Reto Bieri: Der Klarinettist als Ameise

Reto Bieri ist ein weltbekannter Klarinettist. Derzeit probt er mit dem Sinfonieorchester Basel für ein Kinderkonzert am Freitag.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Reto Bieri ist ein weltbekannter Klarinettist. Derzeit probt er mit dem Sinfonieorchester Basel für ein Kinderkonzert.

«Die Grrrille!» ruft Reto Bieri laut zu Patricia Kopatchinskaja, die auf der Bühne des Festsaals im Stadtcasino Basel zwischen den Notenständern hin- und herschwebt. Die Geigerin antwortet mit süsslich-flirrenden Glissandi und stellt ihrerseits den Klarinettisten vor: «Die Aaameise!». Tonsprünge, explosiv wie Knallbonbons, sind die Antwort des Tier gewordenen Klangdarstellers.

Die beiden weltbekannten Musiker treffen sich dieser Tage am Rheinknie, um für das Sinfonieorchester Basel ein Kinderkonzert einzustudieren: «Grille und Ameise», eine musikalisch-inszenierte Fabelstunde, neu und zeitgenössisch komponiert von Leo Dick.

Krabbeln auf dem Bühnenboden

Es wird nur wenig gesprochen in dieser Musik. Die Partitur verrät zwar ganze Dialoge, doch der Inhalt wird fast ausschliesslich über Musik vermittelt. Die beiden Künstler, die sonst zumeist als Solisten vor einem Sinfonieorchester stehen, krabbeln hier mit ihren Instrumenten am Boden herum, um den Kindern den Streit zwischen der faulen Grille und der fleissigen Ameise in Tönen nahe zu bringen. Und sie haben sichtlich Spass dabei.

Warum brauchen Kinder Musik, fragen wir den Klarinettisten. «Warum brauchen Kinder das Atmen?», kontert er.

Es ist nicht leicht, Reto Bieri zu fassen. Von Ferne sieht man ihn als Bühnenmenschen mit grosser Ausstrahlung; einer, der die aberwitzigsten Klänge aus seiner Klarinette herauszulocken vermag. Jeder Ton sitzt, jeder Ton hat Charakter. Sein ganzes Auftreten: Kommunikation.




Reto Bieri bei den Proben. Sein ganzes Auftreten ist Kommunikation. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Volksmusik im Fünf-Viertel-Takt

Von Nahem blinzelt er durch kleine Brillengläser, wie sie einst auch Franz Schubert trug. Er ist ein ungemein freundlicher, aufgeschlossener Geselle, mit wohldurchdachten Gedankengängen und manchmal auch philosophischen Ideen. Im strengen Probeplan nimmt er sich spontan Zeit für ein Interview und spricht dabei gelassen von Reduktion, Entschleunigung. Er lebt eine Einsicht, für die manche ihr ganzes Leben lang brauchen: Dass Widersprüche zum Leben dazugehören – und man sie nicht auflösen muss, sondern durchaus kreativ nutzen kann.

Seine musikalische Herkunft zum Beispiel. «Eigentlich wollte ich Volksmusiker werden. Es hat mich fasziniert, wie unmittelbar die Menschen auf mein Spiel reagieren: Wenn ich schneller spiele, tanzen sie schneller, wenn ich langsamer spiele, langsamer», erzählt er. Später habe er mit Fünf-Viertel-Takten experimentiert – «dann ging es mit dem Tanzen nicht mehr so gut», lacht er. Er galt bald als Exot in der Volksmusikszene – weil er nicht in die vorgegebenen Schubladen passte.

Das ist etwas, was er wenig nützlich findet: Diese Kategorien, zwischen U- und E-Musik, zwischen lebenden und toten Komponisten. «Es geht doch immer um etwas, was schon da ist. Die Musik ist immer schon da, und wir setzen uns in Beziehung dazu», sagt Bieri. Wie zum Beispiel in der Volksmusik: «Viele Leute verbinden damit Tradition; ich verbinde damit Raum zum Experimentieren. Das macht die Dramatik des Lebens aus: das Gleichzeitige.»

