Tätowierte Gänsehaut

Mit 17 wandert er alleine nach Brasilien aus, weil ihn der FC Sion nicht will. Die schwierige Zeit in Rio de Janeiro öffnet dem Westschweizer die Augen. Heute sagt der Léo Lacroix: «Il faut connaître la merde pour connaître la réussite.»

Wer den Fussballer Léo Lacroix fotografieren will, muss sich vorbereiten. Der Mann legt Wert auf Äusserlichkeiten, dem sollte man Rechnung tragen. Der Mann ist gross, 197 Zentimeter Körpergrösse sind zu viel für die Fotografin, ein Stuhl muss her. Und weil die Lichtverhältnisse an diesem Tag keine einfachen sind, darf sich Lacroix irgendwann gleich selbst ins Gesicht blitzen. Kurz: Es ist ein kleines Schauspiel, das der Verteidiger des FC Basel in sich ruhend über sich ergehen lässt.

Lacroix strahlt eine ansteckende Gelassenheit aus und er versprüht die gute Laune eines erfolgreichen Mannes, der für seine 26 Lebensjahre viele schwierige Momente durchgemacht hat. «Il faut connaître la merde pour connaître la réussite», sagt er. Man muss durch die Scheisse gehen, um erfolgreich zu sein.

Von der Küchenhilfe zum Profifussballer

Lacroix spricht immer wieder in solch vorgefertigten Phrasen. Sie helfen ihm, seine Welt in die Worte der französischen Sprache zu fassen. Es ginge auch in Spanisch, Italienisch oder Portugiesisch.

Als Kind eines Schweizers und einer Brasilianerin ist Lacroix in Aigle geboren, an der Grenze zwischen den Kantonen Waadt und Wallis. Als er drei Jahre alt ist, lassen sich die Eltern scheiden. Lacroix lebt mit seiner Mutter und den zwei älteren Schwestern in Lausanne, wo er beim FC Lausanne-Sport anheuert. Mit zwölf Jahren wandert er das erste Mal aus, weil die eine Schwester in Florenz Kunst studieren will. Drei Jahre verbringt Lacroix in Italien.

Zurück in Lausanne versucht sich Lacroix an einer École hôtelière, nach zwei Jahren und ohne Abschluss ist das Experiment zu Ende – auch wenn er immer mal wieder in der Küche des Restaurants «Chez Lacroix» arbeitet, das sein Vater im Skiresort Les Diablerets führt.

Im Selbstfokus: Léo Lacroix assistiert der Fotografin gleich selbst.

Da hat Lacroix in Lausanne als Spieler des Team Vaud längst gemerkt, dass seine Zukunft auf dem Rasen liegt. Im Herbst 2008 ruft der 16-Jährige beim FC Sion an und bittet um ein Probetraining. Nach einer ersten Einheit sagen ihm die Trainer: «Komm morgen wieder. Aber es wird schwierig für dich.»

In diesem Moment stürzt das Gerüst seiner Zukunft zusammen. «J’ai baissé les bras», sagt Lacroix. «Für mich war es das Ende», resigniert gibt er alles auf. Anstatt sich auf den hiesigen Rasen durchzusetzen, will Lacroix seine Wurzeln kennenlernen und wandert als 17-Jähriger aus nach Rio de Janeiro, wo ein Teil seiner Familie lebt. Nachdem er mit der Mutter im Internet einen Fussballverein gefunden hat, ist er in der brasilianischen Stadt mit sechs Millionen Einwohnern auf sich alleine gestellt.

«Ich wollte die brasilianische Mentalität kennenlernen, diesen Wahnsinn erleben, die Staus am Morgen, ich wollte mit dem Bus an den Strand fahren, einfach wie alle anderen Brasilianer auch leben», erzählt er. Aber man müsse schlau sein und aufmerksam. Denn am Abend in den Strassen sei es nicht so ruhig wie in der Schweiz. Wenn die Leute seinen europäischen Akzent erkannten, hatten sie ein Auge auf ihn.

«Wenn du einen Weg hast und ein Ziel verfolgst, gibt es viele, die dir Knüppel zwischen die Beine werfen.»

Halt geben ihm in Rio die evangelische Kirche und die Kameraden des Fussballvereins. Diesem beschert er Aufmerksamkeit, weil plötzlich ein Europäer im Kader steht. Sich in Brasilien als Fussballer durchzusetzen, wäre nicht einfach gewesen. «Da gibt es an jeder Strassenecke gute Kicker», sagt Lacroix.

