«Wir sind heute alle viel entwurzelter als früher»

Mit 12 Jahren verliess Sandra Bradvić Bosnien-Herzegowina und kam mit ihrer Familie in die Schweiz. Heute arbeitet sie an einer Doktorarbeit über ihre alte Heimat und ist dafür an den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt.

Sandra Bradvic steht auf dem Grundstück, wo bis vor Kurzem noch die alte Stadtbibliothek stand.

(Bild: Mario Ilic)

Mit 12 Jahren verliess Sandra Bradvić Bosnien-Herzegowina und kam mit ihrer Familie in die Schweiz. Heute arbeitet sie an einer Doktorarbeit über ihre alte Heimat und ist dafür an den Ort ihrer Kindheit zurückgekehrt.

Über Tuzla, eine Industriestadt im Nordosten von Bosnien-Herzegowina, liegt an diesem Nachmittag im Dezember Nebel. Die Betonfassade des Hochhauses mit seinen 28 Stockwerken verschwimmt. Grau in grau.

Sandra Bradvić richtet die Kamera wieder auf sich, blickt fragend in die Linse. «Hast du den neoliberalistischen Koloss gesehen?» Sie wartet nicht auf die Antwort: «Alle Fenster aus unschönem PVC.» Sie erzählt von der Vergangenheit.

Früher stand hier im dichtesten Zentrum von Tuzla ein Hotel aus den 1960er-Jahren, es wurde abgerissen, um dem überproportionierten Wohn- und Geschäftshaus zu weichen. Das Postgebäude von 1901 aus der Habsburgerzeit, das ab den späten 1960er-Jahren bis kurz vor dem Bürgerkrieg als Stadtbibliothek genutzt wurde, fiel ebenfalls der Abrissbirne zum Opfer. Ebenso wie ein Fabrikgebäude aus dem Industriezeitalter, das modernistische Gemeindehaus und ein Kino aus der Nachkriegszeit.

«Man könnte fast weinen», sagt die 37-Jährige. Das historische Zentrum der Stadt sehe dafür Monat für Monat leerer und verlassener aus. Sie redet schnell, verliert sich in Sätzen, nimmt den Faden plötzlich wieder auf und beendet ihre Ausführungen dann doch am gleichen Ort. In Tuzla. In Bosnien-Herzegowina. «Es ist der Ausverkauf des kulturellen Erbes an inländische und ausländische Investoren, die leider nicht viel mehr als megalomanische Shoppingzentren im Repertoire haben.»

Die Skype-Verbindung unterbricht kurz, ihre grossen, schlanken Hände frieren plötzlich ein. Als Kind, mit 12 Jahren, kam Bradvić in die Schweiz. Sie erinnert sich noch gut an die nächtliche Zugfahrt von Zagreb nach Zürich, welche ihre Eltern bereits Anfang der 1970er-Jahre unternommen hatten. Sie arbeiteten damals als Saisonniers im Hotel Weisses Rössli in Göschenen. Die Mutter kam Ende der 1980er-Jahre wieder, vermeintlich um nur für ein paar Jahre zu bleiben. Sie fand eine Anstellung in ihrem Beruf als Krankenschwester und blieb. Der Krieg in Bosnien stand vor der Tür.

Es war der 1. August im Jahr 1991. «Ich kam pünktlich zur 700-Jahrfeier in Brunnen an», sagt Bradvić. Als Kind empfand sie es als einen «gebührenden Empfang»: Folklore, Feuerwerk, Feststimmung. Ihre Heimat brach damals auseinander, die Schweiz feierte sich selbst. Die Ironie dieses Momentes wurde ihr erst später bewusst, sagt sie heute, in Tuzla sitzend, über 1000 Kilometer von der Schweiz entfernt.

Deutschkenntnisse helfen beim Start in der Schweiz

Sie war nie in einem Durchgangszentrum, sie hatte nie den Flüchtlingsstatus, von Anfang an erhielt sie ein B-Visum. «Wenn ich das Foto meiner Eltern in Schweizer Trachten vor dem Weissen Rössli in Göschenen ansehe, löst das Heimatgefühle in mir aus, genauso wie der Blick vom Hafen in Brunnen auf den Schillerstein am Vierwaldstättersee», sagt Bradvić. Heute fühlt sie sich in Zürich und Tuzla im gleichen Masse zu Hause.

