Allein schon die Jahreszahlen lassen einen leer schlucken: Es geht um Schicksale aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und nicht aus der sozialpolitisch grauen Vorkriegszeit oder dem 19. Jahrhundert. Die Rede ist von den sogenannten Verdingkindern sowie anderweitig «administrativ versorgten» Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, von Opfern von Zwangssterilisation und -abtreibung oder Kastration.
Bis 1981 konnten Behörden Kinder ohne Gerichtsurteil und entsprechend auch ohne Rekursmöglichkeit aus ihrer Familie reissen und fremd platzieren. Jugendliche und Erwachsene wurden auf unbestimmte Zeit und oft ohne offizielle Begründung zur «Nacherziehung» in Heime und Strafanstalten verfrachtet. Einfach, weil sie aus armen Verhältnissen stammten oder den gesellschaftlichen Normen nicht entsprachen – eine uneheliche Schwangerschaft konnte ausreichend sein.
René R. ist einer dieser Betroffenen. «Ich kam 1960 als zweites Kind auf einem Bauernhof im Berner Oberland zur Welt», erzählt er Ende Januar am Rand einer Informationsveranstaltung der Guido Fluri Stiftung, die sich als Anwältin der Betroffenen für eine Wiedergutmachung stark macht. «Mein Vater war weg, meine Mutter arm, da beschlossen die Behörden, dass ich als zweites Kind nicht tragbar sei.» Er wurde also gegen den Willen seiner Mutter zur Adoption freigegeben, was ihn nach Basel brachte.
René R. hatte Glück im Unglück, weil er in seiner Adoptivfamilie in Basel eigentlich eine «ganz gute Kindheit» erleben konnte. Da erging es Paul Richener (*1949) und Hanspeter Bobst (*1946) ganz anders. Sie stammten aus zerrütteten Familienverhältnissen in Basel, beide erlebten eine haarsträubende Odyssee durch wechselnde Pflegefamilien, Kinderheime und Jugendanstalten. In ihren Biografien berichten sie vom Ausgestossensein, von sexuellem Missbrauch und der schamlosen Ausnutzung als Gratis-Arbeitsknechte.
Alle drei Betroffenen haben beim Bund ein Gesuch um einen Solidaritätsbeitrag eingereicht. Die eidgenössischen Räte haben 2016 mit der Verabschiedung des «Bundesgesetzes über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen» den Weg dafür bereitet. Konkret geht es um eine wissenschaftliche Aufarbeitung des grossen Unrechts und um den Versuch einer Wiedergutmachung in Form eines Solidaritätsbeitrags. 300 Millionen Franken stehen zur Verfügung, 25’000 Franken ist der Maximalbetrag, der pro Einzelfall ausbezahlt werden soll.
Ganz freiwillig vollzog der Bund diesen Schritt nicht. 2013 entschuldigte sich Bundesrätin Simonetta Sommaruga an einem Gedenkanlass zwar bei den Betroffenen und versprach eine Aufarbeitung «dieses schlimmen Kapitels der Schweizer Geschichte». Dennoch sprachen sich die Rechtskommissionen von National- und Ständerat bei der Bearbeitung eines Vorstosses von SP-Nationalrat Paul Rechsteiner zunächst gegen Zahlungen aus. Das sei Aufgabe der Kantone, man wolle kein Präjudiz für andere Opfergruppierungen schaffen, hiess es.
Erst als ein Komitee unter dem Präsidium des Unternehmers Guido Fluri innert kürzester Zeit genügend Unterschriften für die «Wiedergutmachungs-Initiative» gesammelt hatte, lenkte das Parlament auch bei den Zahlungen ein. Fluri war einst selber Heimkind. Mit der Stiftung, die seinen Namen trägt, setzt er sich bis heute engagiert für die Aufarbeitung dieses Unrechts ein.
Ende März läuft die Frist aus
Bei der Umsetzung der Wiedergutmachung legte der Bundesrat schliesslich ein ungewohnt forsches Tempo vor. Am 30. September 2016 wurde das Bundesgesetz verabschiedet, am 1. April 2017 trat es bereits in Kraft. Und die Frist für die Einreichung der Gesuche läuft am 31. März 2018 aus.
Die kurze Frist ist nicht als Schikane zu werten. Weil sich viele Betroffene bereits in einem fortgeschrittenen Alter befinden und an physischen sowie psychischen Folgeschäden leiden, musste sich der Bund beeilen. Allgemein geht man von 12’000 bis 15’000 noch lebenden Opfern aus. Bis Ende Januar haben aber erst 4500 von ihnen ein Gesuch eingereicht – in Basel-Stadt waren es rund 230. Das sind weit weniger als prognostiziert.
