Auf der Alp ist der Glaube an Geister und Götter noch möglich

Das erste Mal war unsere Autorin im Bauch ihrer Mutter auf der Familienalp. Seither geht sie jeden Sommer ins Dischmatal. Und bildet sich ein, dass sie anders ist als die vielen anderen Baslerinnen und Unterbaselbieter, die sich in den Bergen daheim fühlen.

Wo Kinder für ein paar Wochen verwildern dürfen.

In der Talsenke zwischen Hüreli und Börterhorn steht, in Weiden und Wiesen gebettet, eine grosszügige Hütte aus dunklem Holz mit hellen Fensterbalken. Davor ein Sitzplätzli mit Steinplatten und Tisch, daneben der alte Kuhstall, eine Natursteinmauer.

Der Brunnen plätschert, sein Wasser glitzert in der Sonne, der nahe Rinerbach rauscht und die Kühe glöckeln. Unsere Alp liegt auf 1880 Metern im Davoser Dischmatal, hier wachsen keine Bäume mehr, dafür Haselnusssträucher, Alpenrosen, Heidelbeeren und Flechten in Grün auf Gestein.

Spione mit Feldstechern

Meine Tochter und ich sitzen auf dem Bänkli vor der Hütte. Die Morgensonne steigt hinter dem Schwarzhorn auf und brennt uns ins Gesicht. Wir ziehen die Wollpullover aus und die Sonnenhüte an. Meine Mutter bringt drei Tassen Kaffee (auf der Alp dürfen Kleinkinder Kaffee trinken, am Tisch schlürfen, furzen und gorpsen). So sitzen wir nebeneinander und schauen zu, wie die Schatten auf der gegenüberliegenden Talseite kürzer werden, je höher die Sonne steigt. Munggen-Kinder tollen über die Wiese, meine Tochter juchzt.

Auf der anderen Talseite beginnt die tägliche Prozession von Touristen in neonfarbenen Gore-Tex-Kleidern, die das Tal hinauf- und hinabwandern auf der Suche nach ein bisschen Heidi-Feeling. Am Blitzen im Sonnenlicht erkennen wir, dass wieder einer rüberspiegelt. Das Signal für uns, ebenfalls den Feldstecher aus der Hütte zu holen und zurückzuspiegeln. Die Staude vor dem Brunnen steht nicht zufällig da, mein Vater hat sie gepflanzt, damit man beim täglichen Bad vor Neugierigen mit Feldstechern geschützt ist.

Die Zeit bleibt stehen

36 Sommer lang bin ich auf diesem Bänkli gesessen, das erste Mal im Bauch meiner Mutter. In meiner Kindheit verbrachten wir im Sommer vier, fünf, sechs, sieben Wochen auf der Alp. Heute sind es noch ein bis zwei Wochen pro Jahr. Auch meine Tochter war bei ihrem ersten Alpbesuch noch ein Fötus, jetzt ist sie drei Jahre alt und spricht selbstverständlich von «unserer Alp». Kommt Besuch, führt sie ihn herum wie eine Grossgrundbesitzerin.

Ein Tag gleicht dem nächsten, ein Jahr dem andern. Wir stehen auf, machen Feuer, kochen Kaffee, steigen aufs Hüreli, waschen uns im Brunnen, holen Milch beim Bauern, lesen, backen Brot, gehen früh ins Bett und lauschen beim Einschlafen dem Rauschen des Bachs.

Den Lauf der Zeit erkennt man an der Zunge des Grialetsch-Gletschers, die sich jedes Jahr weiter in die Höhe zurückzieht. Und daran, dass die Bauern dieses Jahr nicht über den Regen reden, der ihnen das geschnittene Gras nass macht, sondern über den Klimawandel, der die Wiesen und Bäche austrocknet.

Auch die Hütte verändert sich, aber langsam. Im grossen Schlafzimmer stehen zwei Butterfässer aus Holz, ein grosses und ein kleines. Über der Kellertreppe hängen acht Kuhglocken. Eine fehlt. Seit Jahren spekuliert die Verwandtschaft, wer sie wohl genommen hat. Im Arvenstübli hängen, neben zwei Anker-Kopien, die Porträts meiner Urgrosseltern in Schwarz-Weiss. Eine kräftige Frau mit Zöpfen, ein Mann mit Bart. Souvenirs aus der Zeit, als meine Grosseltern noch Bauern waren und im Sommer Feh und Schweine auf die Alp brachten, während mein Vater schon als Knabe auf einer anderen Alp für einen anderen Bauern Vieh hütete, ganz allein.

