Vom Professor zum Präsidenten

Mit Alexander Turtschinow wurde ein Vertrauter von Julia Timoschenko zum Übergangspräsidenten ernannt. Ein Porträt über den neuen starken Mann in der Ukraine.

Einst ein enger Vertrauter von Timoschenko: Der neugewählte Übergangspräsident der Ukraine Alexander Turtschinow (Bild: Reuters)

Mit Alexander Turtschinow wurde ein Vertrauter von Julia Timoschenko zum Übergangspräsidenten ernannt. Ein Porträt über den neuen starken Mann in der Ukraine.

Der Stilwechsel konnte krasser nicht sein: Der glatzköpfige Alexander Turtschinow, mit einem Pflaster auf der Backe, in offener schwarzer Lederjacke, nahm am Samstag seinen Platz im Präsidium des ukrainischen Parlaments ein. Gerade hatte ihn die schon von der Opposition kontrollierte Rada zum Parlamentspräsidenten gewählt.

Am Tag zuvor hatte hier noch der 67-jährige Wladimir Rybak gesessen, ein gesichtsloser Politfunktionär, der so auch in den 1970er-Jahren im Obersten Sowjet der Sowjetunion hätte sitzen können. Einen Tag später hat der 49-jährige Turtschinow schon das nächste Amt: Das Parlament ernennt ihn zum Übergangspräsidenten.

Die rechte Hand von Timoschenko

Doch der krasse Stilwechsel zum proletarisch auftretenden, anzugslosen Turtschinow bedeutet gleichzeitig alles andere als eine Erneuerung. Turtschinow ist die rechte Hand der am Samstag aus der Haft befreiten Julia Timoschenko – und er gehört zur ganz alten Riege der ukrainischen Politik.

Wie Timoschenko stammt er aus der ostukrainischen Industriestadt Dnepropetrowsk, deren Vertreter seit mehreren Jahrzehnten eine führende Rolle in der ukrainischen Politik spielen. Der langjährige Präsident Leonid Kutschma gehörte zur zweiten Generation, Turtschinow und Timoschenko zur dritten Generation des «Dnepropetrowsker Klans», wie ihn ukrainische Medien bezeichnen.

Seine ersten politischen Erfahrungen machte Turtschinow im Komsomol und in der «Demokratischen Plattform», die sich innerhalb der Kommunistischen Partei gebildet hatte. Anfang der 1990er-Jahre arbeitete der Ökonom als Wirtschaftsberater von Präsident Kutschma und war führend an der Bildung einer neuen Partei beteiligt, über die er schliesslich 1998 zusammen mit Timoschenko ins Parlament gewählt wird. Seit 1999 ist Turtschinow Stellvertreter Timoschenkos in der aus der Partei hervorgegangenen «Batkiwschina».

Turtschinow, der ehemalige Geheimdienstdirektor

Während der Orangen Revolution war er für den Wahlkampf des späteren Präsidenten Wiktor Juschtschenko in den östlichen Regionen zuständig. Die Orange Revolution bestimmt auch das Verhältnis zwischen ihm und Timoschenko neu: Bis 2004 galten die beiden als politisches Duo, bei dem nicht klar war, wer die wichtigere Rolle spielt. Nach der Orangen Revolution jedoch setzt sich die charismatische Timoschenko als Nummer 1 durch – doch Turtschinow bleibt ihr treu ergeben.

Nach der erfolgreichen Revolution erreicht seine Karriere ihren Höhepunkt: Turtschinow wird Direktor des ukrainischen Geheimdienstes SBU – allerdings nur für ein gutes halbes Jahr, weil Premierministerin Timoschenko im Konkurrenzkampf mit Juschtschenko den Kürzeren zieht und schließlich zurücktritt.

Nach den nächsten Parlamentswahlen ist Timoschenko bis 2010 wieder Premierministerin und Turtschinow ihr Stellvertreter. 2008 scheiterte Turtschinow beim Versuch, Bürgermeister von Kiew zu werden. Er landete hinter dem Kandidaten der «Partei der Regionen» auf Platz 2, bekam jedoch mehr Stimmen als Vitali Klitschko.

Der arme Reiche unter den Reichen

Zwar bezeichnet sich Turtschinow selbst als reich, hat aber bis auf einige kleinere Firmen und ein von ihm gegründetes Wirtschaftsinstitut keine größeren Aktiva – im Unterschied zu vielen anderen Abgeordneten. Dies mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass der Oligarch Poroschenko seine Kandidatur für das Amt des Parlamentspräsidenten am Samstag zurückzog und den Weg für Turtschinow freimachte.

Zudem gilt Turtschinow als eher ruhiger Typ. An den Prügeleien zwischen Abgeordneten von Opposition und der jeweiligen Regierung, die über die letzten zwei Jahrzehnte zu den Markenzeichen der «Rada» wurden, nahm er nie teil. In einer ersten Erklärung am Samstag rief er die Regierungsgegner dazu auf, keine Selbstjustiz zu üben. Insbesondere für die Abgeordneten der «Partei der Regionen», die im Chaos des Umbruchs seit Samstag um ihre Sicherheit fürchten müssen, war das ein wichtige Erklärung.

Traum vom Pastor

Eine Besonderheit Turtschinows ist sein Glaube. Im Gespräch mit ukrainischen Medien erklärte er einst, er träume davon, Pastor in einer kleinen Kirche zu werden. Turtschinow ist, anders als die mehrheitlich christlich-orthodoxen Ukrainer, Angehöriger einer Baptistengemeinde. Neben seiner politischen Tätigkeit ist Turtschinow Professor für Ökonomie und befasst sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten insbesondere mit den Problemen der Schattenwirtschaft.

Das Pflaster in seinem Gesicht stammt übrigens von einer Verwundung, die er sich am Mittwoch bei einer Rede auf der Bühne des Maidan zuzog. Die Polizeikräfte hatten den Platz schon zur Hälfte besetzt und lieferten sich stundenlange Gefechte mit den Regierungsgegnern. Erste Meldungen behaupteten, Turtschinow sei von einem Scharfschützen getroffen worden, später gab er jedoch Entwarnung. Es sei nur ein Glassplitter gewesen.

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