Im Gehen erzählt es sich am besten, Plaudern und Spazieren sind gemacht füreinander. Also nimmt mich Roman Ehrlich mit auf einen kleinen «Gang», wie er es nennt. Der Schriftsteller aus Berlin hält sich seit Anfang Jahr in Basel auf. Seine Wohnung sowie einen «monatlichen Beitrag zur Bestreitung der Lebenskosten» übernimmt die Stiftung Laurenz-Haus in Form eines Stipendiums. So kann sich Ehrlich ein Jahr lang auf seinen nächsten Roman konzentrieren.
Zum Stipendium kam er auf Empfehlung der bekannten deutschen Autorin Felicitas Hoppe, die vor fast 20 Jahren selbst auf Einladung derselben Stiftung in Basel weilte.
Hoppe ist bei Weitem nicht der einzige Ehrlich-Fan. Das deutschsprachige Feuilleton feiert seine Bücher: Die NZZ nennt ihn «grossartig klug», die taz «grandios» und der «Deutschlandfunk» hält seine Schreibe für «melancholisch und stilistisch erstaunlich souverän».
Mehrfach prämierter Autor
Ehrlich hat vergangenen Frühling seinen dritten Roman veröffentlicht und ist mit seinen 34 Jahren bereits mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet worden. Sein Debüt «Das kalte Jahr» wurde mit dem Robert-Walser-Preis prämiert und dieses Jahr erhielt er die Alfred-Döblin-Medaille der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz.
Ich will Ehrlich kennenlernen, erfahren, wie er Basel sieht, wie viel von seiner Person in seinem aktuellen Roman «Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens» steckt.
Darin geht es um ein ambitioniertes Horrorfilmprojekt. Unter Anleitung des Regisseurs beginnt eine Gruppe, sich über ihre ärgsten Ängste auszutauschen. Daraus soll ein Drehbuch entstehen, die Dreharbeit sollen zum Gruppenerlebnis werden.
Das Projekt nimmt eine unheimliche Dynamik an. Der Regisseur wird zum allmächtigen Führer, in dessen Hände die Teilnehmer allzu blind und bereitwillig ihr Schicksal legen. Der Roman wird so zum Mosaik, das sich aus Erzählungen über individuelle Ängste und deren filmische Umsetzung zusammensetzt. Ein schmerzhaft präzises Gesellschaftsporträt. Ehrlich selbst bezeichnet diesen Roman als sein «bisher autobiografischstes» Buch.
Also los.
Die Route hat sich Ehrlich ausgedacht. Ich begleite ihn, den Gast, vom Spalentor runter zum Rhein, in gemächlichem Schritt dann ins Kleinbasel, dem Ufer entlang, bis wir irgendwann im Kleinhüninger Hafen stehen.
Spaziergänge und Wissensinseln
Im Botanischen Garten führt mich Ehrlich zuerst ins Gewächshaus, die Luft ist feucht, das Klima tropisch, die Seerosen blühen. Bei einer Pflanze bleibt er stehen, streicht beiläufig mit seinen Fingern über die feinen Blätter, als würde er eine alte Bekannte begrüssen. Die Blätter falten sich scheu zusammen. «Eine Mimose», sagt er.
Mit Botanik kennt sich Ehrlich aus. Eine der vielen Wissensinseln, auf denen der Romancier bei seinen Recherchen für eine Erzählung schon gelandet ist. In neue Gebiete vorstossen, sie nach Geschichten durchforsten, abtauchen und irgendwann wieder in die Schreibstube zurückkehren – plötzlich fühle auch ich mich mittendrin. Ehrlich will alles Mögliche von mir wissen, dabei bin ich es doch, der hier ein Interview führen sollte.
Seit Januar ist Ehrlich viele Tausend Schritte durch Basel spaziert. «Mir gefällt, dass man hier ständig über eine Schwelle treten kann und sich plötzlich an einem unerwarteten Ort wiederfindet. Einem Park etwa oder einem Innenhof.» Wir stehen beim Unispital in der Grünanlage. Die versteckten Treppen hierher hat der grosse Spaziergänger selbstverständlich längst entdeckt.