Nähe zwischen Fernem

Zur Klarinette ist er «irgendwann nach dem Blockflötenunterricht» gekommen. Sein erster Lehrer war Jost Ribary: «Ein Papst in der Volksmusik», sagt Bieri. «Zu Beginn des Unterrichts hat er ein Stück für mich komponiert: den Härdöpfl-Schottisch. Das hat mich total fasziniert, dass man mit Musik Menschen charakterisieren und komponierend selbst kreativ werden kann.»

Deshalb studierte Bieri später Komposition, dann auch Dirigieren. Und ihm wurde klar, dass all das im Wesentlichen mit Entschlüsselung zu tun hat. Er spürt eine grosse Verantwortung, dies dem Publikum nahezubringen; deshalb übernahm er 2013 die Leitung des Davos Festivals. Dort will er Begegnungen ermöglichen, Nähe zwischen Fernem zeigen, programmatisch neue Beziehungen knüpfen.

«Eigentlich interessiere ich mich gar nicht für mein Instrument.»

Und doch bleibt bei all dem die Klarinette im Zentrum. Er spricht von seinem Instrument mit einer geradezu liebenden Faszination. Von den zwei Seelen, die in ihr wohnen, aufgrund der beiden Vorgängerinstrumente: Die Chalumeau, ein Hirteninstrument, weich und sonor im Klang; und das Clarino mit seinem hohen, scharfen, fast schrillen Ton – wie eine Kriegstrompete. «Auf der Klarinette kann ich Töne erzeugen, die keinen Anfang haben, einfach aus dem Nichts heranschweben. Und ich kann es auch knallen lassen. All das geschieht durch meinen Atem, die Verlängerung meiner Stimme», sagt Bieri.

Und dennoch: «Das darf man jetzt vielleicht nicht schreiben, aber ich interessiere mich eigentlich nicht für mein Instrument», sagt er. «Denn es ist, wie das Wort schon sagt, ein Instrumentarium. Ein Mittel, mit dem ich etwas transportieren will.»

Reto Bieri im Einsatz mit dem Kammerorchester München:

Reduktion in den Bergen

Er hat dieses Instrument nicht gesucht, sondern es ist, wie so vieles in seinem Leben, zu ihm gekommen. «Die Dinge springen mich an», so sagt er es mit eigenen Worten, die stets die Dynamik mittransportieren, die sein Leben – oder vielleicht das Leben generell – ausmacht. Vielleicht spürt das nicht jeder – Reto Bieri aber nimmt es ganz bewusst wahr. Und versucht, damit umzugehen. «Ich musste mich schon als Kind dagegen wehren, dass mich nicht zu viel anspringt», lacht er.

Heute versucht er es mit Reduktion. Lebt in den Bergen, abgeschieden, mit Frau und zwei kleinen Kindern. In einem wunderschönen alten Haus, in dem einst die Familie von Lilli Mendelssohn, der Tochter Felix Mendelssohns, lebte. Mit einem kleinen Konzertsaal, den auch Clara Schumann bespielte. Und ein Klavier von Max Reger steht heute da.

«Vom Bahnhof Wilderswil muss ich 40 Minuten den Berg hinauflaufen, bis ich zu Hause bin. Das ist anstrengend – und bringt mich nach meinen Reisen wieder auf den Boden.» Überhaupt: Die Natur dort zu erleben, die Berge, den See, die Gewitter und Stürme: «Das setzt vieles in Relation.»

Es ärgert ihn, dass dieses Bewusstsein vielen Leuten abhanden komme. «Heute sind wir überall mit Ego-Projekten konfrontiert. Man sieht es in Beziehungen, in der Musik, eigentlich überall im Leben: Der einzelne Mensch nimmt sich selbst am wichtigsten.» Um so mehr schätzt er die Natur an seinem Bergort, wo er täglich spürt, «dass es noch etwas anderes gibt als uns selbst.»

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Familienkonzert «Grille und Ameise»: Fr 14.11., 16.00 Uhr, Stadtcasino Basel, Grosser Festsaal.
Die neueste CD mit Reto Bieri, Patricia Kopatchinskaja und Markus Hinterhäuser: «Alina Ustvolskaya».

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