Auf der Flucht vor einem der gefährlichsten Drogenkartelle der Welt

In der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura herrscht Drogenkrieg. Innert drei Wochen mussten fast 6000 Menschen ihr Zuhause aufgeben. Bei Psychologiestudent Manuel Contreras stand plötzlich ein bewaffneter Nachbar im Wohnzimmer. Seitdem ist er auf der Flucht.

Ueberwiegend Nachts werden die in den Slums gelagerten Drogen in kleinen Fischerbooten aufs offene Meer gebracht. Die Drogenkartelle verordnen deshalb Ausgangssperren ab 22.00 Uhr, um bei ihren Taetigkeiten keine Zeugen zu haben (Bild: Oliver Schmieg)

In der kolumbianischen Hafenstadt Buenaventura herrscht Drogenkrieg. Innert drei Wochen mussten fast 6000 Menschen ihr Zuhause aufgeben. Bei Psychologiestudent Manuel Contreras stand plötzlich ein bewaffneter Nachbar im Wohnzimmer. Seitdem ist er auf der Flucht.

Seinen echten Namen darf niemand erfahren, selbst in der Schweiz nicht, rund 9000 Kilometer von Buenaventura entfernt. Ein Foto von sich möchte er ebenfalls nicht veröffentlicht sehen. Nennen wir ihn also Manuel Contreras. Einem Gespräch stimmt er nur unter der Bedingung zu, dass seine Anonymität gewahrt bleibt. Manuel wird von einem der gefährlichsten Drogenkartelle der Welt gesucht: Los Urabeños.

Am ersten Samstag im November begann sein Albtraum. Zusammen mit seiner Schwester, seiner Nichte, einer Cousine und ein paar Freunden befand sich der 26-jährige Psychologie-Student zu Hause in seinem Wohnzimmer. Ursprünglich hatten Manuel und seine Familie einen netten Fernsehnachmittag geplant. Es kam alles anders.

20 Minuten, die das ganze Leben veränderten

Ein bewaffneter Nachbar stand plötzlich in seinem Wohnzimmer. In Manuels Strasse war der Jugendliche kein Unbekannter: Er soll ein Mitglied des Drogenkartells Los Urabeños sein. Schon seit längerer Zeit suchte ihn die Polizei. Manuel begriff schnell. Vor seiner Haustür liefen aufgeregt mehrere Dutzend Beamte hin und her, während der Nachbar nur auf seinen Revolver deutete. Er würde von der Waffe Gebrauch machen, sollte Manuel ihm keinen Unterschlupf gewähren.

Obwohl der Vorfall nur 20 Minuten dauerte und niemand zu Schaden kam, hat das Geschehen Manuels Leben von Grund auf verändert. An den darauffolgenden Tagen bekam er mehrfach Besuch von Unbekannten, die ihm wortreich zu Verstehen gaben, was ihm oder seiner Familie passieren wuerde, sollte man ihn im Gespräch mit einem Polizisten sehen.

Eine angekündigte Tragödie

Gustavo Robayo, Mitarbeiter des Frühwarnsystems der kolumbianischen staatlichen Menschenrechtsorganisation Defensoria del Pueblo (Sistema de Alertas Tempranas de la Defensoría del Pueblo), kennt die Situation: «Seit Mitte 2012 kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den neoparamilitärischen Drogenkartellen La Empresa und Los Urabeños», berichtet der Menschenrechtler, der seit Jahren Konflikte an der Pazifikküste Kolumbiens analysiert, unter denen die Zivilbevölkerung leidet.

Die Drogengang La Empresa – finanziert vom Kartell Los Rastrojos – hatte sich zu Beginn des Jahres aus der grössten kolumbianischen Hafenstadt zurückziehen müssen. Zehn ihrer wichtigsten Mitglieder waren am 11. Januar in einem kleinen Dorf etwas ausserhalb von Buenaventura von Urabeños-Mitgliedern umgebracht worden.

Containerladungen voll Drogendollars

Nach dem Massaker vom 11. Januar konnte das Kartell Los Urabeños ungefährdet die Kontrolle über Buenaventura übernehmen. Ihre Drogenhändler hatten somit ungehinderten Zugang zu den Slums rund um den Hafen, in denen für gewöhnlich Kokain, Marihuana und Heroin zwischengelagert werden, bis sie in nächtlichen Operationen mit kleinen Fischerbooten weit aufs offene Meer gebracht werden. Umgeladen in Schnellbote werden die Lieferungen für gewöhnlich über Panama oder El Salvador nach Mexiko oder direkt in die USA versendet.