Ehrlich ist in Aibach aufgewachsen, einem kleinen bayrischen Städtchen. Schon bald wurde es ihm da zu eng. Das Abitur wollte er nicht machen, stattdessen trat er eine Lehre als Radio- und Fernsehtechniker an. Und da gab es diesen Ausflug in eine Hörspielredaktion. Spätestens jetzt wollte er schreiben. Er studierte am Literaturinstitut in Leipzig, zog nach Berlin, gesellte sich zu den Künstlern und Kreativen.
Auch in Berlin ist Ehrlich viel zu Fuss unterwegs. Doch in Basel findet er fast mehr Abwechslung. Zwar urban, aber nicht nur von noch mehr Stadt umgeben. Das gefällt ihm.
«Ich kann loslaufen und befinde mich keine Stunde später in Frankreich. Die Grenzen sind hier nochmals auf eine andere Art gegenwärtig. Das interessiert mich. Grenzen sind ein derart aktuelles, auch brisantes Thema, gerade in Deutschland, und doch sind sie von Berlin aus nur eine abstrakte Linie. Hier kann ich sie physisch antreffen und überschreiten. Die Fiktion, die eine Grenze im Kern ja eigentlich ist, bekommt dadurch etwas sehr Reales.»
Wir überqueren den Rhein, eine sehr physische Grenze. Woran arbeitet er gerade, will ich von Ehrlich wissen.
Sein letzter Roman ist im Frühjahr erschienen. Beinahe gleichzeitig hat er zusammen mit einem befreundeten Fotografen den Kunstband «Das Theater des Krieges» veröffentlicht. Dafür waren sie drei Wochen in einem Bundeswehrstützpunkt in Afghanistan, haben dort den erstaunlich profanen Alltag der Soldaten dokumentiert.
Detailversessen und geschmeidig
Das Angebot für das Basler Stipendium erreichte Ehrlich also genau zum richtigen Zeitpunkt. Er hatte soeben ein grosses Projekt abgeschlossen, drei Jahre dauerten die Arbeiten an den «Fürchterlichen Tagen». Auf den Abschluss folge nur selten direkt ein Neuanfang, sagt er. Zuerst sei da erst einmal: nichts.
«Hier in Basel konnte ich mich in Ruhe der Depression hingeben, die auf solch eine Anstrengung folgt. Da ich hier kaum jemanden kenne, hatte ich keine sozialen Verpflichtungen, die mich vom Aushalten und Durchstehen dieses Tiefs abgelenkt hätten.»
Ehrlich fand schliesslich einen überraschenden Weg aus dem Loch hinaus. Er begab sich noch einmal auf die Fährten seines letzten Romans. Stellte Nachrecherchen an, tauchte erneut ein in den Stoff, aus dem die «Fürchterlichen Tage» gewoben sind. «Das ist mir noch nie zuvor passiert, dass ich diesen Drang hatte, mich noch einmal vertieft mit einem bereits abgeschlossenen Werk auseinanderzusetzen.»
Entstanden ist ein Essay, eine Art Werkstattbericht, der in seine Arbeitsweise blicken lässt. Mit akademischer Akribie geht Ehrlich der Frage nach, was es bedeutet, wenn Tote gewaltsam zurück ins Leben gebracht werden. Wenn Vergessenes erinnert oder wenn Fiktives in die Wirklichkeit geholt wird.
Dieser Essay zeigt aber auch, wie es Ehrlich gelingt, seine aufwendigen Nachforschungen in dichte und dennoch geschmeidige Prosa zu übersetzen. Der Rechercheur, der in jedem Detail Verbindungen ahnt, diese mit Theorien verknüpft, in abstrakte Gedanken driftet, der wird im Roman zum charismatischen Erzähler, der leichtfüssig dahinschlendert und mich als Leser bei der Hand nimmt.
Jetzt arbeitet Ehrlich also wieder an einem Roman. Irgendwann hatte er eben sämtliche Filme in den Basler Kinos gesehen, seine neue temporäre Heimat erwandert, seine neue Routine gefunden. «Rentnerdasein», sagt Ehrlich zu seinen durchstrukturierten Tagen.
«Ich brauche zum Schreiben eine grosse Regelmässigkeit in meinem Tagesablauf. Morgens stehe ich zeitig auf und setze mich direkt an den Schreibtisch. Den Nachmittag verbringe ich dann lesend, Filme schauend, spazierend. Der Abend und die Nacht sind die Zeit der Geselligkeit. Wenn es dunkel wird, bin ich gerne unter Menschen.»