Einige lehnen einen Solidaritätsbeitrag aus Stolz ab, oder weil sie ihn als zynisches Wiedergutmachungsangebot bewerten.
Politiker aus dem rechten Lager, die sich in den eidgenössischen Räten als einzige gegen Wiedergutmachungszahlungen gewehrt hatten, fühlten sich sogleich bestätigt. Stellvertretend für sie schrieb die «Basler Zeitung» am 22. Januar: «Möglicherweise gibt es schlicht nicht so viele ehemalige Verdingkinder und Zwangsversorgte, denen Unrecht angetan wurde. Oder viele von ihnen sehen sich nicht als Opfer.»
Ein Fehlschluss, finden die Experten: «Aus der Zahl der Gesuche zu folgern, dass es viel weniger Opfer gäbe als bislang angenommen, ist mit Sicherheit falsch», schreibt die vom Bundesrat eingesetzte Unabhängige Expertenkommission schon am 11. Januar.
Sie sieht verschiedene Gründe, warum nicht alle Berechtigten ein Gesuch eingereicht haben: Der Erinnerungsprozess könne so «aufwühlend und bisweilen auch schmerzhaft» sein, dass einige ihn grundsätzlich scheuen, schreibt sie in einem Arbeitspapier. Dazu komme eine latente Angst vor dem Kontakt mit Behörden, welche die Betroffenen einst «systematisch und explizit als nicht glaubwürdig diffamiert» hatten, oder die Angst vor erneuter Diffamierung. Andere lehnten einen Solidaritätsbeitrag aus Stolz ab oder grundsätzlich, weil sie ihn als zynisches Angebot zur Wiedergutmachung bewerten. Und schliesslich gebe es die Betroffenen, die gesundheitlich so angeschlagen seien, dass sie gar nicht imstande seien, ein Gesuch einzureichen.
Die Guido Fluri Stiftung fügt dieser Aufzählung noch eine weitere Gruppe hinzu, nämlich diejenige der «sozial isolierten Menschen», die man mit dem Aufruf gar nicht erreicht habe. Mit einer Informationsreise durch Schweizer Altersheime versucht die Stiftung, Betroffene zu motivieren, die sich bis jetzt zurückgehalten haben. «Wir möchten verhindern, dass Menschen, die Anspruch auf Wiedergutmachung haben, die Frist verpassen», sagt Theo Halter, Projektleiter der Informationstour.
In der Basler Altersresidenz Senevita auf dem Erlenmatt-Areal beteuerte Halter, dass man sich helfen lassen kann beim Ausfüllen und Einreichen des Gesuchs. «Niemand muss in die Ursprungsgemeinde zurück und selber in den Aktenbergen graben», sagt er.
Hilfe bieten vorab die Opferhilfestellen der Kantone an. Zur Hilfe verpflichtet sind auch die Staatsarchive – die Betroffenen müssen ihrem Gesuch nämlich Belegdokumente beilegen, die sich zum Teil nur schwer auffinden lassen.
Im Basler Staatsarchiv sind gegenwärtig drei Mitarbeiter damit beschäftigt, entsprechende Anfragen zu bearbeiten. Etwas über 230 Anfragen sind bis Ende Januar 2018 auf den Tischen der Archivare gelandet. «Das Bundesamt für Justiz prognostizierte für Basel-Stadt 430 Anfragen», sagt André Buob, Abteilungsleiter Vorarchiv, der für die Bearbeitung der Gesuche zuständig ist.
Über 2300 Jugendliche in Basel «administrativ versorgt»
Das Bundesamt stützt sich bei diesen Prognosen auf statistische Angaben, die aus den Jahresberichten der diversen Behörden oder dem Statistischen Jahrbuch herauszulesen sind. Die Jugendschutz- und Jugendstrafkammer Basel-Stadt verfügte von 1943 bis 1980 über 2300 «administrative Versorgungen» und 900 Adoptionen. Zwischen 1915 und 1980 wurden über 1500 Personen zwangsweise in Trinkerheil- und sonstige Heil- und Pflegeanstalten eingewiesen.
