17 Jugendliche, ein Camp und der Versuch von Demokratie

Was passiert, wenn sich 17 Jugendliche in ein einsames Camp zurückziehen, um fernab der Erwachsenenwelt demokratisch zu leben? Das Junge Theater Basel zeigt mit Tim Staffels «Camp Cäsar» die drastischen Auswirkungen dieses Versuchsprojektes.

Diese Probe fühlte sich eher wie eine Party an: Pakuna Donoma Ehawee, Maru Rudin, Julius Schröder, Olivia Ronzani und Mayra Jenzer. (Bild: Junges Theater Basel)

Was passiert, wenn sich 17 Jugendliche in ein einsames Camp zurückziehen, um fernab der Erwachsenenwelt demokratisch zu leben? Das Junge Theater Basel zeigt mit Tim Staffels «Camp Cäsar» die drastischen Auswirkungen dieses Versuchsprojektes.

Augusta Raurica, Ende August 2014. Es ist ein heisser Tag, einer der wenigen in diesem Sommer. Entspannte Sonntagsstimmung liegt in der Luft. Nur nicht im Römertheater. Unter sengender Sonne wird hitzig debattiert. Siebzehn junge Menschen schreien einander an, pöbeln, schubsen, rollen sich von den hohen Steinbänken hinunter, kriechen im Dreck.  

«Du hast blaue Augen! Los, putz die Scheisse hier weg!»
«Hör auf, das war nicht der Plan!»
«Wer gibt dir das Recht, mich zu kritisieren?»
«Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht!»
«Du hast keine Rechte! Du hast blaue Augen; das ist das einzige, was zählt! Du räumst die Scheisse hier weg, weil du blaue Augen hast!»

Massgeschneidert für den Ort

«Camp Cäsar» heisst die neue Produktion des Jungen Theater Basel, die hier geprobt wird. Tim Staffel hat das Stück geschrieben, ein Auftragswerk des Jungen Theater Basel, finanziert und initiiert durch die Abteilung Kulturelles Baselland. Massgeschneidert für diesen Ort, passgenau in Mundart arrangiert – vom Ensemble selbst. Das Thema lautet: Demokratie. In einem Internetforum – dem Forum Romanum – diskutieren die Teilnehmer über Politik, Gesellschaft, Nachhaltigkeit. 

«Das war irgendwie besonders, dieses Forum.»
«Weil es nicht um unseren Style, unsere Gadgets, unsere Partys oder Befindlichkeiten ging.»
«Da wurde nichts einfach mit einem ‹mag ich› oder ‹mag ich nicht› abgetan.»
«Wir haben uns da für richtige Themen interessiert, so was wie Frieden, wie der funktioniert.»
«Oder Gerechtigkeit.»
«Was das bedeutet, Freiheit. Wie es sein kann, dass man die verliert.»

Bis der anonyme Administrator vorschlägt, die Ideen und Meinungen nicht mehr nur virtuell, sondern real zu verhandeln: Im Camp Cäsar. Nichts ist vorgegeben, alles muss von Grund auf neu verhandelt werden. Manche Forumsteilnehmer reagieren euphorisch, andere skeptisch: 

«Es geht genau darum: niemanden mehr zu haben, auf den wir die Verantwortung abwälzen können.»
«Aber vier Wochen, vollkommen abgeschottet in so nem ausgegrabenen Römertheater mitten in der Pampa?»
«Wir fangen einfach da an, wo Cäsar angefangen hat, und sehen, was daraus wird. Vielleicht finden wir so heraus, wie eine Herrschaft ohne Herrscher funktioniert.»

Die Herrschaft ohne Herrscher entpuppt sich als Illusion. Die Utopie von der Demokratie verzerrt sich in rasenendem Tempo zur hässlichen Fratze. Das Camp endet in der Katastrophe. Hätte ich anders gehandelt?, muss sich der Zuschauer unweigerlich fragen.

Fünf Wochen in der Ruine

Im realen Camp dagegen scheint pure Harmonie zu herrschen. Fünf Wochen lang hausen die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler gemeinsam mit dem Regieteam in der Ruine des Amphitheaters in Augusta Raurica.

Idyllischer geht es kaum: 20 bunte Zelte – jedes auf ein Holzplateau gestellt, um nicht im regennassen Matsch zu versinken –, ein mobiles Küchenhäusschen, ein Brunnen, Kühe auf der Weide, Wiesen und Wälder.

Die Herrschaft ohne Herrscher entpuppt sich als Illusion.

Konflikte? Fehlanzeige. Im Gegenteil: Als die Crew einmal zwei Tage lang frei hatte, trafen sich ausnahmslos alle in Basel auf ein Bier.

«Wir haben es hier sehr lustig zusammen», sagt Denis. Er ist 20 Jahre alt, hat gerade das KV abgeschlossen – ein Zugeständnis an seine Verwandten. Etwas Richtiges sollte er lernen. Das hat er nun getan, nun solle die Familie Ruhe geben, meint er – er will nun ganz auf die Schauspielerei setzen. Im Jungen Theater Basel sammelt er dafür schon seit einigen Jahren Erfahrung.

Die Jugendlichen wollen das hier unbedingt

Auch die anderen Darsteller haben schon mindestens einen Theaterkurs absolviert. «Wer hier dabei ist, wurde ausgewählt», sagt Uwe Heinrich, Theaterpädagoge und Leiter des Jungen Theater Basels. Disziplinarprobleme gibt es deshalb keine: «Die wollen das hier unbedingt», sagt er.

