Als die Schweiz aus Wohnungsnot auf ein Grundrecht verzichtete

Die Niederlassungsfreiheit ist ein Grundrecht. In den 1940er-Jahren wurde sie im Kampf gegen die Wohnungsnot vorübergehend eingeschränkt.

Mathilde Fischer mit Tochter Madeleine: Wehrten sich 1947 erfolgreich gegen die Verweigerung der Niederlassungsbewilligung.

(Bild: Georg Fischer)

Die Niederlassungsfreiheit ist ein Grundrecht. In den 1940er-Jahren wurde sie im Kampf gegen die Wohnungsnot vorübergehend eingeschränkt.

Bis Ende Mai 1946 lebte Mathilde Fischer in Fulenbach. Nach der Scheidung von ihrem Mann zog sie auf den 1. August mit ihrer 6-jährigen Tochter Madeleine zu ihrer Mutter nach Egerkingen. In deren Wohnung kamen sie im Zimmer eines 17 Jahre alten Neffen der Mutter unter, der zu jenem Zeitpunkt im Welschland war. Auf Dauer konnte dies aber keine Lösung sein. Die Rückkehr des Neffen war nur eine Frage der Zeit und die Platzverhältnisse waren auch so schon prekär.

Als auf den 1. November 1946 im ersten Stock eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche frei wurde – der vierköpfigen Familie, die darin gewohnt hatte, war sie zu klein geworden –, zog Mathilde Fischer mit ihrer Tochter darin ein. Allerdings hatte sie noch keine Niederlassungsbewilligung, und diese wurde ihr vom Gemeinderat in der Folge verweigert.

Not vor Grundrecht

Die Freigabe der Niederlassung für Schweizer auf eidgenössischem Gebiet durch die Bundesverfassung von 1848 und in noch erweitertem Umfang durch die Verfassung von 1874 gehört zu den grossen Errungenschaften der modernen Schweiz. Um die Niederlassungsfreiheit einzuschränken, bedurfte es eines notrechtlichen Bundesratsbeschlusses. Ein solcher erfolgte am 15. Oktober 1941 – auf Drängen des Kantons Solothurn und der Behörden zahlreicher Städte, die darin ein Mittel gegen die Wohnungsnot sahen. Zum Hintergrund dieser Massnahme schrieb der Bundesrat in einem Bericht zuhanden der Bundesversammlung:

«Wie während des letzten Krieges (gemeint ist der Erste Weltkrieg, die Red.) und der Nachkriegszeit einerseits die Bautätigkeit zurückging, andererseits aber in einzelnen Städten und besonders in Industrieorten ein vermehrter Zustrom von Wohnungssuchenden einsetzte, so haben auch diesmal die Kriegsverhältnisse in verschiedenen Gemeinden zu einer Wohnungsknappheit oder sogar zu einem Wohnungsmangel geführt.»

Letzteres führte der Gemeinderat von Egerkingen ins Feld, als er Mathilde Fischer die Niederlassung verweigern wollte:

«Die Wohnungsnot ist in unserer Gemeinde derart gross, dass die Gemeindeversammlung zur Unterbringung verschiedener Familien zwei Wohnbauten beschlossen hat. Wir sehen uns gezwungen jede Möglichkeit zu erfassen, um Wohnungen für Familien, die im Verlauf dieses Jahres obdachlos werden, erhältlich machen zu können.»

Der Gemeinderat beharrte daher auf der Verweigerung der Niederlassungsbewilligung, «es sei denn, dass Frau Fischer keine eigene Wohnung beanspruchen will, d.h. in der Wohnung ihrer Mutter Unterkunft nimmt».



Im ersten Stock dieses Hauses in Egerkingen sollten Mutter und Tochter Fischer dann doch noch eine Bleibe finden.

Im ersten Stock dieses Hauses in Egerkingen sollten Mutter und Tochter Fischer dann doch noch eine Bleibe finden. (Bild: Fotosammlung Kamber)

Mathilde Fischer liess sich dadurch allerdings nicht ins Bockshorn jagen. Die junge Frau bot dem Gemeinderat die Stirn und erhob fristgerecht Rekurs beim Solothurner Regierungsrat. In ihrem Rekursschreiben betonte sie, dass sie gezwungen sei zu arbeiten, weil die Alimente ihres vormaligen Gatten «für das heutige Leben nicht ausreichen».

Und da sie den Beruf einer Damenschneiderin ausübe, sei es für sie ganz ausgeschlossen gewesen, «auf längere Zeit nur ein einziges Zimmer zur Verfügung zu haben», das ihr und ihrer Tochter als «Schlafzimmer, zugleich noch als Arbeits- und Anprobierzimmer» dienen musste. Ferner wies sie darauf hin, dass sie in Egerkingen «eine grosse Kundschaft» habe – in Gunzgen (wo sie durch ihre Heirat heimatberechtigt wurde) «wäre das jedenfalls nicht so».

Einschränkungen bis 1949 in Kraft

Der Solothurner Regierungsrat liess sich durch Mathilde Fischers Argumente überzeugen und hiess ihre Beschwerde gegen den Gemeinderatsentscheid am 16. Mai 1947 gut.

Der Notrechts-Beschluss vom 15. Oktober 1941 betreffend Massnahmen gegen die Wohnungsnot blieb bis 1949 in Kraft. Erst am 23. Dezember jenes Jahres stellte der Bundesrat die Freizügigkeit für Schweizerinnen und Schweizer wieder her.

Quellen

– Auszug aus dem Protokoll des Regierungsrates des Kantons Solothurn vom 16. Mai 1947

– Ernst Heinrich Egli: Die Beschränkung der Freizügigkeit durch den Bundesratsbeschluss vom 15. November 1941 betreffend Massnahmen gegen die Wohnungsnot. Diss. Zürich 1948

 

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