«Armut ist nicht die Schuld des Einzelnen»

Carlo Knöpfel ist einer der besten Kenner der Armut in der Schweiz. Im Interview spricht er über strukturelle Ursachen von Armut, Fehlentwicklungen im Umgang mit den Armen und seine persönlichen Erfahrungen mit dem Thema.

Es geht nicht nur um Geld. Für Carlo Knöpfel ist die Aussichtslosigkeit das Hauptproblem von Armutsbetroffenen. (Bild: Hansjörg Walter)

Soeben hat die Caritas das neue «Handbuch Armut in der Schweiz» herausgegeben. Co-Autor Carlo Knöpfel spricht im Interview über strukturelle Ursachen von Armut, Fehlentwicklungen im Umgang mit den Armen und seine persönlichen Erfahrungen mit diesem Thema.

Carlo Knöpfel, in einem Artikel zum neusten Armutsbericht des Bundes schrieb die NZZ das Wort Armut konsequent in Anführungszeichen. Existiert Armut in der Schweiz tatsächlich nur in Anführungszeichen oder betreibt diese Zeitung damit eine Verharmlosung des Problems?

Die Frage ist nicht zuletzt, wie man Armut misst und definiert. Die neuen Zahlen des Bundesamtes für Statistik (BfS) sind eine Erhebung, die das BfS genauso macht wie andere Statistikämter in Europa – als Teil einer Eurostat-Statistik. Armut wird dabei als relativer Begriff definiert. Wer weniger als 60 Prozent eines sogenannten Medianeinkommens erzielt, gilt als armutsgefährdet – was immer das dann bedeutet. Das ist das Problem an dieser Statistik. Die Caritas verwendet diese Zahlen nicht ernsthaft, sie dienen mehr als ein zusätzlicher Indikator. Uns ist es viel wichtiger, eine absolute Armutsgrenze gemäss den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos) zu haben. Eine Einzelperson braucht demnach 986 Franken pro Monat für den Lebensbedarf. Dazu kommen die Miete und die Krankenkassenprämie. Bei einer Familie mit zwei Kindern liegt die Armutsgrenze bei rund 4400 Franken.

Es gibt seit einigen Jahren bürgerliche Politiker, die hinter vorgehaltener Hand davon sprechen, wir müssten die Entstehung einer dauerhaften Unterschicht akzeptieren.

Ich glaube, eine solche Schicht gibt es bereits in der Schweiz. Die Frage ist mehr, wie wir sozialpolitisch damit umgehen.

Wie gehen wir denn damit um?

Es gab seit den 90er-Jahren einen Wandel: Leistungs-/Gegenleistungsprinzip, Fördern und Fordern, aktivierender Sozialstaat – das sind alles Schlagwörter, die darauf abzielen, dem Einzelnen zu sagen: Du musst dich einfach anstrengen, dann kommt das schon. Aus meiner Sicht ist das aber eine grundsätzlich falsche Interpretation der Situation. Es hat strukturelle Gründe, dass so viele Menschen Mühe haben, ihre Existenz im Arbeitsmarkt zu sichern. Es ist nicht die Schuld des Einzelnen. Das ist im Kern meine Kritik am Ganzen.

Welche Personen sind denn hauptsächlich von der Armut betroffen?

Es gibt zwei Treiber für Armut. Der eine ist der Arbeitsmarkt, der andere die Familiensituation. Der Wandel im Schweizer Arbeitsmarkt führt dazu, dass Menschen mit geringer beruflicher Qualifikation oder anderen Einschränkungen – etwa gesundheitlichen Problemen oder mangelnden Sprachkompetenzen – Schwierigkeiten haben, überhaupt eine Stelle zu finden oder eine Stelle, die ein Einkommen generiert, das für sie und ihre Familien existenzsichernd ist. Wir haben eine hohe Arbeitslosigkeit bei wenig Qualifizierten, die dann ausgesteuert werden und bei der Sozialhilfe landen. Und wir haben die Working Poor – Menschen, die mit ihrer Arbeit kein Einkommen erzielen, das reicht.

«Wir scannen im Laden unsere Waren selber ein und tanken unser Auto selber auf. Dadurch gehen Stellen für wenig Qualifizierte verloren.»

Früher fanden auch diese Menschen ein Auskommen.

Die Schweiz betreibt im globalen Wettbewerb eine Standortpolitik, die darauf abzielt, Firmen anzuziehen, die hochqualifizierte Arbeitskräfte brauchen: kapitalintensive, wissensintensive Aufgaben. Das ist spannend für uns als Erwerbstätige, aber auch für die Wirtschaft und Gesellschaft, denn es generiert unseren Wohlstand. Aber es führt automatisch dazu, dass die weniger Qualifizierten Probleme bekommen.

Welche Probleme sind das konkret?