Er sei jemand, der sehr langsam arbeite. Für die schnell schreibenden Journalisten habe er grossen Respekt. Für ihn wäre das nichts: «Ich hätte Mühe damit, dass mein Schreiben an der Realität gemessen würde. Der Umstand, dass jeder meiner Sätze eine direkte Entsprechung in der Wirklichkeit aufwiese, würde mich überfordern.» Das Buchprojekt über die Bundeswehr in Afghanistan habe ihm das wieder einmal vor Augen geführt.
Deshalb widmet er sich nun wieder dem literarischen Schreiben. Wovon der neue Roman handelt, mag er noch nicht verraten. Nur so viel: «Er wird in der Zukunft spielen.» Noch befindet sich dieses Buch in einer Vor-Entstehungsphase. Für Ehrlich eine anstrengende, aber auch inspirierende Zeit.
«Zu diesem Zeitpunkt kann dieses Buch noch alles werden. Das Potenzial scheint riesig, die Zusammenhänge unerschöpflich. Dann wiederum weiss ich, dass ich mich irgendwann hinsetzen und anfangen muss. Die allumfassende Erzählung, die ich mir die ganze Zeit über ausgemalt habe, schrumpft dann wieder zusammen auf das, was ich tatsächlich schreiben kann. Selbstzweifel und Höhenflug wechseln sich da sehr regelmässig ab.»
Wir sind im Hafen angelangt. Wir spazieren dem Hafenbecken entlang über die Bahngeleise. Es ist längst Feierabend, die Maschinen ruhen. «Ich glaube, hier dürften wir gar nicht lang gehen. In Deutschland hätte uns schon längst jemand zurückgepfiffen. Man merkt schon, dass wir hier weiter südlich sind. Mir kommen die Leute entspannter vor, fast wie in Italien.»
Ich sage ihm, er sei der erste Mensch, dem ich begegne, der die Schweizer als besonders entspannt beschreibe.
Unser Stadtspaziergang hat uns durstig gemacht. Ehrlich will im «Rostigen Anker» ein Bier trinken. Dort kämpfen auf der Terrasse die Gäste um die letzten Plätze an der Sonne. Er zieht es vor, drinnen zu sitzen. Die Bedienung nimmt es erstaunt zur Kenntnis. Besetzte Innenplätze sind in der Sommerabendkneipenroutine wohl nicht vorgesehen.
Ehrlich ist sichtlich amüsiert. «Ich mache das gerne. Wenn man sich nämlich im Sommer in eine Kneipe hineinsetzt, fühlt es sich so an, wie wenn man hinter die Kulissen blickt.»
Spaziergang in die Irre
Beim Bier sprechen wir übers Reisen. Ehrlich hat einen Teil der «Fürchterlichen Tage» in Kalifornien geschrieben. Er war für ein dreimonatiges Stipendium in Los Angeles. Die Wüste hat es ihm dort besonders angetan, sie hat deshalb auch einen Auftritt im Roman.
In den USA kommt man als Spaziergänger schnell mal an seine Grenzen. Ehrlich war zu Recherchezwecken bei einer Filmschule zu Besuch, wollte dort mehr darüber erfahren, wie Dreharbeiten ablaufen. In der Mittagspause verpflegten sich alle anderen in den umliegenden Schnellrestaurants und begaben sich schnellstmöglich zurück in den Schatten. Ehrlich aber stand der Sinn nach einer Runde um den Block. In der brütenden kalifornischen Sonne ging er los, bis er sich irgendwann auf einer Autoschnellstrasse wiederfand.
Mit rotgebranntem Kopf und halb verdurstet, gelang es ihm schliesslich, ein Taxi anzuhalten. «Der Fahrer sah mich völlig entsetzt an, als ich ihm vom Seitenstreifen aus zuwinkte. Irgendwie geschieht mir das ständig. Diese Spaziererei hat mich schon an die unmöglichsten Orte gebracht.»
Gut möglich, dass ihm das auch in Basel passiert. Vielleicht werden sich Spuren davon ja auch in seinem nächsten Roman wiederfinden.
Roman Ehrlich liest am 5. September im Literaturhaus Basel aus seinem Roman «Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens» (2017).
Ausserdem von ihm erschienen: «Das kalte Jahr» (2013), «Urwaldgäste» (2014), «Das Theater des Krieges» (2017, mit Fotos von Michael Disqué).