Die Recherchearbeiten sind nicht immer einfach, wie das Staatarchiv in seinem Blog dokumentiert. Je nach Fall war eine andere Behörde zuständig. «Da gab es das Jugendamt, die vormundschaftlichen Aufsichtsbehörden, den Frauenverein als ausführendes Organ bei Pflegkindern, das Polizeidepartement als Antragssteller bei Zwangsversorgung, die Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin und der Psychiatrischen Klinik, die einzelnen Heime und Anstalten, das Zivilgericht bei Entscheiden über das Sorgerecht bei Scheidungsfällen, das Schularztamt und andere mehr.» Entsprechend sind die Akten in unterschiedlichen Lagern abgelegt oder gar noch nicht im Staatsarchiv angelangt.
«Die wichtigste Aussage, nämlich die Begründung, warum ich eingeliefert wurde, fehlt in meiner Akte.»
Und auch die Art, wie Fakten einst archiviert wurden, macht es den Archivaren nicht immer leicht: «Bei den Jugendamtsakten zum Beispiel müssen wir auf Protokollbände zurückgreifen, die zwar durchnummeriert sind, aber kein Register enthalten», sagt Buob. Die 2500 Nummern sind weder chronologisch noch alphabetisch nach Namen geordnet. «Für uns ist nicht nachvollziehbar, nach welchen Kriterien diese Nummern vergeben worden sind.» Das erschwert die Recherche massiv.
Dazu kommt, dass nicht alle Unterlagen vollständig vorhanden sind. Bereits in den 1980er-Jahren sind gewisse Aktenbestände vernichtet worden.
Andere Akten sind unvollständig. Das musste Paul Richener erfahren, als er im Staatsarchiv nach Spuren seiner Kindheit forschte. Er wurde 1965 völlig überraschend von der Vormundschaftsbehörde aus seiner Lehre als Bauzeichner in Sissach gerissen und nach Basel ins Jugendheim am Nonnenweg verfrachtet. Dort waren in erster Linie straffällige Jugendliche untergebracht. «Meine Akte vom Jugendheim besteht aus meinen Personalien, viele Kommentare über mein Betragen, aber die für mich absolut wichtigste Aussage, nämlich die Begründung, warum ich eingeliefert wurde, fehlt», sagt er.
Weisse Flecken in den Akten
Für Richener wiegt diese Lücke in seiner Biografie schwer. «Ich weiss nicht, was ich damals verbrochen haben soll, warum ich meine Lehre nicht weitermachen konnte, das kann doch nicht sein», sagt er. Er geht davon aus, dass hier etwas vertuscht werden soll. Dem Basler Staatsarchiv weist er aber keine Schuld zu. Die Archivare seien sehr hilfreich gewesen bei den Recherchen.
Das bestätigen auch Hanspeter Bobst und seine Lebenspartnerin Angela Landolt, die bei den Recherchearbeiten massgeblich mitgeholfen hat. «Die Suche nach den Akten war schwierig, zum Glück haben uns die Archivare einige Türen öffnen können», sagt Bobst.
«Wenn sich die Geschichten durch Akten aus dem Archiv bestätigen, dann brechen aber alle Dämme.»
Aber auch er stiess auf weisse Flecken. 1965 wurde Bobst verhaftet. Er wurde verdächtigt, einen Spielautomaten und einen Fussballkasten in einem Restaurant geknackt zu haben. Zu Unrecht, wie sich später offiziell herausstellte. Aber erst, nachdem er zwei Monate in Untersuchungshaft verbracht hatte. Über seine Verwahrung im Lohnhof waren keine Akten auffindbar.
Bobst hat seine unbarmherzige Kindheit und Jugendzeit, wie auch Richener, in Buchform aufbereitet. Für Bobst war diese Arbeit wichtig: «Ich konnte emotional endlich runterfahren, als ich das Buch geschrieben habe», sagt er. Aber die Beschäftigung mit dem Unrecht, das er erleben musste, habe ihn auch stark mitgenommen. «Es sind auch nachträglich viele Tränen geflossen.»
Das erlebt auch André Buob vom Staatsarchiv. Selbst wenn die meisten Gesuchsteller von der Opferhilfe betreut werden, hat er immer wieder Kontakt zu Betroffenen. «Es braucht Mut, sich der eigenen Geschichte zu stellen, den Grausamkeiten, die man erlebt hat», sagt er. Seine Erfahrung ist, dass viele Betroffene einerseits sehr sachlich über ihre Erlebnisse berichten. «Wenn sich die Geschichten durch Akten aus dem Archiv bestätigen, dann brechen aber alle Dämme.»