Sie werden verdrängt in Hilfsjobs, etwa die Reinigung, Gastronomie, Hotellerie, das sind klassische Tieflohnbranchen. Kommt hinzu, dass wir als Kunden immer mehr zu Mitarbeitern der Firmen gemacht werden. Wir scannen in der Migros oder beim Coop unsere Waren selber ein und tanken unser Auto selber auf. Die Dienstleistungsunternehmen steigern dabei ihre Produktivität und bauen Personal ab. Dadurch gehen Stellen für wenig Qualifizierte verloren.

Sie erwähnten die Familie als zweiten Armutstreiber.

Da gibt es zwei Aspekte: Nach Scheidungen ist das Armutsrisiko, vor allem für alleinerziehende Mütter, relativ gross. Insbesondere dann, wenn man schon als Paar wenig verdient hat. Dann müssen aus diesem Einkommen zwei Haushalte finanziert werden. Und der Mann muss ja nur so viel Alimente bezahlen, dass er nicht selber unter die Armutsgrenze fällt. Das alles führt automatisch dazu, dass ein grosser Teil – und hier sprechen wir nun wirklich von einem grossen Teil – der Alleinerziehenden mit dem Geld nicht durchkommt und in der Sozialhilfe landet.

Und der zweite Aspekt?

Das betrifft Familien mit drei und mehr Kindern. Da kann man ein Einkommen haben, das weit über der Armutsgrenze liegt, aber mit drei Kindern in einer Stadt wie Basel oder Zürich  – denken wir an Mietpreise und Krankenkassenprämien – reicht es trotzdem nicht.

Wie viel Geld braucht es, um mit drei Kindern in Basel nicht in die Armut zu rutschen?

Wenn man von den Skos-Richtlinien ausgeht, dann 5500 bis 6000 Franken brutto.

«Die Armutsquote von Deutschen in der Schweiz liegt tiefer als jene der Schweizerinnen und Schweizer.»

Viele Arme gibt es laut Ihrem «Handbuch Armut» unter Einzelpersonen ab 65. Warum?

Da gibt es einmal ein statistisches Problem, weil das Vermögen nicht berücksichtigt wird. Ältere Leute hatten zum Teil die Möglichkeit, etwas auf die Seite zu legen. Das andere ist aber: Diese Leute sind um die Zeit des Zweiten Weltkriegs geboren worden. Als sie in die Arbeitswelt einstiegen, gab es erst die AHV, von einer zweiten Säule konnten die meisten nur träumen. Das bedeutet, dass diese Leute über ihr ganzes Leben viel weniger Rentenansprüche generieren konnten als die nachfolgenden Generationen.

Stark betroffen sind auch Ausländer.

Die Kategorie Ausländer ist verfänglich. Die Armutsquote von Deutschen in der Schweiz liegt tiefer als jene der Schweizerinnen und Schweizer. Es kommt also darauf an, aus welchem Land die Leute kommen. Und damit, wie im jeweiligen Land das Berufsbildungssystem funktioniert oder eben nicht. Die Gefahr, dass jemand vom Balkan, von den Philippinen oder aus Sri Lanka zu den Armutsbetroffenen gehört, ist grösser als wenn man aus Deutschland oder aus Frankreich stammt.

In welchen Kantonen leben die meisten Armen?

Der Jura, zum Teil das Waadtland, das Wallis und das Tessin. Es sind die strukturschwachen Kantone, deren wirtschaftliche Entwicklung nicht so weit fortgeschritten ist wie andernorts. Diese Kantone weisen auch eine höhere Arbeitslosenquote auf. Zudem leben viele Armutsbetroffene in den Städten – im Moment noch.

Was meinen Sie mit «im Moment noch»?

Die Aufwertung der Quartiere führt dazu, dass Armutsbetroffene verdrängt werden. Das sehen Sie hier in Basel: Es hat beispielsweise im St. Johann immer weniger Platz für Menschen in Armut. Sie können sich die Mieten gar nicht mehr leisten.

«Die Gentrifzierung in den Städten bekommen die Sozialhilfeämter in den Agglomerationen zu spüren.»

Und wohin ziehen die Armen?

In Basel etwas Günstiges zu finden, wird zunehmend schwieriger. Es leben deshalb immer mehr Armutsbetroffene in Allschwil, Muttenz oder Birsfelden. Die Gentrifzierung in den Städten, also die Aufwertung von Wohnvierteln wie das Matthäusquartier oder der Voltaplatz bekommen die Sozialhilfeämter in den Agglomerationen zu spüren, dort steigen die Bezugsquoten.

Das heisst, in Basel-Stadt geht die Sozialhilfequote dank der Gentrifizierung zurück?

In Basel-Stadt ist die Quote immer noch sehr hoch, aber das Problem wäre bestimmt noch gravierender, wenn es keine Gentrifizierung gegeben hätte.

Macht Basel-Stadt genug in der Armutsbekämpfung?

Das ist nicht nur eine Frage der Quantität, sondern auch der Qualität. Es geht aber in die richtige Richtung.