Der Hafen Buenaventuras – und die Kontrolle über ihn – hat aber, von Drogenlieferungen abgesehen, noch eine weitere wichtige Bedeutung für international operierende Kartelle: Ankommende Frachtcontainer beinhalten häufig Bargeld im Wert von zig Millionen Dollar – Bezahlung für erfolgreich abgeschlossene Lieferungen ins Ausland. 60 oder 70 Millionen Dollar in bar, verpackt in Plastik und versteckt zwischen angeblichen Warenlieferungen, findet die kolumbianische Drogenpolizei mit relativer Regelmässigkeit in den tonnenschweren Containern, die über den Pazifik in Kolumbien ankommen.

Die Mitglieder des Los Rastrojos-Kartells konnten ihren Rückzug aus Buenaventura nicht hinnehmen, aus logistischer Sicht ist eine der wichtigsten Städte für kolumbianische Drogenhändler. Seit Anfang November versuchen sie die verlorengegangene Kontrolle zurückzugewinnen – mit fürchterlichen Konsequenzen für die Zivilbevölkerung.

Sie wissen alles über Manuels Familie

Lorena Nieto vom UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) berichtet: «Am 4. November kam es zu einer ersten Schiesserei in Playita, einem Stadtteil Buenaventuras. Während der darauffolgenden Tage haben sich diese Strassengefechte in anderen Stadtvierteln wiederholt.»

6000 innerstädtische Binnenflüchtlinge haben die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Drogenkartellen in den vergangenen drei Wochen zurückgelassen. «Und diese Zahl wird sicherlich noch ansteigen», prognostiziert die UN-Funktionärin. «Vor den andauernden Strassengefechten ist es bis heute vielen Menschen noch gar nicht gelungen, sich aus ihren Stadtvierteln in Sicherheit zu flüchten. Unter Drohungen ziehen sie es vor, in ihren Häusern auszuharren», sagt Nieto.

Manuel Contreras hat es zwar geschafft, sich und seine Familie bei Freunden in Sicherheit zu bringen, allerdings weiss er nicht, wie es weitergehen soll. «Die Todesdrohungen habe ich ja von meinen Nachbarn bekommen, von den Leuten die gegenüber oder nur zwei Häuser weiter gelebt haben. Die wissen alles über meine Familie und mich: an welcher Uni ich studiere, wo mein Schwester arbeitet, welchen Kindergarten meine Nichte besucht», erzählt er. «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich oder meine Familie gefunden haben».

Fünf Millionen Menschen sind auf der Flucht

Um Buenaventura den Rücken zu kehren, fehlt ihm das Geld. Davon abgesehen hat er ehrenamtlich für eine NGO in seinem Stadtviertel gearbeitet, eine Tätigkeit, die er auf keinen Fall aufgeben möchte. Er betreute Kinder deren Familien als Binnenflüchtlinge des 50 Jahre andauernden Bürgerkrieges Schutz in seiner Heimatstadt gesucht haben.

Nun ist Manuel Contreras selbst zum Flüchtling geworden. In Kolumbien kommt die soziale Zuordnung «Desplazado Interno» einer gesellschaftlichen Verurteilung gleich. Die wohlsituierte Gesellschaftsschicht hat nur wenig Verständnis für die rund fünf Millionen Menschen, die gemäss «Internal Deplacement Monitoring Centre» innerhalb des Landes auf der Flucht vor den Gräueln des Bürgerkrieges sind. Finanziert von der Regierung laufen im Fernsehen Werbespots um darüber aufzuklären, dass jeder Kolumbianer Opfer des internen Konflikts werden und sein gesamtes Hab und Gut verlieren kann.

Manuel, der 26-jährige Psychologiestudent, glaubt, noch eine Schonfrist bis Ende Januar zu haben. Dann fängt sein nächstes Semester an, der Stichtag an dem sie ihn finden werden. «Ich hoffe, dass Polizei und Militär bis dahin die Situation unter Kontrolle gebracht haben und wir in unser Haus zurückkehren können. Oder ich müsste mein Studium aufgeben», sagt er leise.

Ein letzter Hoffnungsschimmer bleibt ihm noch. Wegen Korruptionsvorwürfen hat die kolumbianische Polizei ihre Strategie in Buenaventura in den vergangenen Wochen geändert: Künftige Festnahmen werden nicht mehr von den Beamten der Hafenstadt legalisiert, registriert und zur Anzeige gebracht. Nach Festnahmen werden neuerdings Verdächtige an Kollegen umliegender Städte übergeben, denen keine Verbindung zu den Drogenkartellen nachgesagt wird. Mutmassliche Verbrecher wurden in Buenaventura bislang meist nach ein oder zwei Tagen wieder in Freiheit gesehen. Das soll sich nun ändern.

Lesen Sie Oliver Schmiegs Reportage über den Mord am kolumbianischen Gewerkschafter Oscar Lopez Triviño in der Wochenausgabe vom 6. Dezember, auf Papier oder in der App der TagesWoche.

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