Die Regeln im Camp stellen die jungen Leute tatsächlich selbst auf. Eigentlich gibt es nur eine Regel: «Wer ‹Gute Nacht› sagt, bestimmt die Sperrstunde. Alle, die danach weiterfeiern wollen, müssen eine Ecke weiter ziehen», berichtet Ann (20). Und fügt lachend hinzu: «Jeden Abend muss ich mich zwingen, ins Bett zu gehen!» Manchmal helfe es, wenn sich ein paar Leute anschliessen und gemeinsam am Brunnen Katzenwäsche machen. «Dieses kollektive Freiluftzähneputzen ist wirklich das Beste», stimmt ihr Lea (18) lachend zu. 

Das Natel verliert automatisch an Bedeutung

Alle geniessen es, Tag und Nacht an der frischen Luft zu sein. Die zehn Minuten Fussmarsch zum Duschwagen kürzen die meisten mit dem mitgebrachten Velo ab – oder verringern ihr Duschpensum einfach. Vieles, was sonst im realen Leben so wichtig erscheint, wird hier zur Nichtigkeit. Das Natel etwa, von dem sich die Camp-Teilnehmer im Theaterstück so mühsam trennen müssen, verliert hier ganz automatisch immer mehr an Bedeutung.

«Ich merke, wie viel Zeit ich sonst im Internet verbringe, um irgendetwas zu organisieren», sagt Marcella (19). Hier muss sie nichts organisieren: alle liebgewonnenen Sozialkontakte sind vor Ort. «Und wenn es mal einen Hänger gibt, pushen wir uns gegenseitig», sagt Antoinette (16). Etwa wenn einer nach acht Stunden Proben und einer langen Partynacht müde ist am Morgen, über blaue Flecken klagt oder die Mückenstiche nicht mehr zählen kann.

Aber das kommt selten vor. Nicht einmal die mikroskopisch kleinen Schnittwunden, die sich fast alle Darsteller bei ihrem körperintensiven Einsatz vom leuchtend blauen Glasgranulat am Bühnenboden holen, können die gute Laune verderben. Man geht pragmatisch damit um: Ein grösseres Slip-Modell bei der Probenkleidung soll verhindern, dass sich das Glasgranulat in alle Ecken des Körpers verteilt.

Das Lagerleben als Demokratiebildung

Diskutieren sie auch über Demokratie? «Ja, schon», sagt Uwe Heinrich, «aber eher darüber, welche Musik am Abend gespielt wird.» Doch er ist überzeugt, dass das Lagerleben während der Probenphase viel mehr zur Demokratiebildung beiträgt als das geschriebene Wort im Stück. Ohnehin haben die meisten durch ihr junges Alter bislang kaum an Abstimmungen teilnehmen können.

Doch Lea präzisiert: «In den arabischen Ländern ringen die Menschen um Demokratie – und wir denken über alternative Staatsformen nach, über eine Verbesserung der Demokratie! Wir gehen im Stück vom Demokratie-Verständnis der Römer aus und suchen die absolute Gleichheit.»

Aber das Stück dreht sich nicht nur um Demokratie. Sondern um Themen, die in jeder Gruppenbildung zum Tragen kommen: «Es geht um Manipulation, um Irrwege der Entscheidungsträger, unzufriedene Minderheiten, Macht und wie Machtverhältnisse entstehen», sagt Uwe Heinrich. «Um Selbstaufwertung durch Fremdaufwertung», fügt Regisseur Daniel Wahl zu. «Wie setzt sich etwas durch? Wer steht zu wem?» Und es bleibt die bittere Erkenntnis, dass auch in einer Demokratie die Mehrheit nicht automatisch das Richtige entscheidet.

Ein grosses Thema angeeignet

Sind die jungen Schauspielerinnen und Schauspieler in diesem demokratischen Aneignungsprozess nun als besonders authentische Darsteller anzusehen? «Es ist ein Grundsatz unserer theaterpädagogischen Arbeit, dass wir eine Nähe zwischen Rollen-Ich und Darsteller-Ich suchen; beides darf sich gegenseitig beeinflussen. Insofern sind die Darsteller sicher authentischer als professionelle Schauspieler», sagt Uwe Heinrich. Und fügt hinzu: «Ein Profi-Ensemble würde sich vermutlich kaum an diesen Text wagen.» Warum? «Weil das Thema zu gross ist!» 

Als Theaterpädagoge hat Heinrich schon etliche Jungdarsteller auf die Bühne begleitet. Die Jugendlichen von heute haben es schwerer, findet er: «Sie hören heute immer wieder, dass ihnen alle Türen offen stehen. Das ist eine unglaubliche Last! Diese vielen Möglichkeiten erzeugen grossen Stress. Ich bin froh, wenn da die Eltern ein bisschen Druck rausnehmen können und ein Zwischenjahr erlauben.» Um Theater zu spielen. Und um Demokratie zu leben. Versuchsweise.

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Camp Cäsar. Junges Theater Basel
Premiere: So, 7.9., Römertheater, Augusta Raurica.
Weitere Vorstellungen bis 13.9.


Im Camp war auch «art-tv.ch», ihr Beitrag:

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