Das Festival «Aube – Fajr» zeigt kommendes Wochenende in seiner Erstausgabe, was der Arabische Frühling mit dem Film in Nordafrika und im Nahen Osten angestellt hat. Die TagesWoche hat sich mit Ayten Mutlu Saray, Filmschaffende und Programmdirektorin des Festivals, unterhalten.
«Aube» heisst das Festival, Morgendämmerung, und als solchen hat man die Umwälzungen, die 2010/11 im arabischen Raum angestossen wurden, wahrgenommen. In Tunesien, Ägypten, Libyen fielen langjährige Diktaturen, die Bevölkerung ging auf die Strasse, die Kanäle der Sozialen Medien glühten heiss.
Das Versprechen, das mit dem «Arabischen Frühling» einherging, war ein Demokratisierungsschub in einer der letzten Grossregionen der Erde, die noch in autoritären Strukturen als Erbmasse des Kolonialismus feststeckten. Eine Generation nach der Transformation des Warschauer Blocks schienen nun der Nahe Osten und Nordafrika an der Reihe.
Auf Frühling folgt Winter
Vier Jahre später ist die Bilanz düster. Bürgerkrieg in Syrien, ein implodierter Staat in Libyen, Restauration in Ägypten. Dem Arabischen Frühling folgte bald ein frostiger Winter – so lautet das Fazit des Westens. Ob sich diese Wahrnehmung mit derjenigen in den Ländern des Maghreb und der Levante deckt, oder ob hier der Westen erneut einer Konstruktion des Orients aufsitzt, das sind die Hintergrundfragen des Filmfestivals «Aube».
Gezeigt werden Beiträge aus Tunesien, Ägypten, Syrien, Algerien und Palästina, die mehrheitlich in den vergangenen vier Jahren entstanden sind. Darüber hinaus stellt sich «Aube» auch dem kritischen Diskurs: Vor Ort sind die Filmemacher selbst, die in Gesprächen mit Schweizer Filmschaffenden, Kritikern und Wissenschaftlern über die Aufgabe der Künste in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen diskutieren werden.
Und auch der 2003 verstorbene Edward Said, einer der Begründer der postkolonialen Theorie, der mit seiner kritischen Schrift «Orientalismus» 1978 erstmals den kolonialen Antrieb der westlich-akademischen Orientforschung freilegte, wird als Stichwortgeber der aktuellen Debatte zugegen sein. Gezeigt wird der Interviewfilm «Edward Said: On Orientalism» mit anschliessender Diskussion.
Ayten Mutlu Saray, «Aube» zeigt Filme aus arabischen Ländern, die seit 2010 entstanden sind. Hat der Arabische Frühling das Filmschaffen verändert?
Das hat er. Die Entwicklungen der letzten Jahre werden, besonders im Dokumentarfilm, in einer Form reflektiert, die bisher so nicht möglich war. Sie müssen wissen: Seit der Unabhängigkeit von der kolonialen Herrschaft haben sich die Länder, von denen wir reden, in ihrer Kunst in erster Linie gegen den Westen abgegrenzt. Die neuen, postkolonialen Machtstrukturen wurden dabei nicht wirklich infrage gestellt. Was es gab, waren Filme, die Verehrung der Unabhängigkeit thematisierten. Die politische Macht wurde dabei nicht direkt angetastet. Das ist erst jetzt möglich, die Regisseure haben den Raum dafür gewonnen.
Das heisst: die Zensur ist gelockert?
Nicht nur. Die Revolutionen haben die Mauer der Angst vor dem Regime zum Einsturz gebracht, aber auch die Mauer der unkritischen «Treue» gegenüber den Regierungen als Vertretungen der Unabhängigkeit. Die unkritische Treue führt zu Schweigen. Das findet man bei den neuen Filmemachern nicht mehr. Ich war zu Jahresbeginn in Ägypten – die Enttäuschung, dass die Revolution bisher nicht die erhofften wirtschaftlichen Fortschritte gebracht hat, ist gross, aber das wird diskutiert und ausgesprochen. Korruption und Repression sind keine Tabuthemen mehr.
Sie haben einige Filme aus Syrien im Programm. Angesichts des anhaltenden Bürgerkriegs, der Fragmentierung des Staates und der Radikalisierung seiner Teile – wie frei kann das Filmschaffen dort sein?