Er realisiert die Schwierigkeit seines Unterfangens, als ihm die Brasilianer die Augen öffnen: «Du bist verrückt», hätten sie ihm gesagt, «wir wollen alle nach Europa. Und du, mit deinem europäischen Pass, kommst zu uns? Was willst du in Rio?» Hier, wo die Spieler in Favelas wohnen und Lacroix sieht, wie viel Aufwand und Arbeit diese jungen Männer in ihren Traum stecken, wie früh sie Tag für Tag dafür aufstehen, obwohl die Chance auf das finanzielle Glück in Europa klein ist.

Knapp zehn Jahre später steht Lacroix auf dem Rasen des St.-Jakob-Parks und spielt in der Champions League gegen Manchester City. Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung mit dem Debüt in der herausgeputzten Liga, diesem europäischen Unterhaltungsprodukt, das längst die ganze Welt erreicht hat. «J’ai des frissons», sagt Lacroix, wenn er über seinen Aufstieg nachdenkt und gleichzeitig seine Zeit in Brasilien im Kopf hat. Gänsehaut auf einem 197 Zentimeter langen Körper.

Nach zehn Spielen in der Europa League mit dem FC Sion betritt Léo Lacroix mit dem FC Basel erstmals die grösste internationale Bühne: In der Champions League spielte er zweimal gegen Manchester City.

Dieser Anflug von Pathos gehört zu Lacroix, was sich auch auf seiner Haut manifestiert. In portugiesischer Sprache ist auf seinem Arm in etwa folgender Text eines Liedes tätowiert: «Ein Krieger scheut keinen Kampf. Und niemand kann einen Menschen stoppen, der für den Sieg gemacht ist.» Lacroix glaubt, dass jeder Mensch den Krieger in sich wecken kann, um Hindernisse zu überwinden. Auf dem Fussballplatz muss Lacroix härter arbeiten als andere, weil er weiss: «Je ne suis pas un talent pur.»

Nach einem halben Jahr in Brasilien redet die Mutter dem Sohn ins Gewissen. Sie will, dass er zurückkommt in die Schweiz, weil sie glaubt, dass er nicht alles versucht hat. Auch wenn er bleiben will, erkennt Lacroix, dass er in Brasilien erledigt hat, was er zu erledigen hatte. Und vielleicht spürt er da schon, dass ihn 2013 ein Schicksalsschlag einholen wird. Er verliert seine Mutter, die an Krebs stirbt.

«Wir telefonieren viel. Aber ich spüre, dass mir die Präsenz meiner Frau fehlt.»

«Mein Weg war vorgezeichnet», sagt Lacroix. Er nimmt einen zweiten Anlauf beim FC Sion. Und diesmal klappt es: Lacroix beginnt bei den Junioren und debütiert als 18-Jähriger mit der ersten Mannschaft.

Lacroix lernt die verrückte, von Präsident Christian Constantin geführte Welt des FC Sion kennen. «Ich erinnere mich an ein Jahr, da hatte ich fünf verschiedene Trainer», sagt Lacroix. Er selbst kommt auf dem Platz nicht auf viel mehr Konstanz: 96 Spiele absolviert er, 62 verpasst er wegen Verletzungen. 

Das Kreuzband reisst, nach der Heilung infiziert sich das Knie, das er zweimal operieren muss, danach hat er Probleme mit dem Meniskus, später Schmerzen am Schambein und schliesslich bricht er sich vor zwei Jahren in einem Spiel gegen den FC Basel bei einem Zweikampf mit Marc Janko den Knöchel.

«Jedes Metier hat seine Risiken. Unseres sind die Verletzungen. Und Verletzungen wie die meinen kannst du nicht mit Prävention vorbeugen», sagt Lacroix.

Léo Lacroix im Dress des FC Sion (hier gegen Marco Streller, inzwischen Sportchef beim FCB): 2015 gewinnt der Westschweizer im Cup seinen ersten und bisher einzigen Pokal als Berufsfussballer.

Der Innenverteidiger weiss, dass er nicht alles beeinflussen kann. Deswegen vertraut er in seinem Leben auf eine höhere Macht: «Ich glaube an Gott, mag es, in der Bibel zu lesen und evangelische Kirchenmusik zu hören.»