Wo besteht noch Handlungsbedarf?

Es ist vor allem wichtig, Armut im Lebenslauf zu vermeiden. Daher sollten Kinder aus sozial benachteiligten Familien früh gefördert werden – und in diesem Bereich könnte Basel-Stadt noch mehr machen. Es gibt zwar entsprechende Angebote, aber es liegt noch mehr drin. Ein weiteres Problem sind die über 50-Jährigen, die meines Erachtens ein Angebot in einem zweiten Arbeitsmarkt brauchen. Doch das kostet, und der Sozialstaat Basel ist unter Finanzierungsdruck.

Gerade in Basel gibt es viele nicht-staatliche Akteure wie die CMS, GGG oder andere Stiftungen, die quasi einen Schatten-Sozialstaat bilden. Eine gefährliche Entwicklung?

Eine gewisse Verführung seitens der Regierung, Angebote auf Private abzuschieben, ist sicher vorhanden. Der Staat soll und kann aber auch nicht alles machen. Ich sehe private Institutionen deshalb als komplementär und nicht als substitutiv zum Sozialstaat an. Die Gefahr von privaten Institutionen ist aber immer eine gewisse Willkürlichkeit und Zufälligkeit.

«Wenn jeder Millionär als Götti eines Sozialhilfebezügers auftreten würde, wäre das Problem auf materieller Ebene erledigt.»

Können Sie hinter den Zahlen zur Armut eine Tendenz erkennen?

Die Armutsquote ist mehr oder weniger konstant. Die Zahl der Sozialhilfebezüger steigt aber langsam an. Das heisst: Die Leute, die arm sind, werden sozusagen ärmer. Einige sind an der Armutsgrenze, gehen aber nicht aufs Sozialamt, weil sie sich noch irgendwie durchwursteln können. Wenn sie aber noch weniger Einkommen erzielen, dann bleibt irgendwann nichts anderes als der Gang aufs Sozialamt. Die Armut akzentuiert sich, würde ich sagen.

Wie die Reichen, die reicher werden.

Genau. Wir haben in der Schweiz 330’000 Millionäre und 290’000 Sozialhilfebezüger. Was wäre, wenn jeder Millionär als Götti eines Sozialhilfebezügers auftreten würde? Dann wäre das Problem auf materieller Ebene erledigt. Diese beiden Welten liegen aber weit auseinander. Die meisten Reichen kennen gar keine Armen. In der Schweiz ist Armut auch nicht so sichtbar wie in anderen Ländern. Die Betroffenen tun alles dafür, möglichst nicht aufzufallen.

«Die Schweizer neigten schon immer dazu, soziale Probleme unsichtbar zu machen.»

Dennoch gibt es immer wieder Leute, die sich an Randständigen stören, so etwa LDP-Politiker André Auderset, der die Alkoholiker vom Claraplatz weghaben möchte.

Die Schweizer neigten schon immer dazu, soziale Probleme unsichtbar zu machen. Ich befürchte, dass diese Tendenz noch mehr zunehmen wird.

Die Caritas verfolgt den Ansatz, dass man Armut in der Schweiz weniger als materielles, sondern als soziales Phänomen versteht. Wieso?

Armutsbetroffene haben sehr oft keine Perspektive mehr. Der Arbeitsmarkt und die Gesellschaft bieten den Betroffenen kaum noch vernünftige Optionen an, um aus dem Schlamassel wieder rauszukommen. Die Aussichtslosigkeit ist das gravierendste Problem von Armutsbetroffenen.

Woher kommt eigentlich Ihr Interesse für Armut? Waren Sie selber mal arm?

Ich bin tatsächlich in einer – wie man heute sagen würde – Working-Poor-Familie aufgewachsen. Mein Vater war Rheinschiffer, und ich bin auf dem Fluss unter auch in finanzieller Hinsicht engsten Verhältnissen aufgewachsen. Als junger Erwachsener geriet ich in die Diskussion um die Befreiungstheologie und in die Basisgemeinde-Bewegung. Zunächst ging es um globale Armut, doch dann kam bald die Frage: Wie siehts eigentlich in der Schweiz aus? Das hat mich nach dem Studium schnell zur Caritas geführt, die gerade eine neue Grundlagenstelle eingerichtet hatte, deren Aufbau mir übertragen wurde. Dadurch habe ich mich rasch einmal auf das Thema Armut in der Schweiz konzentriert.
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Carlo Knöpfel (55) studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Basel. Er arbeitete 19 Jahren lang bei der Caritas Schweiz, zuletzt als Verantwortlicher für die Inlandarbeit. Seit zwei Jahren ist er Professor für Sozialpolitik und Sozialarbeit am Institut für Sozialplanung und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit in Basel. Gemeinsam mit Claudia Schuwey hat er die Caritas-Publikation «Neues Handbuch Armut in der Schweiz» verfasst.

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