Heutige Kinder streicheln, die früher mussten hüten.

Wahre Freunde gehen aufs Plumpsklo

Jetzt ist die Alp eine Ferienhütte, wir machen mit Solarzellen Licht statt mit Petroleum und auf unseren Wiesen weiden die Kühe des Nachbarn. Er leert dafür unser Plumpsklo. Seit Jahren führen wir innerhalb der Verwandtschaft Diskussionen darüber, ob wir es durch ein Wasserklo ersetzen sollen. Bislang setzt sich die konservative Fraktion durch, die alles beim Alten lassen will. Ich gehöre auch dazu.

Klar, die Alp ist längst Universal-Sehnsuchtsort für Agglomeratiönlerinnen und Städter. Sie strömen in die Berge und holen sich das «Hüttengaudi» und die «Raclette-Stüblis» in die Einkaufsstrassen und auf die Plätze (zum Beispiel «Elsas Alpchuchi» in der Steinen oder die mobilen Stände im Winter).

Und doch hat unsere Alp für mich etwas Archaisches, das ich spüre, kaum dass ich wieder auf dem Bänkli sitze und zum Schwarzhorn hochschaue. Dieser mächtige Berg scheint mit seinen felsigen Spitzen das Wetter im Dischma eigenhändig zu kontrollieren. Er schart Wolken um sich, baut sie zu Türmen auf. Er lässt es blitzen und donnern und manchmal auch schneien im Hochsommer – und damit die Touristen verschwinden. Das Schwarzhorn dirigiert das Wetter und mit ihm auch uns.

Eine Runde pro Tag ist obligatorisch. Sonst gibts Krach in der Hütte.

Der erste Blick am Morgen geht deshalb hinauf zum Berg. Lässt er die Sonne scheinen, wird der Tag heiter und leicht: Frühstück im Freien, am Bach liegen und lesen, die Haare waschen und an der Sonne trocknen lassen. Lässt er es regnen, wird der Tag düster und schwer: In der dunklen Hütte sitzen, bis uns die Decke auf den Kopf fällt. Durch Regen und Nebel marschieren, bis die Socken in den Schuhen gurgeln. Holzhacken, lesen, malen, lismen.

Das schlechte Wetter auf der Alp hat sogar die Macht, aus Bekannten Freundinnen fürs Leben zu machen. Und umgekehrt. Wenn man zusammengedrängt stundenlang in der Stube hockt, weiss man, was man am anderen hat.

Keine Angst, das ist nur der Alpgeist

Eine Toilette ändert sicher nichts an der Macht des Schwarzhorns. Aber, so meine Angst, nach der Spülung kommt die Dusche und dann das Internet, der Flachbildschirm. Und ob dann das Archaische gegen die Macht von Netflix bestehen kann? Nur hier oben verspüre ich diese Ehrfurcht, die tiefgläubige Menschen vielleicht immer haben. Das Wissen darum, wie klein ich bin angesichts der Gewaltigkeit der Natur.

Auf der Alp haben wir sie noch, unsere Heiligen. Wenn es blitzte und donnerte, sagte meine Grossmutter früher: «Keine Angst, der Schutzengel wacht über uns.» Der Schutzengel ist ein Felstürmchen, das aus der Flanke des Schwarzhorns in die Luft ragt. Und wenn der Wind durchs Dach heult und meine Tochter sich fürchtet, sagt meine Mutter: «Das ist nur der Alpgeist, der nach dem Rechten schaut.»

Auf ihn und den Schutzengel vertrauen wir auch, wenn wir im Spätherbst die Fensterläden schliessen und das Wasser abstellen, so dass die Leitung zum Brunnen nicht einfriert. Dann sitzen wir unten in Basel in der geheizten Stube und plangen darauf, dass der Schnee schmilzt, der den Weg zur Alp begraben hat.

Auf die Alp: Die beschriebene Alp ist nicht zu haben. Alphütten mieten kann man zum Beispiel hier oder hier.

Aufs Schwarzhorn im Dischmatal: Am besten vom Berggasthaus Dürrboden aus starten und auf dem Flüelapass enden.  Im «Dürrboden» kann man auch essen und übernachten, bis Mitte Oktober fährt ein Bus bis zum Gasthaus (aber wer braucht den schon). Im Restaurant Teufi im Dischmatal schwört meine Tochter auf den Coupe Schmetterling.

Am Abend: Über den Alpentourismus lesen. Thomas Barfuss: «Authentische Kulissen. Graubünden und die Inszenierung der Alpen.» Hier und Jetzt Verlag, 2018.

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