare hochkant und ich dachte: So kann ich das auch.»
Die New Yorker Avantgarde-Helden prägten auch seine Auffassung, alles Kreative zu vernetzen. Die Proberäume seiner Bands sind zwar nicht so glänzend wie die legendäre Factory und statt Andy Warhol zeichnete meist Grimm das Artwork seiner Projekte. Aber genau darum geht es ihm ja: mit verschiedenen Talenten zu experimentieren und sie zu verbinden. Die Klangklinik scheint dafür ein toller Kreativpool. «Mit komischer Musik aus teils selbst gebauten Instrumenten», wie Grimm ergänzt, «irgendwo zwischen freier Improvisation und psychedelischem Krautrock.»
Neujahresvorsatz: einmal geordnet musizieren
An Vernissagen Kunstschaffender war man willkommen, «anderswo wollten sie uns in die PUK schicken». Grimm passt das Umfeld. Parallel dazu blies er in anderen Bands, etwa bei den Moonrocks, die Mundharmonika, sein erstes Instrument. Dann kamen die Drums und mit der Zeit wechselte Grimm von Snare auf Gesang und vor rund fünf Jahren fasste er mit einer Bassistin den Neujahresvorsatz, mal geordneter zu musizieren.
Daraus entstand seine heutige Band Missling. «Gespenstischer Garagen-Rock mit Einschlägen von New Wave bis Pop», nennt Grimm den Stil. Einen ersten Eindruck gibt der Video-Clip zu «Rider», den sich die Band mit dem Gewinn der RFV Demo Clinc finanzieren konnte. Etwas später als geplant erscheint nun auch das Debüt-Album von Missling. Das Artwork gestaltete natürlich Grimm selbst.
Doch so ambitioniert die Band plant, eine Tour wäre eine sehr grosse Herausforderung. Grimm: «Ich kann nicht einfach in den Bus steigen und zwei Wochen rumziehen.»
Seine Behinderung ist in den Texten aber kein Thema. Weder Musik noch Kunst ist für ihn ein persönliches oder politisches Sprachrohr. Auch Gesetze fordern passt nicht zu einem rebellischen Charakter, der unablässig versucht, möglichst viel Selbstbestimmtheit aus seinem Leben zu holen. «Meine Präsenz ist politisch genug und bewirkt mehr als Gesetze», ist Grimm überzeugt. «Sind Leute wie ich unterwegs, geben auch Fussgänger acht, sehen die Probleme und reagieren.»
Plattentaufe Missling «Murder» Freitag, 1. Dezember, 21 Uhr, Kaschemme Basel. Support: Lo Fat Orchestra, Afterparty mit DJ San Remo.