«Tod dem Nationalismus!»

Die Privatisierung von Staatsbetrieben kostet in Bosnien-Herzegowina viele Menschen den Job. Im Februar 2014 hatten sie genug und gingen auf die Strasse. Dass die Proteste in der Stadt Tuzla ihren Anfang nahmen sei kein Zufall, sagt der Aktivist und Journalist Elvis Kušljugić.

«Zum ersten Mal wurde über Themen gesprochen, die vorher nicht zur Sprache kamen», sagt Elvis Kušljugić.

(Bild: Krsto Lazarević)

Die Privatisierung von Staatsbetrieben kostet in Bosnien-Herzegowina viele Menschen den Job. Im Februar 2014 hatten sie genug und gingen auf die Strasse. Dass die Proteste in der Stadt Tuzla ihren Anfang nahmen, sei kein Zufall, sagt der Aktivist und Journalist Elvis Kušljugić.

Korruption, politischer Stillstand seit Dayton und das Fehlen von Perspektiven lassen den Zorn in Bosnien-Herzegowina wachsen. Als nach der Privatisierung eines Staatsunternehmens in Tuzla etwa 1000 Menschen arbeitslos wurden, lief das Fass am 5. Februar 2014 über. In mehreren Städten wurden Regierungsgebäude und Parteizentralen angegriffen und in Brand gesteckt. Kantonsregierungen mussten zurücktreten. Nach den Protesten bildeten sich Bürgerforen im ganzen Land. Der 37-jährige Journalist Elvis Kušljugić war von Anfang an dabei.

Herr Kušljugić, wie begannen die Proteste im Februar 2014?

Die Menschen, die ihren Job verloren, haben ihre Gehälter und sozialen Rechte eingefordert. Der 5. Februar 2014 war ein Mittwoch. Auch heute noch gehen die Arbeiter, deren Unternehmen bei der Privatisierung in den Ruin getrieben wurden, jeden Mittwoch auf die Strasse.

Arbeiter der Chemiefabrik Dita haben bis zu vier Jahre lang gearbeitet, ohne bezahlt zu werden. Warum haben sie nicht einfach aufgehört?

Manche haben ja aufgehört zu arbeiten. Viele andere hatten aber gar keine Wahl: Sie kannten keine Alternative und sahen keine Chance, einen neuen Job zu finden. Sie sind im Sozialismus aufgewachsen, als die Gewerkschaften und die Arbeiterbewegung stark waren.

Die Lebensumstände sind ja bereits sehr lange schlecht. Warum kam es ausgerechnet im Februar 2014 zur Eskalation?

Es war ein warmer Winter, und diese Dinge passieren meistens im Frühling. Die Regierung hat den Fehler gemacht, die Proteste zu ignorieren, und sich geweigert, mit den Arbeitern zu sprechen. Die Staatsgewalt reagierte sofort mit Gewalt auf die Proteste. Der 5. Februar lief bereits gewalttätig ab, doch die grosse Eskalation begann am 6. Februar. An dem Tag fand ein Fussballspiel statt und eine grosse Gruppe von Ultras, von gewaltbereiten Fans des Vereins Sloboda Tuzla, hat sich den Protesten angeschlossen. Da ging es richtig los. 

Hatten die einfach Lust auf Eskalation oder auch politische Ziele?

Manche hatten einfach Lust, sich mit der Polizei zu prügeln. Die Fans von Sloboda Tuzla und die Demonstranten kannten sich aber auch. Es gibt da personelle Überschneidungen. Als sie die Proteste gestürmt haben, stellten die Ultras viele Forderungen, die mit den Arbeitern und ihren Rechten wenig zu tun hatten. Dadurch wurde zum ersten Mal über Themen gesprochen, die vorher nicht zur Sprache kamen.

«Zu keinem Zeitpunkt hat die nationale Zugehörigkeit bei den Protesten eine Rolle gespielt.»

Welche Themen waren das?