Syrien ist ein anderer Fall. Die syrischen Regisseure werden wir nicht zu Besuch haben können…
…sondern per Skype zugeschaltet?
Auch das nicht. Telefongespräche lassen sich abhören. Ich kann darüber, aus Rücksicht auf die Sicherheit der Filmemacher, auch nur beschränkt reden. Ich kann nur sagen: Auch in den syrischen Beiträgen findet sich, wie in Ägypten und Tunesien, der kritische Blick auf die jüngere Vergangenheit und die Machtverhältnisse, und wo es möglich ist, ist der Bürgerkrieg ein Thema. Aber der Blick geht über die jüngste Vergangenheit hinaus, beispielsweise sind auch Frauenrechte in den vergangenen dreissig Jahren ein Thema.
«Die Generation nach dem Arabischen Frühling hinterfragt nicht nur die Kolonialzeit, sondern auch die Zeit danach.»
Etwas aus dem Rahmen fallen die Filme im Programm zu Algerien und Palästina. Beide waren keine Brennpunkt des Arabischen Frühlings, während beispielsweise Libyen oder Bahrain nicht vertreten sind.
Ein Festival, das postkoloniale Entwicklungen im Nahen Osten zum Thema hat, kommt kaum an Palästina vorbei. Der Konflikt zwischen Palästina und Israel ist selbst ein koloniales Erbe, und in der israelischen Besatzung Palästina lassen sich koloniale Strukturelemente kaum übersehen. Die israelische Sicherheitsmauer hat für die palästinensische Bevölkerung eine neue Alltagsrealität geschaffen, in die die Menschen nicht einbezogen worden sind. Der Film von Khaled Jarrar zeichnet das ästhetisch stark nach. Was Algerien betrifft, da greift es meiner Meinung nach zu kurz, das Land vom Arabischen Frühling auszuschliessen. Diese Umwälzungen – als Erschütterung der postkolonialen Ordnung – fanden dort viel früher statt, angestossen durch den Bürgerkrieg in den 1990er-Jahren. Algerien ist ein gutes Beispiel dafür, wie die koloniale Vergangenheit, die in diesem Fall in einem gewaltsamen Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich erkämpft wurde, die postkoloniale Phase beeinflusst hat. Dem Unabhängigkeitskrieg wurde einzig mit Verehrung gedacht. In jüngeren Filmen hingegen befragen die Filmemacher die Kriegsgeneration nach ihrer Rolle und ihren Taten im Krieg. Beispielsweise danach, ob sie getötet haben. Das ist ein anderer, kritischerer Zugang, der nicht mehr nur einseitige Treue zum nationalen Befreiungskampf ausdrückt. Die Generation nach dem Arabischen Frühling hinterfragt nicht nur die Kolonialzeit, sondern auch die Zeit danach. Deshalb haben sie eine doppelte Aufgabe. Somit ist auch ihre Verantwortung viel grösser: sich mit dem Aussen und mit dem Innen gleichzeitig auseinanderzusetzen.
Ein Programmpunkt des Festivals widmet sich Edward Said und der Aktualität seiner Orientalismus-Kritik. Wenn nach Said der «Orient» ein konstruierter, westlicher Begriff ist, der dem kolonialen Herrschaftsdenken entspricht – was lässt sich dann mit Said über die Wahrnehmung des Arabischen Frühlings sagen? Belegen Sie mit dem Fokus auf Algerien, dass auch hier die westliche Wahrnehmung zu sehr verengt?
Man kann nicht jeden Begriff grundsätzlich abschaffen. Der Arabische Frühling entwickelte sich unabhängig vom westlichen Einfluss, und dass er eine Dynamik innerhalb der arabischsprachigen Ländern auslöste, ist unbestritten. Aber es sind wichtige Fragen, für deren Diskussion wir mit dem Festival einen Raum zu schaffen versuchen – Fragen, deren Antworten man nicht bereits im Voraus annehmen sollte. Said, der palästinensischer Herkunft war, hat den Hass auf Israel nach der Besetzung des Westjordanlands zurückgewiesen und stattdessen verlangt, sich mit der Struktur von Macht, Herrschaft und konstruiertem Gegenüber allgemein zu befassen. Macht hat keine ethnische Zugehörigkeit oder Identität.
_
Das Festival «Aube – Fajr» findet vom 14. bis 16. März im Kino Camera in Basel statt.