Der Start in der Schweiz fiel ihr nicht schwer. In Bosnien hatte sie in der Schule bereits Deutsch gelernt, die sprachliche Barriere war nicht gross. «In der ersten Sek haben mir die Klassenkameraden bei Grammatikaufgaben sogar abgeschrieben», erinnert sie sich. Später studierte sie an der Universität Zürich. Über 20 Jahre lang lebte sie als «Superschweizerin», wie sich die Allgemeinheit das vorstellt: sprachlich unauffällig, in Zürich sozialisiert und ehrgeizig. Sie ging meist nur für Ostern nach Bosnien zurück.

Erst vor ein paar Jahren setzte sie sich aus beruflichen Gründen stärker mit Bosnien-Herzegowina auseinander. Die studierte Germanistin und Kunsthistorikerin organisiert seit 2010 Ausstellungen in Bosnien und der Schweiz. Dann folgte die Wissenschaft. Seit 2014 schreibt sie eine Doktorarbeit über die kuratorische Praxis in Bosnien-Herzegowina und organisiert den Zvono Award.

Seit April wieder in Tuzla für die Dissertation

Seit April dieses Jahres lebt sie in Tuzla und Sarajevo. «Die Dissertation schreibe ich auf Deutsch», sagt sie. Sie habe «ihre eigene Sprache» in der schriftlichen Form verloren. «Auch offiziell gibt es ja das Serbokroatische nicht mehr.» Das Gefühl von kultureller Zugehörigkeit findet sie dennoch in der Sprache wieder. In Werken von Max Frisch oder Meša Selimović.

«Die Medien und Politiker in Bosnien zwingen einem eine Nationalität auf.» Das wirke sich auch auf die Gesellschaft aus, die kulturelle Vielfalt werde vernachlässigt und ein künstlicher Nationalismus aufgebaut. In Bosnien gelte sie als Kroatin, weil sie katholisch ist. In der Schweiz sehe man in ihr die perfekt integrierte Bosnierin.

Sie hat Mühe mit diesen Labels, diesen Schubladen. «Wir sind alle individuelle Persönlichkeiten», sagt sie. Nationalität und Religion empfindet sie weitgehend als Konstrukte, die aus der jeweils unterschiedlichen Perspektive unterschiedlicher Machtzentren anders dargestellt und interpretiert werden im Sinne eigener politischer Interessen.

So würden Auswanderer aus dem Westen als Expats bezeichnet, die aus dem Süden als Migranten, auch jene mit hoher Ausbildung. Doch die Erfahrungen seien letztlich vergleichbar. Es sei die Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, der nicht nur Flüchtlinge ausgesetzt seien, sondern alle, die Teile ihres Lebens an unterschiedlichen Orten verbracht haben. «Wir sind heute alle viel entwurzelter als früher.» Mit intensiven Handbewegungen untermalt sie ihre Worte und verstummt dann.

Sandra Bradvić ist an den Ort ihrer Kindheit, Tuzla, zurückgereist. In der Zwischenzeit hat sich die Stadt verändert. Vor ihrem Fenster ragt heute das 28 Stockwerke hohe Gebäude in den grauen Himmel. Sie starrt am Bildschirm vorbei. Den Ort aus ihrer Kindheit gibt es nicht mehr.

Für Bradvić ist es entscheidend, sich der Komplexität der eigenen Identität zu stellen und diese Komplexität in sich selbst zu vereinen. Das ist auch ihr Wunsch für die Zukunft des Landes: «Zum Glück gibt es eine jüngere Generation in Bosnien-Herzegowina, welche die Kraft, den Mut und die Fähigkeit hat, zu erkennen, welcher Reichtum in der kulturellen Vielfalt liegt.»

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Das Porträt entstand im Rahmen unseres Schwerpunktes zum 20. Jubiläum des Friedensvertrages von Dayton, der den Bosnienkrieg beendet. Die gesamte Serie in der Übersicht.

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