Aber der Glaube hat Grenzen. Es ist nicht so wie bei Johan Vonlanthen, dem früheren Schweizer Nationalspieler, der wegen seiner Kirche am Sonntag nicht Fussball spielen durfte. Oder wie beim ehemaligen FCB-Flügel Jean-Paul Boëtius, der dem holländischen Nationaltrainer Louis van Gaal wegen eines Kirchenanlasses einen Korb gab, als dieser ihn zum ersten Mal anrief.

Lacroix weiss, wie wichtig für ihn Verpflichtungen bei der Arbeit sind: «Gott bestraft mich nicht, wenn ich am Sonntag Fussball spiele.» Lacroix lebt ein protestantisches Arbeitsethos, das sein Vater ihm vorlebt: «Er sagt immer, bei der Arbeit geht es um die Arbeit. Danach kannst du machen, was du willst.» 

In Basel vergnügt er sich mit einer Gruppe von Spielern des FC Basel, an den er für die Rückrunde 2017/18 vom französischen Erstligisten AS Saint-Etienne ausgeliehen ist. Die Frankophonen Kevin Bua, Neftali Manzambi, Signori Antonio und Mirko Salvi sind Lacroix’ engste Bezugspersonen.

Nach spielentscheidenden Fehlern ist Lacroix beim FCB angekommen

Salvi hat ihm eine Wohnung vermittelt, mit seinen Sprachgenossen trifft er sich neben dem Platz, geht essen, auch weil seine Frau und die beiden Kinder noch immer im Wallis wohnen. «Wir telefonieren viel. Aber ich spüre, dass mir die Präsenz meiner Frau fehlt», sagt Lacroix, «wir müssen dieses Opfer noch ein paar Monate bringen.»

Lacroix weiss um seine ungewisse Zukunft. Seine Wohnung in Saint-Etienne hat er noch nicht aufgegeben, auch wenn der FC Basel eine Kaufoption besitzt und der Abwehrspieler gerne bleiben würde. Seit Wochen soll angeblich der FC Everton aus England Interesse an Lacroix haben. «Die Premier League ist eine attraktive Liga, in der ich gerne einmal spielen würde. Und wenn es Angebote gibt, warum nicht. Aber ich will keine Leidenschaft für etwas entfachen, das nicht ist.»

Im Dress des FCB hat Lacroix nicht immer Werbung für sich gemacht. Vor allem zu Beginn fiel er mit spielentscheidenden Fehlern auf. Inzwischen ist er angekommen im Konstrukt von Trainer Raphael Wicky.

«Um die Sterne zu berühren, musst du den Mond anvisieren.» Das ist er wieder, dieser Pathos.

Lacroix sagt: «Die Menschen wollen, dass es dir gut geht. Aber sie wollen nicht, dass du glücklicher bist als sie. Wenn du einen Weg hast und ein Ziel verfolgst, gibt es viele, die dir Knüppel zwischen die Beine werfen. Sie wollen dich bremsen. Ich habe viele solche Leute getroffen. Das ist die Gesellschaft von heute.»

Auf Lacroix wartet Konkurrenz

Aktuell ist Lacroix, der sechs Mal für die Nationalmannschaft aufgeboten war, nie zum Einsatz kam und nur geringe Chancen auf einen WM-Einsatz hat, einer der Glücklichen in der Basler Innenverteidigung. Aber demnächst kommt Eder Balanta von einer Verletzung zurück und vom FC Sion könnte im Sommer der ausgeliehene Innenverteidiger Eray Cümart zurückkehren. 

Sollte Lacroix also beim FC Basel bleiben, muss er sich gegen diese Konkurrenz durchsetzen. Und er muss mit dem Verein einen Weg finden, wie man nach einer titellosen Saison wieder aufsteht; nach diesem «Übergangsjahr», wie es Lacroix nennt, diesem «schwierigen Moment für den Club, die Spieler, die Stadt».

Der Meistertitel und die erneute Qualifikation für die Champions League sind in weite Ferne gerückt. Basel muss möglicherweise für eine Weile kleinere Brötchen backen. Oder wie Lacroix sagt: «Um die Sterne zu berühren, musst du den Mond anvisieren.»

Da ist es wieder, dieses Pathos. Es passt zur heroisierten Fussballwelt. Und es passt zu Léo Lacroix und seinem Werdegang.

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