Vor der Saison kannten ihn bloss Experten. Jetzt ist Harry Kane der erfolgreichste Torjäger der Premier League. Am Wochenende stellte der 21-jährige Stürmer von Tottenham Hotspur mit einem Hattrick sogar Jürgen Klinsmanns Spurs-Rekord ein. Am Freitag gibt «HurriKane», der neue Hoffnungsträger auf der Insel, sein Länderspieldebüt für England.
Wenn es Harry Kane zu viel wird, schnappt er sich seine Freundin Katie und verschwindet mit ihr und seinen Hunden in der Natur. Abschalten. Der 21 Jahre alte Stürmer von Premier-League-Club Tottenham Hotspur ist in den vergangenen Monaten auf der Insel vom unbekannten Talent zum Superstar geworden.
Der Hype um seine Person lässt vermuten, er allein könne nach der WM-Enttäuschung dem englischen Fussball wieder zu besseren Zeiten verhelfen. «Ich versuche, nicht so viel darüber nachzudenken und mein Spiel zu spielen», sagt Kane. Meist gelingt ihm das erstaunlich gut.
Am Samstag krönte der Wunderknabe mit drei Toren beim 4:3 gegen Schlusslicht Leicester City eine fast unglaubliche Woche. Zwei Tage zuvor hatte Nationaltrainer Roy Hodgson Kane zum ersten Mal für die Three Lions nominiert. Mit seinem ersten Liga-Dreierpack setzte sich der Mittelstürmer dann mit 19 Treffern in 26 Partien an die Spitze der Torjägerliste – gemeinsam mit Weltstars wie Diego Costa (19) oder Sergio Agüero (17). «Es war eine Woche, die ich nie vergessen werde», sagt Kane.
Der Senkrechtstarter, dem die Medien den Spitznamen «HurriKane» verpassten, bricht in England alle Rekorde. Sogar Spurs-Legende Jürgen Klinsmann ist vor ihm nicht sicher. Gegen Leicester stellte der vielseitige Wunderstürmer mit seinen Saison-Toren 27, 28 und 29 Klinsmanns Bestmarke aus der Spielzeit 1994/95 ein. Niemand zweifelt daran, dass der 1,88 Meter grosse Profi in den verbleibenden acht Spielen einen weiteren Rekord pulverisiert. Er könnte der erste Spurs-Profi mit 30 Saison-Toren werden, seit dies Gary Lineker 1991/92 gelungen war.
«Kane hat alles, was man sich von einem Mittelstürmer wünschen kann.»
England-Coach Roy Hodgson
Auf der Tribüne der White Hart Lane verfolgte Nationalcoach Hodgson die Kane-Gala und rieb sich die Hände. Im EM-Qualifikationsspiel am Freitag im Wembleystadion gegen Litauen und im Test am 31. März in Italien sollen auch die Three Lions von Kane profitieren. Seit klar ist, dass Liverpools Daniel Sturridge verletzt ausfällt, hoffen die Fans auf seinen Einsatz in der Startelf neben Kapitän Wayne Rooney. Hodgson sagt: «Das ganze Land freut sich über Harry. Es wäre eine Überraschung, wenn ich ihn nicht nominiert hätte. Er hat alles, was man sich von einem Mittelstürmer wünschen kann.»
Grosser Glaube an sich selbst
Kane kam im Londoner Stadtteil Walthamstow zur Welt – nur rund fünf Meilen von der White Hart Lane. Seine ganze Familie besteht aus Spurs-Fans. Schon als Kind kam er mit ihnen zu den Spielen. Dass er als Achtjähriger in der Jugendakademie des verhassten FC Arsenal gekickt hat, haben die Spurs-Anhänger ihm verziehen. Nach nur einem Jahr wurde Kane damals von Arsenal aussortiert.
Im Alter von elf Jahren schaffte Kane dann den Sprung in die Jugend der Spurs. Einen roten Teppich haben sie ihm aber nie ausgerollt. Immer wieder wurde er verliehen, bis Interimstrainer Tim Sherwood ihm in der vergangenen Saison eine Chance gab. Sein Nachfolger Mauricio Pochettino ermöglichte Kane den Durchbruch. Statt den teuren Stars Emmanuel Adebayor oder Roberto Soldado führt nun das Eigengewächs die Sturmreihe der Spurs an.
«Er erinnert mich an Teddy Sheringham und Alan Shearer. Wenn er den Ball trifft, geht er rein.»
Ex-U21-Coach der Spurs, Les Ferdinand
Nach Kanes Doppelpack beim 5:3 in der Liga gegen Chelsea bezeichnete ihn die spanische «Marca» als eines der schillerndsten Talente Europas. Dass Kane es einmal so weit schaffen würde, hatte ihm niemand zugetraut – ausser er sich selbst. Kane, der genau wie David Beckham die Chingford Foundation School besucht und wie der Superstar bei den Ridgeway Rovers zum ersten Mal gegen den Ball getreten hat, zeichnet ein unerschütterliches Zutrauen in seine eigenen Fähigkeiten aus.
Eiskalt vor dem Tor
Les Ferdinand, früher U21-Coach der Spurs und heute beim Ligakonkurrent Queens Park Rangers aktiv, sagt: «Er wusste immer, was er will. Nach dem Training hat er wie besessen an seinem Abschluss gearbeitet. Kein Wunder, dass er kaum eine Chance auslässt. Er erinnert mich an Teddy Sheringham und Alan Shearer. Wenn er den Ball trifft, geht er rein.»
Kane ist vielseitig. Er kommt über Aussen, ist im Zentrum anspielbar, findet die richtigen Laufwege und hat grossen Drang zum Tor. Er trifft mit links, rechts und mit dem Kopf und verwandelt Elfmeter auch unter Druck. Zudem ist er diszipliniert und spielt dennoch mit grosser Leidenschaft. Seine grösste Stärke ist sicher seine Einstellung. «Er ist unbekümmert, und er will unbedingt Tore machen», sagt Hodgson.
Die Spurs-Fans lieben Kane, denn er zeigt sich als einer von ihnen. Im Februar hat er seinen Vertrag bis 2020 verlängert. Ihre Zuneigung zeigen die Anhänger an der White Hart Lane auf ihre Weise. Als Roberto Soldado im Sommer 2013 dort ankam, sangen sie: «Soldado, he came from sunny Spain, to play at White Hart Lane». Heute lautet der Text: «Soldado, he came from sunny Spain, to train with Harry Kane».