Es wurde zum Beispiel die Auflösung der beiden Entitäten und der Kantone gefordert. Das führte zu Protesten im ganzen Land. Am 7. Februar waren schon 10’000 Menschen auf der Strasse. Das waren die grössten Proteste in der Geschichte des unabhängigen Bosnien-Herzegowina. Im Anschluss kam es zu politischer Verfolgung von Aktivisten. Das ist eine ganz dunkle Geschichte. Aldin Širanović, ein Studentenführer, musste flüchten und hat in Österreich politisches Asyl erhalten. 

Warum begannen die Proteste ausgerechnet in Tuzla?

Weil Tuzla am stärksten unter der Transition, dem Übergang in die freie Marktwirtschaft, zu leiden hat. Der Kanton Tuzla ist derjenige mit der höchsten Arbeitslosenquote. Die gesamte Schwerindustrie und alle grossen Unternehmen wurden durch die Privatisierungen zerstört. Ausserdem haben in Tuzla niemals die nationalistischen Parteien regiert. Hier kann man einen solchen Diskurs beginnen, ohne dass er in einen nationalistischen Kontext gestellt wird.

Waren das multiethnische Proteste?

Ja, keine Frage! Zu keinem Zeitpunkt hat die nationale Zugehörigkeit eine Rolle gespielt. Die einzigen Graffiti, die zu Beginn der Proteste an den Wänden standen, waren: «Tod dem Nationalismus» und «Tod den Nationalisten».

Ist Tuzla eine antinationalistische Bastion in Bosnien-Herzegowina?

Ja. Das hat viel mit der Tradition im Zweiten Weltkrieg und im ehemaligen Jugoslawien zu tun. Selbst im Bosnienkrieg hat der Nationalismus in der Stadt keine grosse Rolle gespielt.

Ich frage, weil die Proteste scheinbar nicht auf die Republik Srpska übergeschwappt sind.

Es gab auch Menschen, die in der Republik Srpska auf die Strasse gegangen sind. Das wurde aber medial weniger aufbereitet. Die Veteranen in Banja Luka haben erklärt: «Als wir einander erschossen haben, haben sich andere bereichert.» Ich halte diese Erkenntnis für einen grossen Fortschritt.

«Die Jungen wollen von Politik nichts hören. Sie sind apathisch und desinteressiert.» 

Wie wichtig waren die Bürgerforen, die sogenannten Plena, die aus der Protestbewegung hervorgegangen sind?

Sie haben gezeigt, dass Menschen sich mobilisieren lassen. Es haben sich aber auch die Schwächen dieser Organisationsform gezeigt. Sie kann schlichtweg nicht lange existieren. Entweder man institutionalisiert die Plena oder sie brechen auseinander. Bei uns sind sie auseinandergebrochen.

Der Altersdurchschnitt war in vielen Plena relativ hoch. Haben die Jungen die Hoffnung verloren?

Sie haben keine Hoffnung und kein Vertrauen. Von Politik wollen sie nichts hören. Auch von echter und lebendiger Politik, wie wir sie hier gesehen haben, wollen sie nichts wissen. Sie sind apathisch und desinteressiert. Das ist auch eine Erbe der Nachkriegszeit und all dessen, was passiert ist.

Was ist vom Protest geblieben?

Für viele Menschen waren die Proteste ein Experiment. Was kann man erreichen und was nicht? Das erste Mal, seit wir ein Mehrparteiensystem haben, mussten Kantonsregierungen dem Druck der Strasse weichen. Das ist ein grosser Erfolg. Viele haben gehofft, dass sich über Nacht noch mehr ändern wird, doch ich habe die Proteste immer als ersten Schritt verstanden.

Was wird der zweite Schritt sein?

Das ist schwer zu sagen, aber es wird mit Sicherheit wieder auf der Strasse beginnen. Von innen heraus lässt sich das politische System in Bosnien-Herzegowina nicht ändern.

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